Das Verbot von Falun Gong

Chinas Machthaber in der Krise

Die Unterdrückung der quasi-religiösen Sekte Falun Gong seit dem 19. Juli stellt den bisher schwerwiegendsten Akt staatlicher Unterdrückung in China seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 dar. Etwa 5000 Anhänger der Sekte wurden in den letzten beiden Wochen verhaftet. Videos und Literatur von Falun Gong werden im ganzen Land beschlagnahmt und vernichtet. In der Stadt Wuhan allein sollen ca. 200.000 Bücher verbrannt worden sein. Die Web-Seiten von Falun Gong wurden verboten oder dem chinesischen Publikum unzugänglich gemacht, und jegliche Ausübung ihres Glaubens zum Gesetzesverstoß erklärt.

Anschuldigungen gegen Falun Gong und Distanzierungen seitens früherer Mitglieder füllen die Seiten der staatlichen Medien, seit die Bewegung am 22. Juli offiziell verboten wurde. Nachrichtensendungen im staatlichen Fernsehen wurden bis auf zwei Stunden Sendezeit ausgedehnt und mit ausführlicher Propaganda gegen Falun Gong gefüllt. Ihr wurde vorgeworfen, sie treibe Mitglieder in den Selbstmord und in den Wahnsinn, fördere Scharlatanerie und strebe den Sturz der Regierung der Kommunistischen Partei an. Gegenwärtig versucht die Regierung, die Auslieferung des im New Yorker Exil lebenden Sektenführers Li Hongshi zu erreichen, um ihm den Prozeß zu machen.

Das Verbot wird weithin als Reaktion auf die Demonstration der Falun Gong in Peking am 25. April verstanden. Etwa 10.000 Mitglieder hatten sich vor dem Zhongnanhai-Komplex versammelt, wo die höchsten Führer Chinas ihre privaten Wohnungen und Büros haben, um gegen die Diffamierung der Sekte durch staatliche Medien zu protestieren. Inmitten verschärfter Sicherheitsvorkehrungen aus Anlaß des bevorstehenden 10. Jahrestages des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens bedeutete die Demonstration einen herben Schock für die Pekinger Bürokratie. Chinas Staatschef Jiang Zemin soll einen Wutanfall gehabt haben.

Bisher hat Peking in den neunziger Jahren keine Maßnahmen gegen religiöse Bewegungen ergriffen, sondern - als Antwort auf die großen Protestaktionen gegen die Regierung im Jahre 1989 - das Wiederaufleben religiöser Bewegungen bis zu einem gewissen Grade unterstützt, um die soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren. Die taoistischen, buddhistischen und christlichen Religionsgemeinschaften, die früher unterdrückt worden waren, konnten nun wieder eine Gläubigerschar von etwa 100 Millionen um sich vereinen. Regierungsstellen erleichterten auch die Ausbreitung von Falun Gong nach deren Gründung im Mai 1992.

Falun Gong beinhaltet Elemente traditioneller chinesischer Religionen und propagiert populäre Gymnastik-Übungen, die als Qigong bekannt sind. Um geistiges und körperliches Wohlbefinden zu erreichen, empfiehlt die Bewegung einen asketischen Lebensstil und die Ausübung spezieller Qigong-Übungen, die nur die Sekte praktiziert.

Bis 1996 unterstützte die Regierung die Sekte dabei, ihre Ideologie zu publizieren und zu verbreiten, Vorträge im In- und Ausland zu halten sowie in den meisten größeren chinesischen Städten eigene Ausbildungszentren zu unterhalten. Die größte Unterstützung erhielt die Sekte von einer Stiftung, die mit dem Polizeiministerium in Verbindung steht. Diese sponserte Vorträge und "Heilungs"-Sitzungen. Zahlreiche Funktionäre in Regierung und Partei bekannten sich zu Falun Gong. Erst vor wenigen Tagen wurde Li Quhua, ein früherer General, Veteran des Langen Marsches und Mitarbeiter von Mao, gezwungen, seine Fehler zu "gestehen" und sich von der Sekte zu distanzieren.

Sollten die von der chinesischen Regierung im April genannten Zahlen zutreffen, verzeichnete Falun Gong einen kometenhaften Aufstieg. Innerhalb weniger Jahre wuchs demnach die Mitgliedschaft um Millionen. 39 Ausbildungszentren wurden eröffnet, 1900 Unterrichtseinrichtungen sowie über 28.000 Stätten, an denen Gruppenübungen stattfanden.

Das Wachstum der Falun Gong wurzelt in den ökonomischen und sozialen Umwälzungen, die China erlebt. Zwanzig Jahre Marktreformen haben das Land nach Regionen und Klassen polarisiert. Während die höchsten Bürokraten der Regierung und neue kapitalistische Elemente große Reichtümer angesammelt haben, hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation für den Großteil der Bevölkerung ständig verschlechtert.

Die meisten Anhänger von Falun Gong kommen aus den städtischen Zentren von Chinas früherem industriellen Kernland, den nordöstlichen und zentralen Provinzen, die durch Kürzungen und Fabrikschließungen hart getroffen sind. Preisreformen, Stillstand und Schließung staatlicher Industrien und der Verlust sozialer Sicherungen haben insgesamt zu einer wachsenden sozialen Krise in Städten wie Changchun, Dalian, Shenyang, Shijiazung, Tiankin und Wuhan geführt. Die Arbeitslosigkeit wütet wie eine Seuche und der Lebensstandard liegt weit unter dem der Küstenprovinzen, die einen starken Zustrom ausländischen Kapitals verzeichnen.

