Hintergründe des Kriegs auf dem Balkan

Eine Antwort auf einen Unterstützer der Bombenangriffe von USA und NATO auf Serbien

Mit diesem Brief antwortet David North, der Chefredakteur des World Socialist Web Site, auf einen Brief von P. Harris, der die Bombardierung Serbiens unterstützt. Sein Schreiben ist über ein Link am Ende des folgenden Textes abrufbar.

Sehr geehrter Mr. Harris,

bevor ich im einzelnen auf die Punkte eingehe, die Sie gegen unsere Opposition zu dem US-geführten Krieg gegen Serbien ins Feld führen, halte ich einleitend einige Anmerkungen zum gegenwärtigen politischen Klima und zu relevanten historischen Erfahrungen für angebracht, um die Argumente eines Menschen zu beantworten, der wie Sie einst gegen den Vietnamkrieg protestierte und heute für den Krieg eintritt.

Die bedenkenlose, ja begeisterte Unterstützung für die Bombardierung Serbiens durch USA und NATO seitens einstiger Gegner der amerikanischen Intervention in Vietnam ist in politischer Hinsicht eine der bedeutsamsten Begleiterscheinungen des gegenwärtigen Krieges. Praktisch sämtliche führenden Politiker in Europa und den Vereinigten Staaten, die die Verantwortung für den Krieg gegen Serbien tragen, hatten früher an Demonstrationen und anderen Protestaktionen gegen den Imperialismus teilgenommen. Clinton fällt in dieser Gruppe höchstens dadurch auf, daß er nur so lange Gegner des Militarismus blieb, wie ihm persönlich die Einziehung in die Armee drohte. Andere, wie in Deutschland Kanzler Schröder, Außenminister Fischer, Verteidigungsminister Scharping oder sogar NATO-Generalsekretär Solana hingegen warfen noch bis in die achtziger Jahre hinein mit marxistischen und sogar "anti-imperialistischen" Phrasen um sich.

Die Entwicklung dieser Herren ist eindeutig Ausdruck eines umfassenderen politischen Prozesses. E.J. Dionne von der Washington Post bezeichnet die Reaktion der Anti-Kriegs-Demonstranten der sechziger Jahre auf die Bombardierung Serbiens als unwiderrufliches Ende des "Vietnam-Syndroms". Nun, da Präsident Clinton "sich den Gedanken zu eigen gemacht hat, daß die amerikanische Macht zugunsten von Demokratie, Menschenrechten und legitimen nationalen Interessen" eingesetzt werden könne, seien die Voraussetzungen für die restlose Versöhnung der einstigen Gegner des Vietnamkrieges mit dem amerikanischen Militär entstanden. "In diesem Falle haben die meisten Tauben der Vietnam-Ära ihren Wankelmut überwunden und befürworten nun den Einsatz von Gewalt."

Zu den Siegern über den eigenen "Wankelmut" gehört auch Walter Shapiro, der eine Kolumne für USA Today schreibt. Er bezeichnet sich als "einstige Taube", die nun "mit den Falken fliegt". Mit einer Spur Nostalgie ruft er sich seine Teilnahme an Protesten auf dem Campus gegen den Vietnamkrieg vor rund 30 Jahren in Erinnerung und schreibt: "Jetzt finde ich mich in der heiklen Lage wieder, meine Unterstützung für NATO-Luftschläge gegen Slobodan Milosevic zu rechtfertigen." Womit begründet Mr. Shapiro seine abschließende Verwandlung in einen Verteidiger der jüngsten Bombardierungen unter Führung der USA? Mit "den zahllosen Greueltaten" im Kosovo, "vor denen schätzungsweise 100.000 Flüchtlinge diese Woche in Panik das Land verließen..."

Shapiro versichert seinen Lesern, daß seine Unterstützung für den Krieg ausschließlich moralischen Ansprüchen entspringe: "Amerika ist das einzige Land, das über die notwendigen Ressourcen und den Willen verfügt, sich der Barbarei an den Toren der zivilisierten Gesellschaft entschlossen entgegenzustellen."

