Wahlen in Algerien: Die FLN gibt dem Militärregime politische Deckung

Als die Algerier am 15. April zu den Wahlurnen gingen, um ihren ersten zivilen Präsidenten nach siebenjähriger Militärherrschaft zu wählen, verkündigte Präsident Lamine Zeroual unerwartet, daß sechs der sieben Präsidentschaftskandidaten von ihrer Kandidatur zurückgetreten waren. Die sechs Kandidaten protestierten gegen Wahlmanipulation in mobilen Wahlbüros und Militärbaracken, wo die Wahlen am Montag, dem 12. April begonnen hatten.

Der Rücktritt der sechs versetzte den Bemühungen, die Fassade demokratischer Wahlen zu wahren, den Todesstoß. Schon vorher hatten nur wenige ernsthaft geglaubt, daß die Wahlen ein Ende der Militärregierung, des blutigen Bürgerkriegs oder des steilen Niedergangs der algerischen Wirtschaft sowie der sozialen Bedingungen im Land bedeuten würden.

Präsident Zeroual, ein General im Ruhestand, war 18 Monate vor Ende der Legislaturperiode aufgrund von politischen Auseinandersetzungen mit den Militärs von seinem Amt zurückgetreten. Der einzige Zweck der Wahlen ist es, Abdelaziz Bouteflika, dem nach den Rücktritten einzig verbliebenen und offensichtlich von der Armee nominierten Kandidaten, den Anschein der Legitimität zu verleihen.

Die Wahlen finden vor dem Hintergrund erbärmlicher sozialer Verhältnisse statt. "Wirtschaftliche Reformen" haben zum Abbau von 400.000 Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor geführt. Nach offiziellen Statistiken sind 30 Prozent der Arbeitskräfte ohne Beschäftigung, aber die tatsächliche Arbeitslosenquote liegt fast bei 50 Prozent. Die schwindelerregende Menge von 70 Prozent der jungen Leute hat keine Arbeit. Es gibt einen drastischen Wohnungsmangel - bei einer Bevölkerungszahl von weniger als 30 Millionen fehlen zwei Millionen Wohnungen. In den Städten leben Hunderttausende in von Ratten verseuchten Baracken ohne Zugang zu sauberem Wasser.

Der Kollaps der Ölpreise - Öl und Gas machen 96 Prozent der algerischen Exporte aus - hat die Regierung gezwungen, Sozialprogramme und Ausgaben für Bildung und Erziehung zu streichen. Etwa vier von den zehn Milliarden Dollar, die die Ölexporte einbringen, fließen in den Bürgerkrieg. Es gibt eine wachsende Empörung über den Militärdienst: die Fronttruppen der Armee bestehen zu 80 Prozent aus Wehrpflichtigen. Die Armee beherrscht die staatlichen Institutionen, und die höheren Ränge sind die wirklichen "Entscheidungsträger" des Landes. Sie führen einen Bürgerkrieg gegen das, was sie islamischen "Terror" nennen. Schätzungen über den Schaden, den die Infrastruktur des Landes davongetragen hat, bewegen sich zwischen drei und sechzehn Milliarden Dollar.

Die letzten sieben Jahre des Konflikts haben mehr als 100.000 Tote und Verwundete hinterlassen, Tausende zu Waisen und Flüchtlingen gemacht und die zivile Bevölkerung zu einem Leben in ständiger Angst und Unsicherheit gezwungen. In ungewöhnlich starken Worten charakterisiert der Bericht des Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen die Situation als eine "ausgedehnte Krise der Menschenrechte". Sicherheitskräfte, so der Bericht, seien an Folterungen beteiligt, forcierten das Verschwinden von Menschen, willkürliches Töten und außergerichtliche Erschießungen, die man als systematisch bezeichnen müsse. Männer und Frauen, Junge und Alte wurden auf brutale Weise von militärischen Gruppen abgeschlachtet. Aufständische Gruppen organisierten eine Kampagne zur Terrorisierung und Einschüchterung, wobei insbesondere Frauen und Mädchen von den bewaffneten Banden entführt, sexuell mißbraucht und manchmal verstümmelt wurden. Der Bericht machte auch auf eine Zahl von Massakern aufmerksam, bei denen die Autoritäten es unterlassen hatten, einzugreifen, um die Bevölkerung zu schützen oder die Täter zu fassen. Er hält die Darstellungen und Aussagen über die Verstrickung oder das geheime Einverständnis der Sicherheitskräfte in diese Greueltaten für weitverbreitet und beharrlich genug, um eine unabhängige Untersuchung zu rechtfertigen.

