Der Kosovo und die Krise der atlantischen Allianz

Seit dem Ende des Kosovokrieges dringen immer neue Einzelheiten an die Öffentlichkeit, die deutlich machen, dass es während des Krieges innerhalb des Nato-Bündnisses explosive Spannungen gab.

In einer Sendung der BBC erklärte der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott am 20. August, die Meinungsverschiedenheiten hätten solche Ausmaße erreicht, dass "es zunehmend schwierig gewesen wäre, innerhalb des Bündnisses die Solidarität und Entschlossenheit zu bewahren", wenn der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic am 3. Juni nicht nachgegeben hätte. Es sei gut gewesen, dass der Konflikt zu diesem Zeitpunkt zu Ende ging.

Der Oberkommandierende der Nato, US-General Wesley Clark, sagte in derselben Sendung, er habe deutsche, griechische, französische und italienische Einwände gegen Angriffe auf zivile Ziele - wie Fernsehstationen und Regierungsgebäude - teilweise gezielt ignoriert: "Ich habe mich nicht immer denen gebeugt, die Ziele zurückhalten wollten."

Außenpolitische Experten waren schon während des Krieges zur Auffassung gelangt, dass der Zusammenhalt der Nato auf dem Spiel stand und seine Bewahrung zu einem der wichtigsten Motive für die Fortsetzung des Kriegs geworden war.

So schrieb Peter W. Rodman, ein ehemaliger Spitzenbeamter des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums, in Foreign Affairs: "Die einmütige Entschlossenheit der Nato, den Krieg zu beginnen, schließt nicht aus, dass es zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vorwürfen kommt, wenn das Ergebnis nicht den hoch gesetzten Erwartungen entspricht. Für die Allianz steht strategisch enorm viel auf dem Spiel."

Sollte das Ergebnis des Krieges nicht den Erwartungen entsprechen, so Rodman weiter, werde das unweigerlich die Gegensätze zwischen Amerika und Europa vertiefen: "Schon vor der Krise bewegte sich die EU in Richtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die ihre Unabhängigkeit von den USA sicherstellen sollte. Eine Enttäuschung im Kosovo wird dazu führen, dass sie diese Anstrengungen gewaltig verstärken." Ein Erfolg im Kosovo würde dagegen "den Vorrang der Nato in der Zukunft Europas sicherstellen. Es gäbe keine Zweifel, dass die Nato die vorrangige und unverzichtbare Sicherheitsinstitution auf dem Kontinent ist."

Zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangte unmittelbar nach dem Krieg auch das Militärjournal Jane's Defence Weekly: "Es fällt nicht schwer, sich den Tenor der gegenseitigen Vorwürfe vorzustellen, wenn die Nato ihre Ziele nicht erreicht hätte... Die politischen Trümmer der gescheiterten Kampagne hätten den physischen Trümmern des zerbombten Serbien und des zerstörten Kosovo entsprochen... Man hätte sich der Folgerung kaum entziehen können, dass die Blüte der Nato vorbei ist und dass sie von einer einsamen Supermacht geführt wird, die keine Risiken eingehen will. Zukünftige Drohungen wären unvorstellbar gewesen. Der westliche Einfluss auf internationale Angelegenheiten wäre entsprechend geschrumpft."

Das Nachgeben Belgrads, das hauptsächlich auf russischen Druck zustande kam, hat also - folgt man diesen Quellen - die Nato vor einer tiefen Krise und die atlantische Allianz vor dem möglichen Auseinanderbrechen bewahrt.