Diese Worte lassen einen erstaunlichen Mangel an historischem Bewußtsein erkennen! Möglicherweise hat sich Shapiro tatsächlich eingeredet, mit der Bombardierung Serbiens breche eine neue, selbstlose amerikanische Außenpolitik an, doch seine Wortwahl erinnert fatal an die Sprache jener, die vor 100 Jahren die ersten imperialistischen Abenteuer der Vereinigten Staaten vom Zaun brachen: "Gott hat uns", erklärte Senator Beveridge von Indiana im Januar 1900, "zu den Meisterorganisatoren der Welt gemacht, auf daß wir Ordnung schaffen, wo das Chaos regiert. Er verlieh uns den Geist des Fortschritts, auf daß wir den Kräften der Reaktion auf der ganzen Welt den Garaus machen. Er verlieh uns die Befähigung zu regieren, auf daß wir den wilden und unwissenden Völkern eine Regierung angedeihen lassen. Gäbe es keine solche Kraft, dann würde die Welt in Barbarei und dunkle Nacht zurücksinken." (1)

Zu den eigentümlichsten und dauerhaftesten Kennzeichen des amerikanischen Imperialismus gehört seit jeher, daß er sein globales Machtstreben mit Rhetorik über demokratische Selbstlosigkeit bemäntelt. Unter der Präsidentschaft Woodrow Wilsons wurde die Heuchelei zum wesentlichen Modus operandi der Vereinigten Staaten auf Weltebene erhoben. Im Gegensatz zu den alten Großmächten Europas, so die Führer Amerikas, ziehe ihr Land nur in den Krieg, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Es töte nur um zu befreien. Präsident Wilson rechtfertigte den Eintritt der Vereinigten Staaten in den großen Kampf um Märkte, der unter der Bezeichnung Erster Weltkrieg bekannt ist, mit bewegten idealistischen Phrasen:

"Unser Ziel", erklärte er in seiner Kriegsansprache vor dem US-Kongreß im April 1917, "besteht darin, den Prinzipien des Friedens und der Gerechtigkeit, im Gegensatz zu eigensüchtiger und autokratischer Machtanmaßung, in der Welt Geltung zu verschaffen. Das Recht ist uns teurer als der Frieden, und wir werden für die Dinge kämpfen, die uns schon immer am Herzen lagen - für die Demokratie, für das Recht jener, die sich der Autorität beugen, bei ihren eigenen Regierungen Gehör zu finden, für die Rechte und Freiheiten kleiner Nationen, für die universale Herrschaft des Rechts in einem Konzert freier Völker, so daß allen Nationen Frieden und Sicherheit zuteil und endlich die Welt selbst frei werde... Wir müssen eine Welt schaffen, in der die Demokratie sicher ist." (2)

In jüngerer Zeit, in den ersten Anfangsstadien des letzten großen "liberalen" Krieges, wurden ähnliche Rechtfertigungen angeführt, um den Einsatz der amerikanischen Militärmacht in Übersee zu begründen. Im Dezember 1961 stellte Präsident John F. Kennedy den Einsatz der Vereinigten Staaten in Vietnam als Verteidigung von Demokratie und nationaler Unabhängigkeit gegen Tyrannei und Aggression dar. Er schrieb an den Präsidenten Südvietnams, Ngo Dinh Diem (dessen Ermordung die Vereinigten Staaten zwei Jahre später veranlaßten):

"Ich habe Ihren jüngsten Brief erhalten, in dem Sie so treffend schildern, welche gefährliche Lage durch die Versuche Nordvietnams, ihr Land zu übernehmen, nunmehr entstanden ist. Das amerikanische Volk und ich kennen die Situation in Ihrem umkämpften Land sehr gut. Der Angriff auf Ihr Land hat uns zutiefst beunruhigt. Je mehr die gezielte Grausamkeit des kommunistischen Programms mit seinen Mordanschlägen, Entführungen und willkürlichen Gewalttaten deutlich wurde, desto stärker wurde unsere Empörung.

Ihr Brief unterstreicht, was unsere eigenen Informationen bereits hinlänglich beweisen - die Welle von Gewalt und Terror, die jetzt Ihr Volk und Ihre Regierung heimsucht, wird von außen, von den Behörden in Hanoi unterstützt und gesteuert...