Das Komitee berichtete über weitere Verstöße gegen die Menschenrechte, darunter das Fehlen einer unabhängigen richterlichen Gewalt, die Zensur der Medien und Einschränkungen des Rechts eine politische Partei zu bilden. Es äußerte seine Besorgnis über Aufforderungen der Regierung, "legitime Verteidigungsgruppen" genannte lokale Milizeinheiten zu bilden, die außerhalb jeder Kontrolle operieren. Das Komitee empfahl das Familiengesetz zu verbessern, um "wichtige Bereiche der Ungleichheit" von Frauen zu beseitigen, und die Strafgesetzgebung zu revidieren, die die Anzahl der Verbrechen, die durch Todesstrafe geahndet werden, erhöht hatte. Das Dekret über die arabische Sprache, das Arabisch zur obligatorischen und einzigen Sprache machte, wurde kritisiert als Beschränkung der Rechte der großen Anzahl Berber und der französischsprachigen Bevölkerung bezüglich der freien Meinungsäußerung, des Austausch und Empfangs von Informationen und der Teilnahme am öffentlichen Leben.

Wie konnte es soweit kommen, wo doch die politische Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1962 dem potentiell aufstrebendes Land so viel versprochen hatte?

Der erbitterte achtjährige Unabhängigkeitskrieg kostete mehr als einer Million Menschen das Leben und hinterließ noch weitaus mehr Vertriebene. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit 1962 verließen mehr als eine Million europäischer Kolonisten Algerien und stürzten dadurch die Wirtschaft in ein Chaos. Die Front de Libération Nationale(FLN- Nationale Befreiungsfront) übernahm mit "linken" Parolen die Macht und etablierte die Herrschaft einer einzigen Partei unter Ben Bella. 1965, nach anhaltenden ökonomischen Umwälzungen und Fraktionskämpfen innerhalb der FLN, organisierte einer der Regierungsminister, Oberst Boumedienne, eine Palastrevolte und setzte Ben Bella ab, der dann inhaftiert wurde.

Unter der Präsidentschaft Boumediennes wurde die rasche Industrialisierung Algeriens mit verstaatlichten Unternehmen durchgeführt und aus dem Erlös von Öl- und Gasverkäufen finanziert. In den Machtkämpfen, die auf Boumediennes unerwarteten Tod im Jahre 1978 folgten, konnte sich Oberst Chadli Bendjedid durchsetzen und wurde Präsident. Er beugte sich dem Diktat der internationalen Finanzmärkte und öffnete die Wirtschaft für private Unternehmen. Ökonomische Liberalisierung und die Zerstückelung der Staatsbetriebe gewannen nach dem Verfall der Ölpreise in den Jahren 1985/86 an Tempo. Die Nachteile wurden schnell sichtbar: es entstand eine immer größer werdenden Kluft zwischen den wenigen Superreichen und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die aufgrund steigender Preise und Sparmaßnahmen im Bereich der Sozialleistungen und des öffentlichen Arbeitsmarkts verarmte.

Das Land wurde im Jahre 1988 von einer Streikwelle und Aufständen erschüttert, die von der Union Générale des Travailleurs Algeriens(Allgemeine Bund der Algerischen Arbeiter), dem nationalen Gewerkschaftsbund, der an die FLN angeschlossen ist, organisiert wurden. Die Streiks wurden von der Militärregierung der FLN brutal unterdrückt. Nach offiziellen Angaben wurden allein zwischen dem 6. und dem 11. Oktober 159 Menschen getötet. Folgt man den Angaben gründlich dokumentierter inoffizieller Quellen, kommt man auf wesentlich mehr Tote. 26 Jahre nach der Unabhängigkeit wandte sich die nun zu Geld und Macht gelangte FLN gegen ihre eigene Arbeiterklasse. Dies markierte das Ende einer Ära.

In dem folgenden, anhaltenden Aufruhr verließen Arbeiter die FLN und schlossen sich verschiedenen oppositionellen Gruppen an, insbesondere der Front Islamique du Salut(FIS - Islamische Heilsfront). Als es nach dem Sieg der FIS in Kommunal- und Regionalwahlen den Anschein hatte, als ob sie auch die Parlamentswahlen 1991/92 gewinnen könnte, schritt die Armee ein und setzte Bendjedid ab, annullierte die Wahlen und entzündete den blutigen Bürgerkrieg in Algerien. Die FIS wurde verboten und ihre Führerschaft inhaftiert oder ins Exil getrieben. Im Juni 1992 wurde Präsident Muhammad Boudiaf ermordet, nachdem er versucht hatte, einen von den Generälen unabhängigen Kurs einzuschlagen.