So liegt das durchschnittliche Monatseinkommen in Dalian bei 474 Yuan (ca. 115 DM), verglichen mit 813 Yuan in Shanghai. In Changchun, Gründungsort von Falun Gong, beträgt das durchschnittliche Monatseinkommen 394 Yuan, weniger als die Hälfte der 974 Yuan in Guangzhou, eine Stadt im Süden nahe Hongkong.

Die Masse der Bevölkerung wie auch die Mitglieder der Kommunistischen Partei glauben kaum an die gelegentlichen Aussagen staatlicher Führer, daß eine bessere Gesellschaft aufgebaut würde. Der Ausbruch von Unzufriedenheit über die Regierung im Jahr 1989 wurde grausam unterdrückt, was die Verärgerung und Verbitterung noch erhöht hat. Mißtrauen und ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber der Regierung trifft man allerorts; doch alle Kanäle für die politische Artikulation von Konflikten - seien es politische Parteien oder Arbeiterorganisationen - sind versperrt.

Unter diesen Bedingungen ist es nicht schwer zu verstehen, daß Falun Gong schnell anwachsen konnte, indem sie die Ängste, Unsicherheit und tiefe Entfremdung ausnutzte, die durch Massenarbeitslosigkeit, Armut und Mühsal erzeugt werden. Denjenigen, die nicht länger Zugang zu staatlicher Gesundheitsfürsorge hatten, bot Falun Gong eine alternative Form des Heilens an. Ihre konservative Philosophie, die sich auf Verachtung sowohl für die Regierung als auch für die Wissenschaft stützt, versorgte die Verwirrten und Desorientierten mit einer mystischen Erklärung für die Verschlechterungen im gesellschaftlichen Leben.

Das rasche Wachstum der Falun Gong hat die stalinistische Bürokratie offensichtlich in eine schwere Krise gestürzt, obwohl die Führung der Sekte wiederholt versichert hat, sie verfolge keine politischen Ziele und wolle Pekings Macht nicht herausfordern. Die ersten Konflikte gab es 1996, als die Bewegung sich weigerte, die Bildung von Zellen der Kommunistischen Partei in ihren Zentren sowie andere Formen staatlicher Überwachung zu akzeptieren und auf staatliche Kritik mit Protestaktionen antwortete. Die ersten staatlichen Repressionen setzten im Juli letzten Jahres ein.

Diese Reaktionen des Staates enthüllen die übergroße Nervosität und sogar Paranoia der chinesischen Führung gegenüber jeder Form von Opposition. Plötzlich mit einer Massenbewegung konfrontiert, die sie nicht direkt kontrollieren konnten, griffen die Pekinger Bürokraten instinktiv zu polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen. Zweifellos denken die Führer an der Spitze an die großen Ausbrüche von Unzufriedenheit gegen die kaiserliche Herrschaft und ausländische Kontrolle im letzten Jahrhundert. Sowohl die Rebellionen von Tai Ping (1850-1861) wie auch der Boxeraufstand von 1900 nahmen die Form großer religiöser Bewegungen an, die plötzlich auftauchten und sich im ganzen Land ausbreiteten. Ihre Befürchtung ist, daß die scheinbar unschuldige Falun Gong das Potential hat, ein gefährliches Ventil für die Opposition breiter Schichten zu werden, die kein anderes Ventil für ihre Feindseligkeit finden.

Daher hat die verknöcherte Bürokratie, die zunehmend von den Massen isoliert und vollkommen unfähig ist, ihren Bedürfnissen entgegenzukommen, zu primitiven Polizeistaatsmethoden und zu einer ideologischen Kampagne im Mao-Stil - zu Denunziationen und Selbstbezichtigungen - Zuflucht genommen. Parteimitglieder und die Öffentlichkeit werden angehalten, sich dem Marxismus und dem dialektischen Materialismus zuzuwenden und die Religion, den Mystizismus und Falun Gong im besonderen zu bekämpfen. Die ganze Übung ist jedoch eine komplette Farce - nur wenige Leute glauben, daß die Spitzen der Partei in irgendeiner Weise den Sozialismus oder Marxismus oder auch nur die Traditionen der chinesischen Revolution hochhalten, an die sie in der Vergangenheit appelliert haben.

Das Hauptziel der oberen Schichten der stalinistischen Hierarchie besteht darin, sich zu bereichern, die Macht zu behalten und zu den führenden Vertretern der entstehenden Kapitalistenklasse zu werden. Sie sind sich über ihre unsichere Stellung völlig bewußt und wissen, daß sich eine soziale Explosion zusammenbraut, gegen die sie nur schwache soziale und ideologische Stützen haben. Aufgrund der Forderungen des internationalen Finanzkapitals sieht sich die Bürokratie gezwungen, das Programm der wirtschaftlichen Umgestaltung voranzutreiben und staatliche Industrien zu schließen oder zu privatisieren. Diese Politik verbunden mit dem wirtschaftlichen Rückgangs wird die ohnehin weitverbreitete Arbeitslosigkeit und Armut in ländlichen und städtischen Gebieten noch verschlimmern und damit auch die Unzufriedenheit und Feindseligkeit gegenüber dem Regime steigern.

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