Wahlen in der Türkei

Am Sonntag, den 18. April, werden in der Türkei Bürgermeister- und vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden. Den Wahlen, deren Termin lange Zeit fraglich war, ging eine Dauerkrise des politischen Systems voraus - und wird ihnen auch folgen.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember 1995 war gut siebzig Jahre nach Gründung der Republik und Abschaffung des Kalifats die islamistische Wohlfartspartei (RP) unter Necmettin Erbakan stärkste Kraft im Parlament geworden. Nach einer kurzlebigen Koalition der "laizistischen" Mitte-Rechts-Parteien war Erbakan ein Jahr Ministerpräsident, bis er nach massiven Drohungen der Armee Mitte 1997 in einer Art "kaltem Putsch" seinen Posten an Mesut Yilmaz von der konservativen Mutterlandspartei (ANAP) abgeben mußte. Diesem erging es allerdings nicht viel besser. Im November letzten Jahres stürzte er über dubiose Verstrickungen mit der Geschäftswelt und mafiosen rechten Gruppierungen. Führende Mafia-Gangster hatten mit Enthüllungen über die engen Verflechtungen zwischen diesen Banden und dem Staat begonnen.

Erst nach fast einem Vierteljahr Hauen und Stechen gelang es schließlich im Januar dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit, eine Minderheitsregierung zustande zu bringen. Das Militär, besorgt über einen womöglich noch größeren Wahlsieg der Islamisten, deutete ähnlich wie Staatspräsident Demirel an, die für den 18. April angesetzten Wahlen zu verschieben. Später zettelten eine Reihe von Abgeordneten aus unterschiedlichen Parteien zum selben Zweck eine Revolte im Parlament an. Schlüsselfiguren sollen dabei rechte Parlamentarier mit engen Verbindungen zu Militär und Wirtschaft gewesen sein. Sie konnten die Furcht von anderen Abgeordneten nutzen, nicht mehr auf einem "sicheren" Listenplatz zur Wahl aufgestellt zu werden und somit Posten und Pfründe zu verlieren.

Mitte März, als die Popularität von Ecevit wegen der Entführung des PKK-Führers Öcalans und der Kriegsdrohungen gegen Griechenland zunahm, äußerte die Armeeführung jedoch düstere Warnungen vor einem "Chaos", falls die Wahlen verschoben werden sollten. Die "Rebellion" der Parlamentarier scheiterte.

Schon allein das Vorspiel zu den Parlamentswahlen zeigt also, wie instabil die Verhältnisse in der Türkei sind. Hinter dieser Instabilität steckt eine tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft. Bereits die Zollunion mit der EU vor drei Jahren hat sich schnell als ein Verlustgeschäft für die Türkei erwiesen. Die Schockwellen der Finanzkrise in Asien, Rußland und Brasilien waren ein zusätzlicher Schlag. Hinzu kam eine ganze Serie von Korruptionsaffären und -skandalen, die nicht nur Bemühungen zur Ankurbelung der Wirtschaft behinderten, sondern vor allem die tiefe Kluft zwischen einem Klüngel aus Politikern, Geschäftsleuten und hartgesottenen Gangstern und der einfachen Bevölkerung sichtbar machten, die immer mehr in Arbeitslosigkeit und Armut versunken ist.

Mit der zunehmenden Entfremdung der Bevölkerung vom politischen und wirtschaftlichen Establishment haben die ultrarechten Mafiabanden (türkisch "cety") und das Militär immer mehr die offizielle Politik dominiert, während die etablierten Parteien im wesentlichen nur noch aus korrupten und völlig prinzipienlosen Karrieristen bestehen. Je mehr der allerorten in Stein gemeißelte Ausspruch von Staatsgründer Kemal Atatürk "Glücklich, wer ein Türke ist" der Mehrheit der Bevölkerung wie Hohn in den Ohren klingen muß, desto hysterischere Formen nimmt der türkische Nationalismus an. Daran wird sich auch nach den Wahlen nur wenig ändern. Bereits bei seiner Amtsübernahme im Januar hatte Ecevit, der von der türkischen Presse auch als künftiger Ministerpräsident favorisiert wird, erklärt, er werde sich dafür einsetzen, daß alle Forderungen des IWF vom letzten Jahr erfüllt würden und die Zusammenarbeit mit dem IWF sogar noch vertiefen. Das bedeutet weitere Privatisierungen und soziale Kürzungen, besonders die "Reform" der defizitären Rentenversicherung.

Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, so wird klar, warum auch nach der erfolgreichen Verschleppung von PKK-Chef Öcalan die wütende chauvinistische Kampagne gegen "separatistischen Terrorismus" nicht ab- sondern zugenommen hat. Während vereinzelte liberale Stimmen im Land selbst und verschiedene europäische Regierungen schüchtern vorschlugen, der türkische Staat möge sich nach seinem "Sieg" doch nun großmütig zeigen und den Kurden wenigstens minimale Zugeständnisse machen, tat dieser genau das Gegenteil.

Öcalan, in der Türkei seit eineinhalb Jahrzehnten zum Inbegriff alles Bösen stilisiert, wurde wie eine Trophäe in Handschellen vor türkischen Fahnen vorgeführt, offensichtlich um die Kurden zu demütigen und zu provozieren. Tausende Menschen, meist Unterstützer der pro-kurdischen "Demokratischen Volkspartei" (HADEP) und des Menschenrechtsvereins (IHD) wurden verhaftet, eine regelrechte Pogromatmosphäre geschürt.

Gegen die HADEP läuft ein Verbotsverfahren, der Großteil ihrer Führung sitzt bereits im Gefängnis. Selbst die kleinere "Demokratische Massenpartei" (DKP), ebenfalls pro-kurdisch, aber sehr gemäßigt und konservativ, wurde verboten. All das hat den kurdischen Nationalismus natürlich ebenfalls radikalisiert. Der ehemalige Präsident und Parlamentsabgeordnete der "Demokratie-Partei" (DEP) Hatip Dicle etwa erklärte sich aus der Haft heraus zum "PKK-Militanten". In Gefängnissen traten zahlreiche politische Häftlinge in das "Todesfasten" (Hungerstreik). Die PKK und maoistische Organisationen verübten einige Anschläge auf das Militär, teilweise in Form von Selbstmordattentaten. Zudem sind Organisationen mit Namen wie "Rachefalken Apos [Abdullah Öcalans]" und "Kurdische Nationalistische Rachekräfte" aufgetaucht, die die Zivilbevölkerung angreifen.

Bei einem Brandanschlag der "Rachekräfte" auf ein Kaufhaus starben 13 Menschen, hauptsächlich Angestellte. In einer in islamischem Stil gehaltenen Erklärung hieß es u.a., sie würden "für jedes verbrannte kurdische Dorf ein türkisches Viertel anzünden". Dem Anschlag folgte eine massive Repressionswelle. Die PKK distanzierte sich von dem Anschlag, obgleich sie am 18. Februar noch selbst erklärt hatte, von nun an sei "jede Gewaltanwendung legitim und gerecht", und das ausdrücklich auf "alle Organisationen, Institutionen oder Personen, die sich feindlich unserem Volk gegenüber verhalten" bezogen hatte, ganz gleich "ob zivile oder militärische". Osman Öcalan, "Apos" Bruder, erklärte dennoch am 13. März, man werde "Zivilisten nicht angreifen".

Die Strategie der PKK in den neunziger Jahren, durch eine Kombination von militärischem Druck und Verhandlungsangeboten schließlich einen "demokratischen" Flügel im türkischen Establishment zu Zugeständnissen zu bewegen, ist jedoch offensichtlich gescheitert. Der mit der Verschärfung der sozialen Gegensätze immer brutalere türkische Chauvinismus treibt daher besonders perspektivlose kurdische Jugendliche immer tiefer in nationalistischen Haß, Verzweiflung und Verbitterung. In wenigen Monaten oder auch nur Wochen dürfte sich diese Entwicklung beschleunigen. Denn am 30. April wird der Prozeß gegen Öcalan vor einem Militärgericht wegen "Hochverrat" eröffnet werden. Und nach den Worten von Ministerpräsident Ecevit wird man für dieses "rechtsstaatliche" Verfahren nicht länger brauchen.