Die Vereinigten Staaten... bleiben der Sache des Friedens treu, und unser Hauptziel besteht darin, Ihrem Volk zu helfen, seine Unabhängigkeit zu bewahren." (3)

Verzeihen Sie die Geschichtslektion. Aber es scheint, daß viele, deren politische Ausbildung in den sechziger Jahren begann, mittlerweile die bitteren Lehren, die sie vor dreißig Jahren über den räuberischen und wirklich verbrecherischen Charakter des amerikanischen Imperialismus lernten, allmählich vergessen oder bereits vergessen haben. Ihr Brief hinterläßt den Eindruck, daß auch Sie diesem recht verbreiteten politischen Gedächtnisschwund zum Opfer fallen.

Sie argumentieren mittels einer unpassenden Metapher, daß das World Socialist Web Site in seiner Opposition gegen die Bombardierung Serbiens "das Kind mit dem Bade ausgeschüttet" habe. Doch dessen haben Sie sich schuldig gemacht. In Ihrer Empörung über die Mißhandlung der Kosovaren verschließen Sie bewußt die Augen vor allen wesentlichen Problemen der historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Hintergründe dieses Krieges. Das Resultat ist eine einfältige Gefühlsduselei, die Sie mit Haut und Haaren dem umfangreichen und starken Propagandaapparat der amerikanischen Medien ausliefert.

Die unmittelbar folgenden Sätze enthüllen das Versagen Ihrer kritischen Urteilsfähigkeit:

" Es stimmt natürlich, daß die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich imperialistische Nationen sind. Und es stimmt auch, daß sie in beinahe jeder außenpolitischen Frage, die Sie anführen - von den Kurden zu den Timoresen, vom Irak bis Israel, Grenada und Panama - strotzen vor Heuchelei und Scheinheiligkeit. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie mit Sicherheit das Richtige tun, wenn sie jetzt (endlich!) Milosevics Serbien angreifen, um den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sein Regime und die serbische Nation im Kosovo verüben, einen Riegel vorzuschieben." (Hervorhebung hinzugefügt)

Sie schreiben, als sei der Begriff "imperialistisch" nichts weiter als ein Schimpfwort, eine besonders heftige und geschickte Ächtung des Fehlverhaltens des einen oder anderen Landes. In der Sprache der politischen Ökonomie hat es jedoch eine tiefere Bedeutung. Als wissenschaftlicher Begriff bezeichnet "Imperialismus" ein ganz bestimmtes Stadium in der historischen Entwicklung der Weltwirtschaft, das mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals verbunden ist. Die politischen Tendenzen, die mit dem Imperialismus zusammenhängen, wie Militarismus und Krieg, sind notwendige Begleiterscheinungen objektiver ökonomischer Prozesse, d.h. der Monopolbildung, der Entstehung transnationaler Konzerne, der enormen Macht globalisierter Kapitalmärkte, der wirtschaftlichen Abhängigkeit kleiner und weniger entwickelter Länder von mächtigen internationalen Kreditagenturen, usw. Ob ein Land als imperialistisch definiert wird oder nicht, läßt sich nicht anhand einzelner Fallstudien über sein gutes oder schlechtes Verhalten definieren, sondern nur durch eine Analyse seiner objektiven Rolle und Stellung im Weltwirtschaftssystem. Von diesem maßgeblichen Standpunkt her besteht ein qualitativer Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf der einen Seite und Serbien sowie dem Irak auf der anderen.

Was Ihrer Haltung gegenüber dem Krieg völlig abgeht, ist jegliche Erwägung dieser objektiven ökonomischen und politischen Grundlage der Weltpolitik. Statt dessen findet man eine eklektische Sichtweise, die jede durchdachte, zusammenhängende Analyse von vornherein ausschließt. Die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien sind, wie Sie gern zugeben, imperialistische Mächte. Sie gehen sogar noch weiter und erklären, daß ihre Haltung gegenüber praktisch jedem ausgebeuteten und unterdrückten Volk der Welt von "Heuchelei und Scheinheiligkeit" strotzt. Aber wurzelt die "Heuchelei und Scheinheiligkeit" der imperialistischen Mächte nicht darin, daß sie die demokratischen Prinzipien, denen sie vorgeblich anhängen, bedenkenlos den Erfordernissen und Interessen einer Weltwirtschaft unterordnen, die von ihren Finanz- und Industrie-Eliten beherrscht wird? Und wenn diese Interessen und Erfordernisse bedingen, daß sie die Unterdrückung der Kurden, Palästinenser, Timoresen, Iraker, sowie der Bevölkerung Panamas und Grenadas sanktionieren und sich direkt daran beteiligen, weshalb sollten die imperialistischen Mächte dann auf dem Balkan "mit Sicherheit das Richtige tun"? Wie soll man ein derart ungewöhnliches Abweichen von der Norm erklären? Haben die Imperialisten eine Ausnahme gemacht? Oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß eher Sie - unter dem Druck einer Propagandakampagne, die gekonnt das Schicksal der Kosovaren ausnutzt - von Ihren allgemeinen Grundsätzen abgerückt sind?

