Die falschen Freunde Rußlands

Zu Glanzzeiten des Kalten Krieges, als der amerikanische Imperialismus den reaktionären Kern seines Kampfes gegen die UdSSR aus politischen Erwägungen heraus vertuschte, legten seine Vertreter für gewöhnlich eine geradezu rührende Sorge um Leben und Schicksal der sowjetischen Bevölkerung an den Tag. Die Opposition gegen die Sowjetunion hüllte sich vorwiegend in das Gewand von Kämpfern gegen den Totalitarismus, der demokratische Rechte mit Füßen trat. Auf dieser Grundlage erschienen ungezählte Tendenzschriften amerikanischer Akademiker. Sie manipulierten und fälschten die historischen Tatsachen, um zu beweisen, daß der Stalinismus das unvermeidliche Ergebnis der Oktoberrevolution von 1917 sei und daß sich der Sozialismus nicht mit demokratischen Rechten vereinbaren lasse.

Zu den reaktionärsten und skrupellosesten Vertretern der "totalitären" Schule der amerikanischen Sowjetologen gehörte Professor Richard Pipes von der Harvard University. Seine Laufbahn widerspiegelt in vollendeter Form die unerquickliche Liaison zwischen der US-Außenpolitik und akademischen Weihen. Pipes wechselte mühelos von seiner Professur in Cambridge, Massachussetts auf Posten in Washington und wieder zurück. Als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates unter Reagan gehörte er zu jenen, die sich hitzig für eine drastische Steigerung der Militärausgaben einsetzten und insgesamt jene "Hardliner"-Positionen vertraten, die weithin, wie er selbst hämisch vermerkte, als gefährlich und provokativ galten. Als Mitglied einer Harvard-Fakultät verfaßte Pipes ausgesprochen dicke Bücher, in denen er die Brutalität der Bolschewiki im allgemeinen und die Bosheit Lenins im besonderen beschwor.

Dies ist nicht der Ort, um Pipes' Erklärung der bolschewistischen Revolution im einzelnen zu behandeln. Um uns kurz zu fassen, werden wir nur sein zentrales Argument nennen: Angezettelt und geführt worden sei die Oktoberrevolution von skrupellosen Intellektuellen, denen das Schicksal der Massen, deren Vertretung sie beanspruchten, vollkommen gleichgültig gewesen sei - "die Massen brauchten und wünschten keine Revolution". Ja, Pipes zufolge bestand einer der Hauptunterschiede zwischen den bolschewistischen Führern und dem letzten russischen Zaren darin, daß "Nikolaus Rußland am Herzen lag". Alle Erklärungsversuche, in denen die Revolution als Ergebnis eines historischen Prozesses mit tiefen Wurzeln aufgefaßt wurde, lehnte Pipes von vornherein ab. Der Ausbruch der Revolution von 1917, darauf bestand Pipes, hatte wenig mit gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Faktoren zu tun. Es gab im Volk auch keine wirkliche Opposition gegen den Zaren. "Die Quellen", schrieb Pipes, "lassen keinen Zweifel daran zu, daß der Mythos, die aufständischen Arbeiter und Bauern hätten den Zarenthron gestürzt, eben dies ist - ein Mythos."

Was also war die Oktoberrevolution? Nicht mehr und nicht weniger, laut Pipes, als ein wirres utopisches Projekt, ausgebrütet von ideologisch verblendeten Intellektuellen, die weder die menschliche Natur noch die wirklichen Alltagswünsche des Volkes begriffen hatten.

Für Pipes war der Zusammenbruch der Sowjetunion in erster Linie die Rückkehr zu dem, was er für die natürliche Ordnung der Geschichte hält. Befriedigt erklärte er, "die Ereignisse seit 1917 haben die Russen von dem Glauben an ihre Einmaligkeit und historische Mission geheilt. Heute besteht der größte Wunsch der Russen darin, 'normal' zu werden. Zum ersten Mal sind sie bereit, von Ausländern zu lernen und zu folgen, anstatt zu führen."

Pipes zieht seine Befriedigung zum Teil daraus, daß er selbst dank des allgemeinen Zynismus und geistigen Verfalls, der nach dem Zusammenbruch der UdSSR unter demoralisierten russischen Akademikern vorherrschte, zu einem der prominentesten ausländischen Ratgeber wurde. Endlich erhielt Pipes die Gelegenheit, seine Theorie in die Praxis umzusetzen und den Russen den rechten Weg zu einer "normalen", man darf annehmen humanen Gesellschaft zu weisen.