Dies ist auf beiden Seiten des Atlantiks mit Erleichterung konstatiert worden. In den USA wie in Europa sind die herrschenden Kreise mehrheitlich an der Beibehaltung der Nato interessiert. Für die USA ist und bleibt sie die einzige institutionelle Verbindung zu Europa, das - so Peter W.Rodman in dem oben zitierten Artikel - "für die USA von vitalem Interesse bleibt". Für Europa stellt ein Konflikt oder gar ein offener Bruch mit den USA zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein hohes Risiko dar. Um ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Weltarena Geltung zu verschaffen, sind die europäischen Regierungen - noch - auf die militärische Zusammenarbeit mit den USA angewiesen. Ein Auseinanderbrechen der Nato würde zudem früher oder später das Risiko eines bewaffneten Zusammenstosses mit den USA selbst nach sich ziehen.

Doch hat der Erfolg im Kosovokrieg die Spannungen innerhalb der Nato auf Dauer beseitigt? Hat der Sieg über Belgrad die atlantische Allianz tatsächlich gestärkt?

Drei Monate nach Kriegsende lassen sich diese Fragen eindeutig mit Nein beantworten. Die Reibereien, Auseinandersetzungen und gegenseitigen Vorwürfe innerhalb der Nato sind wieder voll aufgeflammt. Der Ruf, Europa müsse sich "aus der Nato-Hörigkeit befreien" ( Süddeutsche Zeitung vom 17. August ) erschallt immer lauter.

Die Nato und die UCK

Am deutlichsten treten die Spannungen innerhalb der Nato im Kosovo selbst zu Tage. Die Vorstellung, durch die militärische Besetzung der Provinz ließe sich die Region befrieden, hat sich als kurzsichtige Illusion erwiesen. Der Sieg erweist sich als Pyrrhussieg. Der Kosovo ist auch nach dem Abzug der Belgrader Staatsgewalt ein explosives Knäuel von Widersprüchen.

Die systematische Vertreibung von Serben und Roma - von den ursprünglich mehr als 200.000 nicht-albanischen Einwohnern des Kosovo sind höchstens 30.000 übrig geblieben - bereitet der Nato dabei am wenigsten Kopfzerbrechen. Sie war vorauszusehen. Es wäre naiv zu glauben, die Verantwortlichen der Nato hätten dies nicht getan. Die Vertreibung widerlegt zwar die offizielle Propaganda, bei dem Krieg sei es um Menschenrechte und das Verhindern ethnischer Säuberungen gegangen. Deshalb wird sie auch offiziell verurteilt. Aber praktisch hat die Nato wenig unternommen, um sie zu verhindern. Aus manchem Kommentar lässt sich sogar spürbare Erleichterung heraushören, dass so wenigstens dieses Problem vom Tisch sei.

Ein viel größeres Problem als die Vertreibung der nicht-albanischen Bevölkerungsteile erweist sich aus Sicht der Nato die Kosovo-Befreiungsarmee UCK, mit der es in jüngster Zeit wiederholt zu Zusammenstößen kam.

Die UCK bemüht sich seit dem Abzug der serbischen Verwaltung und Streitkräfte systematisch, das entstandene Vakuum auszufüllen. Sie besetzt Verwaltungsposten, übernimmt Polizei- und andere Ordnungsfunktionen und eignet sich Betriebe, Immobilien und anderes Eigentum aus dem Besitz des serbischen Staates an. Sie erkennt die Autorität der von der UNO eingesetzten Verwaltung nur bedingt an und hat mehrfach Demonstrationen gegen Kfor-Truppen organisiert - so in Kosovoska Mitrovica, wo französische Truppen albanische Demonstranten daran gehindert hatten, ein serbisch besiedeltes Viertel zu stürmen, und im deutsch kontrollierten Orahovac, wo die UCK versucht, die Stationierung russischer Kfor-Einheiten zu verhindern.

Die Nato steckt in einem Dilemma. Gibt sie der UCK nach und räumt ihr die Macht im Kosovo ein, riskiert sie eine weitere Ausdehnung der Balkankrise. Ziel der UCK ist ein unabhängiger Kosovo und ein Großalbanien, das auch Teile Mazedoniens, Griechenlands und Albanien selbst umfasst. Die Verwirklichung dieses Ziels hätte unweigerlich blutige Konflikte in diesen und anderen benachbarten Ländern zur Folge. Geht die Nato dagegen gegen die UCK vor, drohen blutige Auseinandersetzungen im Kosovo selbst. Sie könnten in ein ähnliches Debakel münden wie in Somalia, wo die internationalen Truppen inmitten eines erbitterten Bürgerkriegs den Rückzug antreten mussten.