Mehrere Absätzen widmen Sie der Vorgeschichte des Kriegsausbruchs. In Ihrer Darstellung, die sich grundlegend nicht von jener der Massenmedien unterscheidet, geht sämtliche Gewalt des letzten Jahrzehnts auf die Politik Milosevics zurück, der sich des "mystischen, fanatischen Nationalismus" der Serben bedient habe. Die Rolle des slowenischen, kroatischen und bosnischen Nationalismus wird nicht erwähnt. Noch schwerer wiegt meines Erachtens Ihre offenbar unkritische Haltung gegenüber dem Auseinanderbrechen des jugoslawischen Bundestaates und der Rolle, die der amerikanische und europäische Imperialismus dabei gespielt haben. Selbst wenn wir zugestehen wollten, daß Milosevic in seiner Infamie alle anderen Nationalisten auf dem Balkan übertreffe - was angesichts der Konkurrenz von Leuten wie Tudjman in Kroatien, Kucan in Slowenien und Izetbegovic in Bosnien recht schwierig ist -, so hätten wir daraus immer noch nicht die notwendige Einsicht in die tieferen Kräfte gewonnen, die beim Zerfall Jugoslawiens am Werk waren.

Lange bevor Milosevic die Bühne betrat, unterhöhlte der ökonomische Druck, den die vom Internationalen Währungsfonds geforderte Austeritätspolitik in den siebziger und achtziger Jahren auf Jugoslawien ausübte, die wirtschaftlichen Grundlagen, auf denen sich der Bundesstaat halten konnte. Die Welle von Firmenbankrotten, das rasche Wachstum der Arbeitslosigkeit, die Inflation, das Sinken der Realeinkommen und der Abbau der sozialen Infrastruktur fachte die alten nationalen und ethnischen Rivalitäten wieder an, die das Tito-Regime niederzuhalten versucht hatte.

Übrigens hatte die vom IWF geforderte Unterordnung der jugoslawischen Wirtschaft unter die Disziplin der Marktprinzipien keinen geringen Anteil am Aufstieg des Slobodan Milosevic. Während Sie ihr Erstaunen bekunden, daß die NATO-Mächte "dummerweise" geglaubt hätten, Milosevic könne ihren Interessen dienen, war diese Einschätzung durchaus nicht unbegründet. Milosevic hatte bei den westlichen Banken und Regierungen eine gewisse Glaubwürdigkeit gewonnen, weil er die Reorganisierung der jugoslawischen Wirtschaft nach kapitalistischen Gesichtspunkten offenkundig begeistert unterstützte. Susan L. Woodward vom Brookings Institute erläutert dazu:

"Milosevic war in der Wirtschaft ein Liberaler (und in der Politik ein Konservativer). In den Jahren 1978-82 war er Direktor einer großen Belgrader Bank, und sogar als Parteichef von Belgrad 1984-86 betätigte er sich als wirtschaftlicher Reformer. Die politischen Vorschläge, welche die ‘Milosevic-Kommission' im Mai 1988 unterbreitete, waren von liberalen Ökonomen verfaßt worden und hätten direkt vom IWF stammen können. Es war damals (und noch bis in die neunziger Jahre hinein) bei Leuten aus dem Westen und bei Banken üblich, das ‘Bekenntnis zu wirtschaftlichen Reformen' zum Hauptkriterium für die Unterstützung führender Politiker in Osteuropa und der Sowjetunion (und in vielen Entwicklungsländern) zu machen und die möglichen Folgen ihrer Vorstellungen von Wirtschaftsreform auf die demokratische Entwicklung zu ignorieren. Der Mann, der im Mai 1988 János Kádár als Regierungschef von Ungarn ablöste, Károly Grosz, wurde wegen eben dieses Profils als wirtschaftlich Liberaler und politisch Konservativer begrüßt. Einheimische nannten dies damals das Pinochet-Modell." (4)