Und der Gelehrte aus Cambridge geizte nicht mit guten Ratschlägen. Die Zukunft Rußlands sei nur dann gewährleistet, wenn alle Hindernisse für eine kapitalistische Vollblut-Marktwirtschaft beseitigt würden. 1993 antwortete Pipes auf Warnungen, daß die vorzeitige Entfesselung der Marktkräfte das gesellschaftliche Gefüge Rußlands zu zerreißen drohe:

"Der Zusammenbruch der Regierung und die Desorganisation der Volkswirtschaft, die in anderen Ländern eine Katastrophe wären, spielen in Rußland eine positive Rolle. In einem Land, das die Privatinitiative auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet traditionell unterdrückt hat, bringen diese Zerfallsprozesse den Selbsterhaltungstrieb ins Spiel. Sie lassen der Bevölkerung keine andere Wahl, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, was sie tun muß, wenn sie sich Demokratie und freies Unternehmertum zu eigen machen soll."

Fünf Jahre später lassen die furchtbaren Folgen der Marktwirtschaft erkennen, wie dumm und verantwortungslos diese Worte waren. Doch man darf von Professor Pipes keine Entschuldigung erwarten. In einem Artikel, der vergangenen Sonntag in der New York Times erschien, gibt Pipes zu, daß sich in Rußland eine soziale, wirtschaftliche und politische Katastrophe abspielt. Doch da ihn keine Realpolitik des Kalten Krieges mehr nötigt, Mitgefühl für das Schicksal des russischen Volkes zu heucheln, lautet Pipes' Botschaft direkt und unverforen: "Laßt Rußland die Sache allein ausfechten".

Pipes nennt drei mögliche Ergebnisse der Krise in Rußland. Die erste, die er als "unmöglich" bezeichnet, ist eine "Rückkehr zum Kommunismus". Die zweite, die er für eine "mögliche, aber unwahrscheinliche Alternative" hält, "wäre der Zerfall Rußlands in eine Reihe kleinerer, überschaubarer Staaten."

Für das wahrscheinlichste Ergebnis hält Pipes jedoch "nach wie vor die Option der Verwandlung Rußlands in einen lateinamerikanischen, quasi-demokratischen, quasi-kapitalistischen Staat, dessen Wirtschaft stark vom Export von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften abhängt." Dieses Szenario, so Pipes, sei verlockend, weil es zumindest "die Illusion befördern wird, daß Rußland seinen eigenen Weg gehe."

Die praktische Bedeutung der dritten Option, wie Pipes sie sieht, wäre die Herabsetzung Rußlands auf den Status "eines Dritte-Welt-Landes".

Ohne es zu merken, bestätigt Pipes damit eine der wesentlichen Begründungen der Bolschewiki für ihre Machteroberung im Oktober 1917. Die russischen Massen, so hatten sie betont, standen im Jahr 1917 nicht vor der Wahl zwischen einem Arbeiterstaat und einer blühenden bürgerlichen Demokratie. Die Alternative zur Machteroberung der Bolschewiki, so hatten Lenin und Trotzki gewarnt, wäre eine Konterrevolution gewesen, die schließlich zum Auseinanderbrechen Rußlands geführt und das Land auf den Status einer Halbkolonie gedrückt hätte.

Abschließend drängt Pipes die Vereinigten Staaten und den Internationalen Währungsfonds, von jedem künftigen Kredit an Rußland abzusehen, bevor dieses weitere Beweise für seine Entschlossenheit liefere, die "Reformen" fortzusetzen, d.h. weitere massive Einschnitte in den Lebensstandard der Bevölkerung zu erzwingen. "Scheinbar", schreibt Pipes, "besteht die beste Politik gegenüber Rußland unter den gegenwärtigen Bedingungen darin, daß man die Finger davon läßt."

Diesen kaltblütigen Rat äußert Pipes, ohne auch nur ansatzweise erkennen zu lassen, daß er die Ergebnisse der Politik, zu deren ideologischer Rechtfertigung er so viel beitrug, mit wenigstens leisem Schrecken zur Kenntnis nähme.

Was ihn angeht, so haben nicht Professor Pipes und der Kapitalismus das russische Volk verkannt. Nein, das russische Volk hat Professor Pipes und den Kapitalismus verkannt.

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