Wird "Apo" schuldig gesprochen, was sehr wahrscheinlich ist, so bedeutet das die Todesstrafe. Deren Vollzug, falls sie nicht wider Erwarten doch noch vorher abgeschafft wird, muß zwar noch im Parlament bestätigt werden. Aber welcher Abgeordnete wird es in der derzeitigen Lynchatmosphäre wagen, für die Begnadigung des "Kinderschlächters und 30.000fachen Mörders Apo" die Hand zu heben? Das Gespenst einer "kurdischen Hamas", ob sie nun aus der PKK heraus, einer Abspaltung von ihr oder gegen sie entsteht, ist also durchaus real und selbst wieder Wasser auf die Mühlen der rechtesten Elemente im türkischen Staat.

Mit dem hysterischen Chauvinismus geht eine geradezu kulthafte staatliche Verehrung Kemal Atatürks und ständige Beschwörung des Kemalismus einher, die von einer wütenden Kampagne gegen den Islamismus begleitet werden. Auch gegen die islamistische Tugendpartei [FP, Nachfolgerin von Erbakans verbotener RP] und verschiedene von ihr beeinflußte Organisationen läuft ein Verbotsverfahren, einige ihrer prominenten Mitglieder sind angeklagt; der islamistische Oberbürgermeister von Istanbul Erdogan mußte bereits eine zehnmonatige Haftstrafe antreten.

Gegen vier ehemalige Abgeordnete der RP beantragte der Ankläger beim Staatssicherheitsgericht die Todesstrafe. Dasselbe kündigte er für einen späteren Zeitpunkt in Bezug auf Erbakan, dessen Parteifreund und damaligen Justizminister Sevket Kazan, sowie gegen heutige Abgeordnete der Tugendpartei an. Angeklagt worden ist auch der Vorsitzende der "Vereinigung der muslimischen Unternehmer" (MÜSIAD), die ebenfalls verboten werden soll.

Der Grund für das staatliche Vorgehen gegen die Islamisten liegt darin, daß mit dem Militärputsch von 1980, der im Namen des Kemalismus und der "Rettung der Nation" stattfand, alles politische Leben erstickt und gleichzeitig bei offizieller Aufrechterhaltung des Laizismus der Islam systematisch gefördert wurde. Erfolgreich war dies vor allem aufgrund des politischen Bankrotts und der Rechtswendung der Linken in der Türkei, den Stalinisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Daher kommt politische Unzufriedenheit heute oftmals in extrem verzerrter und verwirrter Weise als Unterstützung für reaktionäre islamistische Tendenzen zum Ausdruck. Turkey Update bemerkte dazu: "Die Parteien scheinen alle Ideologien aufgegeben und mit der Ausnahme der Tugendpartei, die eine vernehmbare oppositionelle Kraft geblieben ist, beinahe zu einen ununterscheidbaren politischen Einheit verschmolzen zu sein, überschattet von der Armee." (7. April 1999)

Während es also bei den Wahlen möglich, wenn auch alles andere als sicher ist, daß Ecevit als Sieger aus ihnen hervorgeht, wird die gesellschaftliche und politische Krise in der Türkei keineswegs gelöst werden. Zu erwarten ist vielmehr eine noch tiefere soziale Spaltung, eine weitere Verschärfung des Kurdenkonflikts und eine Stärkung islamistischer Tendenzen. Auf beides wird der Staat voraussichtlich wie gewohnt reagieren - mit noch mehr Unterdrückung. Dringend notwendig ist der Aufbau einer neuen Partei, die die Arbeitenden und Unterdrückten türkischer wie kurdischer Nationalität unter einem sozialistischem Programm zusammenschließt.

Siehe auch:
75 Jahre Republik Türkei. Eine Bilanz des Kemalismus
(7. November 1998)
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