Scharfer Rechtsruck bei den Wahlen in der Türkei

"Erdbeben" war das meistgebrauchte Wort, um das Ergebnis der Parlamentswahlen in der Türkei vom Sonntag zu beschreiben. Und in der Tat, das war es auch. Die tiefe soziale Spaltung der türkischen Gesellschaft hat mit Donnergrollen auch das politische System erfaßt und alle vagen Hoffnungen verbliebener Liberaler im In- und Ausland auf gesellschaftlichen Ausgleich, nationale Versöhnung und demokratische Reformen in den Abgrund gerissen.

Größte Überraschung waren nicht der eindeutige Sieg für den Sozialdemokraten Bülent Ecevit von der "Demokratischen Linkspartei" (DSP) und die Verluste für die bürgerlichen Mitte-Rechts-Parteien von Mesut Yilmaz ("Mutterlandspartei", ANAP) und Tansu Ciller ("Partei des Wahren Weges", DYP). Ecevit hat mit 22% der Stimmen gegenüber den letzten Wahlen 1995 etwa 9% dazu gewonnen, Yilmaz und Ciller je ca. 6% verloren. Überrascht hat auch nicht, daß die pro-kurdische "Demokratische Volkspartei" (HADEP) die 10%-Hürde verfehlt hat, obwohl sie im überwiegend kurdischen Südosten des Landes breite Unterstützung fand und dort bei den zeitgleichen Kommunalwahlen einige Bürgermeisterposten erzielen konnte.

Erstaunt haben jedoch die deutlichen Verluste der islamistischen "Tugendpartei" (FP), während der erdrutschartige Erfolg der faschistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), besser bekannt als "Graue Wölfe", einen regelrechten Schock ausgelöst hat. Die MHP hat nicht nur wieder den Sprung ins Parlament geschafft, sie hat mit 18% ihr Ergebnis von 1995 verdoppelt und ist zur zweitstärksten Fraktion geworden, die jedenfalls eine Schlüsselrolle in der zukünftigen Politik spielen wird.

Dagegen ist die einzige etablierte Partei, die wenigstens andeutungsweise mit "linkem" Anspruch aufgetreten ist, Deniz Baykals sozialdemokratische "Republikanische Volkspartei" (CHP), nicht mehr im Parlament vertreten. Die CHP steht von ihrem Namen und Selbstverständnis her in der direkten Nachfolge der von der Gründung der modernen Türkei 1923 bis 1950 herrschenden gleichnamigen Staatspartei von Kemal Atatürk, dem offiziell ikonengleich verehrten Staatsgründer. Eine Parole von Baykal im Wahlkampf war: "Laßt Atatürks Partei nicht aus dem Parlament"( Turkish Daily News 20. April 1999).

Die CHP hatte sich bereits 1991-95 gründlich diskreditiert, als während ihrer Zeit in der Koalitionsregierung nicht nur der Krieg gegen die Kurden im Südosten eskalierte, sondern auch im Westen die Polizei mit aller Brutalität gegen die Teilnehmer mehrerer großer Streiks und Arbeiterdemonstrationen, einschließlich CHP-Mitglieder, vorging. In den letzten vier Jahren in der Opposition fiel die CHP weniger durch ihre gelegentlichen kritischen Töne, sondern vielmehr durch ständige parlamentarische Deals und Kombinationen hinter den Kulissen auf. Politische Mobilisierungen waren ihr dagegen ein Greuel.

ANAP und DYP blieben zwar mit je ca. 13% im Parlament, erhielten aber die verdiente Quittung für mehr als ein Jahrzehnt der Bereicherung, Korruption, Vetternwirtschaft und Verflechtung mit der Mafia. Die Stuttgarter Zeitung vom 20. April 1999 bemerkt dazu: "Das Mitte-rechts-Lager von Mesut Yilmaz und Tansu Ciller ist für eine Serie von Skandalen abgestraft worden. Wie tief der Sturz ist, zeigt ein Blick ins Jahr 1987. Damals erreichten ANAP und DYP zusammen 56,4 Prozent. Jetzt sind es nur noch rund 25. Auch das zeigt, daß sich die Wähler einerseits zwar von starken Parolen leiten ließen, andererseits aber auch dem Anspruch politischer Hygiene Rechnung trugen."