Sie verzichten außerdem auf jegliche Einschätzung der fördernden Rolle, welche die Vereinigten Staaten und Europa bei der Auflösung des jugoslawischen Bundesstaates 1991-92 gespielt haben. Es ist schwer zu sagen, ob in der Vorgeschichte des Bürgerkriegs auf dem Balkan Bosheit oder Dummheit die größere Rolle spielten. Wie dem auch sei, das Verhalten der imperialistischen Mächte schürte die Spannungen zwischen den jugoslawischen Republiken, anstatt sie zu vermindern. Es war leicht abzusehen - und es wurde auch vorhergesehen -, daß jeder Versuch, die inneren Grenzen der jugoslawischen Republiken zu international anerkannten Staatsgrenzen zu machen, katastrophale Ergebnisse zeitigen würde. Es war keine große Überraschung, daß die Grenzen, die innerhalb eines vereinigten Jugoslawiens zwischen den Republiken gezogen worden waren, nach dem Auseinanderbrechen der Föderation keinen Bestand haben konnten. Die ethnischen Minderheiten innerhalb der verschiedenen Republiken - die Serben in der kroatischen Republik, die Kroaten in der serbischen Republik, sowie die Kroaten, Serben und Moslems in Bosnien - hatten den Bundesstaat stets als Garanten ihrer Bürgerrechte angesehen. Innerhalb des Rahmens, der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden war, hatte Tito zwischen den verschiedenen Balkannationalitäten, aus denen die neue "jugoslawische" Nation bestand, Kompromisse organisieren können. Die bosnische Republik war von Tito eigens geschaffen worden, um als Puffer zu dienen, der die traditionellen Gegensätze zwischen Serben und Kroaten dämpfen konnte.

Die Forderung Deutschlands nach einer raschen internationalen Anerkennung der kroatischen Unabhängigkeit 1991 - ohne ausgehandelte, von der Bevölkerung der Republiken eines post-jugoslawischen Staates akzeptierte Grenzziehung - ließ die Katastophe unvermeidbar werden. Das ist nicht einfach eine Behauptung, die ein marxistischer Gegner des Imperialismus im nachhinein aufstellt. In einem Brief an den damaligen deutschen Außenminister Genscher, in dem er die deutsche Regierung um eine Aufschiebung der geplanten Anerkennung Kroatiens als unabhängigen Staat bat, schrieb Lord Carrington:

"Es besteht überdies die reale Gefahr, vielleicht sogar Wahrscheinlichkeit, daß auch Bosnien-Herzegowina Unabhängigkeit und Anerkennung fordert, was für die Serben in dieser Republik, in der sich um die 100.000, teilweise aus Kroatien abgezogene Soldaten der JVA (Jugoslawischen Volksarmee) befinden, völlig unannehmbar wäre. Milosevic hat angedeutet, daß es dort zu Militäraktionen kommen werde, falls Kroatien und Slowenien anerkannt würden. Dies könnte durchaus der Funken sein, der Bosnien-Herzegowina in Brand setzt." (5)

In einem weiteren Brief, den der damalige Generalsekretär der UNO, Javier Perez de Cuellar, an den Präsidenten des EG-Außenministerrates Hans van den Broek schrieb, kamen ähnliche Befürchtungen zum Ausdruck:

"Ich befürchte sehr, daß eine vorzeitige, selektive Anerkennung den gegenwärtigen Konflikt ausweiten und die explosive Lage in Bosnien-Herzegowina und auch Mazedonien anheizen würde, was ernste Konsequenzen für die gesamte Balkanregion nach sich ziehen könnte." (6)

Was die Rolle der Vereinigten Staaten angeht, so kann die Einschätzung des britischen Lords David Owen, der im Zusammenhang mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens eine Schlüsselrolle spielte, schwerlich als schmeichelhaft bezeichnet werden:

"Der Fehler, den die EG mit der Anerkennung Kroatiens beging, hätte überwunden werden können, wenn er nicht durch die ohne Rücksicht auf die Folgen vorgenommene Anerkennung Bosnien-Herzegowinas ergänzt worden wäre. Die USA, die sich im Dezember 1991 der Anerkennung Kroatiens widersetzt hatten, betrieben nun im Frühjahr 1992 sehr nachdrücklich die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas. Es war jedoch damals weder unvermeidbar noch logisch, die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas zu forcieren und zu vollziehen. Die Republik war Bestandteil Jugoslawiens und setzte sich aus drei großen Volksgruppen zusammen, die sehr unterschiedliche Einstellungen zur Unabhängigkeit hatten."