Seitdem wurde Algerien von einer Reihe nicht-gewählter, durch das Militär gestützter Regime regiert. Sie alle haben untertänigst die "Strukturanpassungsprogramme" des Internationalen Währungsfonds durchgeführt und dadurch den Süden des Landes für westliche Ölgesellschaften geöffnet, die staatliche Industrie demontiert, Sozialprogramme vernichtet und einen skrupellosen Bürgerkrieg gegen ihre islamistischen Gegner weitergeführt.

Keiner der ehemaligen Kandidaten in den diesjährigen Wahlen stellte eine wirkliche Alternative für die algerische Bevölkerung dar. Von den sieben Kandidaten waren vier diskreditierte Ex-Regierungsminister, die rivalisierende Fraktionen der FLN anführen. Die restlichen haben enge Verbindungen zum Militär. Die islamistische Opposition ist in rivalisierende Fraktionen zerfallen. Da alle Kandidaten die "Marktreformen" unterstützen, waren sie bemerkenswert zurückhaltend, was detaillierte Erklärungen zu ihrer Wirtschaftspolitik betraf - eine öffentliche Debatte darüber wurde abgesagt.

Abdelaziz Bouteflika, der allgemein als erster Mann des Militärs angesehen wird, hat die Unterstützung eines Klüngels aus Soldaten, Geschäftsleuten und der nationalen Gewerkschaft UGTA. Er war in den 60er und 70er Jahren Außenminister und ging ins Schweizer Exil, als er der Unterschlagung beschuldigt wurde. Er hat sich im Verlauf dessen, was man schwerlich als Wahlkampagne bezeichnen kann, kaum zu Wort gemeldet, vor allem seit aufständische Jugendliche in Kabylia, im Herzen der Berberregion, ihn daran hindert hatten eine Wahlrede zu halten. Er wurde mit Steinen beworfen und beschuldigt, in den Mord an zwei politischen Gegnern in den 70er Jahren verstrickt gewesen zu sein.

Mouloud Hamrouche, Premierminister von 1989 bis 1991, verwirklichte die Forderungen des IWF für "Marktreformen" und "wirtschaftlicher Liberalisierung", die zu der gegenwärtigen Wirtschaftskatastrophe geführt haben.

Ahmed Taleb Ibrahimi, ein früherer Regierungsminister in den 60er und 70er Jahren, hat die Unterstützung der illegalisierten FIS, wie auch Houcine Ait Ahmed, der Führer der Front Sozialistischer Kräfte. Beide forderten die Freilassung von islamistischen Gefangenen und die Legalisierung der FIS.

Die einfache Bevölkerung zeigte nur wenig Interesse an den Wahlen. Die Kandidaten hatten den hauptsächlich jungen Wählern - zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt - nichts zu bieten. Die FIS bleibt verboten trotz der Tatsache, daß ihr bewaffneter Arm vor mehr als einem Jahr einen Waffenstillstand erklärt hat, um dadurch zu einer Einigung mit dem Militärregime zu gelangen.

Lange vor Zerouals Bekanntgabe hatten Kritiker bereits die korrekte Durchführung der Wahlen in Frage gestellt. Vier weitere Kandidaten waren von vornherein nicht zu den Wahlen zugelassen worden. Darunter befanden sich drei Oppositionsführer - Mahfouth Nahnah, Louisa Hanoune und Noureddine Boukrouh. Nahnah wurde ausgeschlossen, weil er nicht am algerischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatte, während die anderen, darunter auch der ehemalige Premierminister Sid Ahmed Ghozali, ausgeschlossen wurden, weil sie nicht die nötigen 75.000 Unterstützungsunterschriften aus wenigsten 25 der 48 algerischen Verwaltungsregionen zusammengetragen hatten.

Trotz der Vergangenheit Algeriens brachte der britische Außenminister Derek Fatchett bereits "Zufriedenheit und Optimismus" bezüglich der Aussichten der algerischen Demokratie zum Ausdruck. In einem Interview, das in der Tageszeitung Al Awsat veröffentlicht wurde, sagte Fatchett, daß Großbritannien "ausländische Wahlbeobachter nicht für erforderlich hält, wenn Algerien diese nicht selbst anfordert."

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