Die Islamisten haben wohl vor allem wegen der massiven Einschüchterungskampagne des Militärs an Stimmen verloren. Die Armee hat 1997 den Rücktritt des islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan erzwungen, der immer noch als graue Eminenz der Islamisten hinter den Kulissen gilt. Dessen "Wohlfahrtspartei" (RP), die Vorläuferin der FP, wurde kurz darauf verboten. Seitdem ist die Kampagne gegen den Islamismus nicht abgerissen. Die Armee hat deutlich gemacht, daß sie eine Machtübernahme der FP nicht dulden würde. Diese hat darauf immer wieder ihre Treue zum Staat und zum offiziellen Laizismus beteuert und sich bei politischen Kampagnen zurückgehalten. Denkbar ist jetzt, daß sich in Zukunft wieder ein Hardliner-Flügel durchsetzt.

Von den Verlusten der FP sowie von ANAP und DYP haben vor allem die Faschisten profitiert. Nachdem sie 1991 noch im Bündnis mit der RP in die Nationalversammlung eingezogen, aber nie an der Regierung beteiligt waren, waren sie seit 1995 überhaupt nicht als Fraktion im Parlamt vertreten. Einer ihrer demagogischen Wahlkampfslogans war "Kampf der Armut und der Korruption". Das kommt wohlgemerkt von denselben Grauen Wölfen, die bisher neben den Kurden am liebsten protestierenden Arbeitern und Armen an die Kehle gefallen sind und außerdem den IWF unterstützen.

Im Wahlkampf haben sie zwar vorübergehend etwas Kreide gefressen und den Schafspelz übergestreift. Daß dies jedoch nichts weiter als Taktik ist, hat der altgediente MHP-Funktionär und seit zwei Jahren neue Leitwolf Devlet Bahceli gegenüber der Zeitung Sabah bereits unverblümt klargemacht: "Wir haben unsere Linie aus den 70er Jahren nicht geändert, aber wir sind heute weniger aggressiv." (Zitiert nach taz, 20. April )

Während der Klassenkämpfe in den siebziger Jahren waren die Grauen Wölfe nach dem Vorbild von Hitlers SA unter den wohlwollenden Augen der Polizei mit Mord und Totschlag gegen die linke Arbeiter- und Studentenbewegung, nationale und religiöse Minderheiten vorgegangen. Unter ihren vielen Opfern befanden sich auch zahlreiche Anhänger von Ecevit. Dieser vermied es sorgfältig, die Arbeiter zum Widerstand gegen den faschistischen Terror aufzurufen, und überließ es 1980 schließlich dem Militär, für "Ruhe und Ordnung" zu sorgen.

Ecevit, der in dieser Wahlkampagne Angriffe auf die MHP vermied, erklärte den Wahlausgang zum "Beweis für die Festigkeit des demokratischen und säkularen Systems" und wollte eine mögliche Koalition mit den Grauen Wölfen nicht ausschließen. Er meinte, "die Welt und die Türkei" hätten die "ideologischen Spaltungen der Vergangenheit" überwunden. Schon beim Begräbnis des Gründerführers der MHP, Alparslan Türkes, vor zwei Jahren hatte Ecevit gesagt, neben "einigen Differenzen" gebe es zwischen ihnen auch "große Gemeinsamkeiten: die Liebe zum Volk, zum Kemalismus und zum Laizismus". (Zitiert nach: Fikret Aslan u.a., Graue Wölfe heulen wieder, S. 74). "Überwunden" haben also nicht die Grauen Wölfe ihren faschistischen Charakter, ganz bestimmt aber Ecevit die letzten Reste politischer und moralischer Hemmungen, falls er sie denn jemals gehabt haben sollte.

Trotzdem ist es durchaus nicht sicher, daß tatsächlich eine DSP-MHP-ANAP-Koalition zustande kommt, wie von einigen türkischen Zeitungen favorisiert. Die Börse reagierte auf den Wahlerfolg der Faschisten mit starken Kursverlusten. Im Ausland hat er besorgte bis bestürzte Reaktionen ausgelöst, besonders in Europa. Bis Staatspräsident Demirel eine neue Regierung einsetzt, wird er mit den Parteichefs, natürlich den mächtigen Generälen und wohl besonders der amerikanischen Regierung einige Diskussion hinter verschlossenen Türen führen.