Owen bezeichnet die Entscheidung für eine rasche Anerkennung als "im höchsten Maße tollkühn". (7)

Das Ergebnis all dieser schmutzigen diplomatischen Intrigen - die sich alle vor dem Hintergrund der Zerstörung der alten verstaatlichten Industrien und der Durchsetzung des kapitalistischen Marktes abspielten - war die "erneute Balkanisierung" des Balkans.

Sie bringen es fertig, jeder ernsthaften Einschätzung dieser politischen Vorgeschichte aus dem Weg zu gehen und die Verantwortung der imperialistischen Mächte für die Gewaltausbrüche der letzten zehn Jahre zu übersehen, indem Sie einfach behaupten: "Wir mögen uns noch so sehr über die Heuchelei, Heimtücke und andere Mängel der Vereinigten Staaten oder der übrigen führenden imperialistischen Mächte empören, die Sorge um das unterdrückte albanische Volk des Kosovo wiegt schwerer."

Eine erstaunliche Formulierung! Die Folgen dieser "Heuchelei, Heimtücke" und anderer, von ihnen als "Mängel" bezeichneter Eigenschaften ist eine Katastrophe, die bereits Zehntausende das Leben gekostet hat. Doch all dies sollen wir vergessen oder zumindest beiseite schieben, um uns jetzt gedankenlos hinter die Kriegsmaschinerie jener stellen, die den Balkan in den Abgrund stießen, und ihnen zujubeln, während sie Serbien in Schutt und Asche legen!

In Ihrer Darstellung ist alles Leid des vergangenen Jahrzehnts auf den serbischen Nationalismus zurückzuführen. Sie führen keine einsichtige Erklärung an, weshalb dieser Nationalismus schlimmer sein soll, als jener der übrigen Chauvinisten auf dem Balkan, darunter auch die Fremdenfeindlichkeit der albanischen Befreiungsarmee des Kosovo (UCK). Sie legen sogar nahe, daß die Serben als Volk die Strafe verdienen, die ihnen jetzt von den Bombern der USA und NATO zugefügt wird. "Man kann lange argumentieren", erklären Sie, "daß das Volk Serbiens nicht wisse, was Milosevic tue. Doch man kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß er es in ihrem Namen tut, und daß es von ihren Männern, Söhnen und Brüdern getan wird."

Inwiefern unterscheidet sich diese generelle Verurteilung aller Serben im Prinzip von jenen chauvinistischen Stereotypen, wie sie die verschiedenen Nationalistencliquen auf dem Balkan zur Rechtfertigung ihrer reaktionären Politik verbreiten? Insoweit die Politik der Pogromhetzer - sei es in Kroatien, Serbien oder Bosnien - Unterstützung in der Bevölkerung gefunden hat, widerspiegelt dies die Unfähigkeit der Massen, eine Alternative zu dem sektiererischen Rahmen zu erkennen, in dem die Balkanpolitik gegenwärtig befangen ist. Aber anstatt diese reaktionäre Position zu bekämpfen, liefern Sie ihr noch zusätzliche Munition.

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, welche Politik Sie betreiben würden, wenn Sie auf dem Balken leben würden; denn ebenso wie jene, die Sie verurteilen, basieren Sie Ihre Einschätzung der politischen Lage ausschließlich auf den vorgegebenen nationalen Rahmen. Für Sie handelt es sich darum, einen guten Nationalismus (den albanischen) einem schlechten (dem serbischen) gegenüberzustellen. Am klarsten tritt diese Einstellung in Ihrer begeisterten Unterstützung für die UCK zutage, deren Politik Ihnen zufolge den "einzigen Weg zur Freiheit" für die Bevölkerung des Kosovo darstellt.

Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein: Die Politik der UCK ist kein "Weg zur Freiheit", sondern der Weg in weitere Niederlagen, in Verzweiflung und Not für die Bevölkerung des Kosovo. Aus Platzgründen werde ich die unappetitlichen Einzelheiten der Geschichte der UCK überspringen - ihre politischen und ideologischen Wurzeln in Enver Hoxhas reaktionärer Mixtur aus albanischer Fremdenfeindlichkeit und Stalinismus, ihre engen Verbindungen zum organisierten Verbrechen in ganz Europa und ihr völlig korruptes Bündnis mit der CIA. Selbst ohne dieses stinkende Beiwerk wäre die grundlegende Perspektive der UCK - ein unabhängiges Kosovo - von Grund auf reaktionär und bankrott. Welche "Unabhängigkeit" könnte der Kosovo haben? Er wäre von der ersten Stunde an nichts weiter als ein ohnmächtiges Protektorat des amerikanischen und europäischen Imperialismus. Und welcher ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Fortschritt wäre in diesem verarmten Zwerg- und Binnenstaat schon möglich? Die Rohmaterialien innerhalb seiner Grenzen - wie Kohle, Zink, Mangan, Kupfer und Bauxit - würden rasch in den Besitz großer transnationaler Konglomerate übergehen.

Um sich ein Bild zu machen, was einem "unabhängigem" Kosovo bevorstehen würde, muß man sich nur das Schicksal Bosniens ansehen, das jetzt von einer Art Kolonialbehörde regiert wird. Die wirkliche politische Macht lag bei seiner Gründung in den Händen des Obersten Repräsentanten der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, Carl Bildt, ein fanatischer Monetarist, der einst eine rechte Regierung in Schweden anführte. Die Entscheidungen der nominalen Regierungen der Bosnischen Föderation und der Republika Srpska hängen von der Zustimmung des Obersten Repräsentanten ab. Der bosnischen Zentralbank steht ein vom IWF ernannter Gouverneur vor, und sie hat noch nicht einmal das Recht, ohne internationale Autorisierung Geld zu drucken. Das Ergebnis des Dayton-Abkommens umschreibt Professor Michel Chossudovsky von der Universität Ottawa kurz und bündig mit den Worten:

"Während der Westen seine Unterstützung für die Demokratie kundtut, liegt die tatsächliche politische Macht in den Händen eines parallelen bosnischen ‘Staates', dessen Exekutivposten von Nicht-Staatsbürgern besetzt werden. Westliche Gläubiger haben ihre Interessen in einer Verfassung festgezurrt, die hastig in ihrem Sinne verfaßt wurde. Sie veranlaßte dies ohne verfassungsgebende Versammlung und ohne Befragung der bosnischen Bürgerorganisationen. Ihre Pläne für den Wiederaufbau Bosniens scheinen eher auf die Befriedigung der Gläubiger, als auf die Grundbedürfnisse der Bosnier abgestimmt zu sein." (8)

Was die langfristigen Aussichten auf Frieden und Sicherheit angeht, so würde es in einem regionalen Umfeld, das von anhaltenden Konflikten zwischen politisch unsicheren und wirtschaftlich darniederliegenden Balkanstaaten geprägt ist, nicht lange dauern, bis die Kosovaren von einer neuen Welle der Gewalt überrollt würden.

Wo also liegt der Ausweg aus dem Alptraum, den die Kosovaren und die Serben jetzt durchleben? Als erstes muß man unzweideutig festhalten, daß mit amerikanischen Bomben nichts Positives geschaffen werden kann. Wenn, wie Sie behaupten, das Pentagon und seine Präzisionsgeschosse die Sache der "Zivilisation" vertreten würden, dann wäre der Zustand der Menschheit wahrhaftig hoffnungslos. Wer von wirklicher Sorge um das Schicksal der Kosovaren und Serben bewegt ist, muß sich die Parole zu eigen machen: "USA, Hände weg vom Balkan!"

Doch ist der Wert dieser Losung beschränkt, wenn sie nicht in einer breiter angelegten Perspektive wurzelt - einer Perspektive, die sich auf die historische Erfahrung stützt und sich an jene gesellschaftliche Kraft richtet, die für eine progressive Lösung der Krise auf dem Balkan kämpfen kann: die Arbeiterklasse.

Es ist bekannt, daß der erste imperialistische Weltkrieg aus einer Konfrontation zwischen den großen europäischen Mächten hervorging, die von einer Krise auf dem Balkan ausgelöst worden war. Weitaus weniger bekannt ist, daß die besten Köpfe des europäischen Sozialismus, unter ihnen Leo Trotzki, die Widersprüche auf dem Balkan vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit starkem Interesse und großer Sorge verfolgten. Man ist erstaunt, wenn man heute in beinahe 90 Jahre alten Artikeln Einsichten findet, die nach wie vor außerordentlich aktuell sind. Gestatten Sie mir aus einem Artikel zu zitieren, der im Jahr 1900 erschien: "Die Balkanfrage und die Sozialdemokratie". Natürlich sind bestimmte Ausdrücke veraltet. Die Dynastien, die einst den Balkan beherrschten, sind von Kriegen und Revolutionen hinweg gefegt worden. Dennoch sollte es einem nachdenklichen Leser nicht schwerfallen, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.

"Die Grenzen zwischen den Zwergstaaten der Balkanhalbinsel sind nicht in Übereinstimmung mit den Gegebenheiten der Natur oder den Bedürfnissen der Nationen gezogen worden, sondern als Ergebnis von Kriegen, diplomatischen Intrigen und dynastischen Interessen. Die Großmächte... hatten immer ein unmittelbares Interesse daran, die Balkanvölker und -staaten gegeneinander zu hetzen und sie anschließend, wenn sie sich gegenseitig geschwächt hatten, ihrem eigenen ökonomischen und politischen Einfluß unterzuordnen. Die Zwergdynastien [von Milosevic in Serbien und Tudjman in Kroatien] in diesen ‘abgehackten Landstückchen' der Balkanhalbinsel dienten und dienen auch noch als Hebel für europäische diplomatische Intrigen." (9)

In den Schriften Trotzkis - eines leidenschaftlichen Gegners aller Formen des Nationalismus - findet man eine tiefe Analyse des komplexen Zusammenwirkens internationaler und regionaler Einflüsse sowie der sozialökonomischen Faktoren, die in der Krise auf dem Balkan am Werk sind. Die Rettung der Balkanvölker, betonte er, hing von der Überwindung des nationalen und ethnischen Partikularismus ab. "Der einzige Ausweg aus dem nationalen und staatlichen Chaos und aus dem blutigen Durcheinander im Leben auf dem Balkan ist die Vereinigung aller Völker der Halbinsel zu einem wirtschaftlichen und staatlichen Ganzen auf der Grundlage einer nationalen Autonomie der einzelnen Bestandteile."

Trotzki fuhr fort:

"Die staatliche Vereinigung der Balkanhalbinsel kann auf zweierlei Art geschehen: Entweder von oben, indem sich ein stärkerer Balkanstaat auf Kosten der schwächeren ausdehnt - dies wäre der Weg von Vernichtungskriegen und der Unterdrückung schwacher Nationen... oder von unten, indem sich die Völker selbst vereinigen - dies wäre der Weg von Revolutionen..." (10)

Wenn man diese Worte liest, wundert man sich, wie tief unsere Zivilisation immer noch in die ungelösten Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts verstrickt ist. Die große Frage lautet, ob die Arbeiterklasse die Lehren aus der Vergangenheit ziehen wird, so daß die Probleme, die dieses Jahrhundert hinterläßt, in dem unmittelbar bevorstehenden endlich gelöst werden können.

Mit freundlichem Gruß

David North

Anmerkungen

(1) zitiert nach Merle Curti, "The Growth of American Thought", New Brunswick 1991, S. 657

(2) ebd. S. 661

(3) Department of State Bulletin, January 1, 1962

(4) "Balkan Tragedy: Chaos and Dissolution After the Cold War", Washington D.C. 1995. S. 106f

(5) zitiert nach David Owen, "Balkan Odyssee", New York 1995, S. 343

(6) ebd.

(7) ebd. S. 344

(8) "Dismantling Yugoslavia; Colonizing Bosnia", Covert Action, No. 56, Spring 1996

(9) "Die Balkankriege 1912-13", Essen 1996, S. 60

(10) ebd. S. 61

Siehe auch:
Der vollständige Text des Briefs von P. Harris
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