Es ist anzunehmen, daß ihm die NATO-Länder vorerst davon abraten werden, die MHP in die Regierung zu nehmen. Nachdem diese, wie kürzlich der deutsche Außenminister Joschka Fischer, ihren Krieg gegen Jugoslawien immer häufiger als "Kampf gegen den Faschismus" bezeichnen, wäre es einigermaßen peinlich, wenn in einem der am Krieg beteiligten Länder... Faschisten in der Regierung sitzen würden.

Hier stehen Europa und besonders die USA aber genau vor dem Rand der Grube, die sie selbst anderen gegraben haben. Denn was war der Grund für diesen Wahlausgang? Die türkische wie internationale Presse waren sich weitgehend einig, daß vor allem zwei Dinge dafür gesorgt haben, die soziale Unzufriedenheit in dermaßen rechte Kanäle zu lenken.

Zum einen der tobende Chauvinismus, der letztes Jahr begonnen und nach der Vertreibung des Chefs der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Öcalan aus Syrien und besonders nach seiner Verschleppung in die Türkei bis zu einer Pogrom- und Lynchathmosphäre gesteigert worden war. Ihre größten Erfolge erzielte die MHP unter den Bauern und dem Kleinbürgertum der anatolischen Provinz, aus deren Reihen die meisten im Kampf gegen die PKK verheizten Soldaten stammen. Die Städte des Westens tendierten dagegen stärker zu Ecevit.

Die MHP hatte zahlreiche Male in "patriotischen" Kundgebungen und Protesten einen rasenden nationalistischen Mob organisiert, ermuntert von der Regierung und den Medien. Syrien und Griechenland waren unter den türkischen Kriegsdrohungen schließlich eingeknickt und hatten Öcalan über die Klinge springen lassen. Die USA hatten die Türkei dabei voll unterstützt, die EU hatte schnell nachgegeben und sich letztlich daran beteiligt, Öcalan ans Messer zu liefern. In der Türkei interpretierte man dieses Verhalten wohl nicht zu Unrecht als Freibrief für hemmungslosen Terror und Chauvinismus gegen die Kurden.

Zusätzlichen Auftrieb hat den Faschisten der NATO-Krieg gegen Serbien gegeben. Ecevit hat von Beginn an seine Solidarität mit den "muslimischen Brüdern" im Kosovo bekundet und auch den Einsatz türkischer Bodentruppen angeboten, die Medien überboten sich mit Kriegspropaganda. Da steht die MHP natürlich nicht zurück. Die Süddeutsche Zeitung vom 20. April notiert entsetzt: "Die Türkei verabschiedet sich von Europa, und sie hätte keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können. Derweil Jugoslawien brennt, die Balkan wankt und Europa unter der Last der Kriegsverantwortung ächzt, greifen in Ankara großmäulige Nationalisten nach der Macht, die ,von niemandem Ratschläge brauchen'. Sie träumen vom starken Staat und von einem Phantasiereich namens Turan, das von der Adria bis vor die Tore Pekings reicht. ,Kosovo, Kosovo - hörst du unsere Schritte', skandierten die Ultranationalisten, als sie ihren Wahltriumph auf den Straßen Istanbuls feierten. Es war ein erster Vorgeschmack auf die Dinge, die nun folgen sollen."

Ob die Grauen Wölfe schon bald Minister stellen oder als Opposition die Regierung vor sich hertreiben, ist vorerst noch eine offene Frage und hängt vor allem von ANAP und DYP ab. Fest steht jedoch, daß sich das politische Klima auf Dauer verändern wird. Mit dem Wahlergebnis steht auch die Vollstreckung des wahrscheinlichen Todesurteils gegen Öcalan so gut wie fest. Dann dürfte der Kurdenkonflikt, der sich in den letzten Wochen durch die staatliche Unterdrückung und als Reaktion auf Serien von Anschlägen ohnehin bereits immer weiter wechselseitig hochgeschaukelt hat, erst richtig eskalieren.

Der Türkei und der Welt stehen nach dieser Wahl noch unfriedlichere Zeiten bevor. Einen guten Teil Verantwortung dafür tragen diejenigen, die jetzt "besorgt sind", aber ihre Hände in Unschuld waschen: Die USA und die EU, die NATO und der IWF. Sie haben den Boden von sozialem Elend für die rechte Demagogie geschaffen und ihr durch die Manipulation nationaler Konflikte zur Blüte verholfen.

Siehe auch:
Wahlen in der Türkei
(14. April 1999)
Die Entführung Abdullah Öcalans: Wo ist das Asylrecht geblieben?
( 18. Februar 1999)
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