Mehrere Faktoren komplizieren die Lage zusätzlich: Erstens ist die UCK alles andere als eine einheitliche Bewegung und entsprechend schwer zu kontrollieren. Allein in der von UCK-Führer Hashim Thaci gebildeten "Provisorischen Regierung" sitzen fünfzehn unterschiedliche Parteien. Zusagen der Spitze werden oft auf lokaler Ebene nicht eingehalten. Zweitens gibt es enge Verbindungen zwischen der UCK und der albanischen Mafia, die als äußerst skrupellos und gewaltbereit gilt. Drittens arbeitet die UCK eng mit der Regierung des benachbarten Albanien unter Pandeli Majko zusammen, während ihre Konkurrentin, die LDK von Ibrahim Rugova, mit der Opposition unter Sali Berisha verbündet ist. Einheiten der LDK sollen sich im vergangenen September sogar an einem Putschversuch Berishas in Tirana beteiligt haben. Ein Konflikt im Kosovo kann so leicht auf Albanien übergreifen und umgekehrt.

Angesichts dieser gespannten Situation häufen sich in der Nato die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die europäischen Mächte, die in der UN-Verwaltung den Ton angeben, sind nicht bereit, die Macht mit der UCK zu teilen. Die Haltung der USA ist dagegen bestenfalls zweideutig.

Die UCK selbst beruft sich ganz offen auf Unterstützung von Seiten der USA, denen sie ihren politischen Aufstieg verdankt. Auf Demonstrationen gegen französische und russische Kfor-Einheiten wurden pro-amerikanische Parolen skandiert. Die US-Regierung ihrerseits hat bisher wenig getan, um den Eindruck, sie stehe hinter der UCK, zu zerstreuen.

Das US-Außenministerium hatte in Rambouillet die UCK zu ihrem bevorzugten Verhandlungspartner erkoren, weil es so in der Lage war, Belgrad ein unerfüllbares Ultimatum zu stellen. Zuvor hatte die Kosovo-Befreiungsarmee ein Schattendasein geführt. In Deutschland lief sogar ein Verbotsverfahren gegen ihren politischen Kern, die Enver-Hoxha-orientierte LPK (Volksbewegung für den Kosovo). Seit Rambouillet unterhält UCK-Führer Thaci enge Beziehungen zum Pressesprecher des US-Außenministeriums, James P. Rubin, mit dem er sich während der Verhandlungen angefreundet hatte. In Konflikten mit der UN-Verwaltung beruft sich Thaci nun regelmäßig auf Zusagen Rubins; so soll ihm dieser garantiert haben, dass die UCK einen großen Teil der zukünftigen Polizei des Kosovo stellen könne.

Die LDK Rugovas

Die europäischen Mächte setzen dagegen verstärkt auf Thacis Rivalen Ibrahim Rugova von der LDK. Bernard Kouchner, der französische Chef der UN-Verwaltung, überzeugte Rugova Anfang August persönlich davon, im Übergangsrat mitzuarbeiten, den er bisher aufgrund seiner Gegnerschaft zu Thaci boykottiert hatte. Das Gremium berät die UN-Verwaltung. Kouchner, kommentierte le monde, benötige Rugova "als Gegengewicht gegen die UCK".

In Deutschland wurde Rugova am 15. August der "Toleranzpreis" der Stadt Münster verliehen. Dieser Preis ist den Grundgedanken des Westfälischen Friedens verpflichtet, mit dem 1648 der Dreißigjährige Krieg beendet wurde. In der Jury saßen mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und dessen Vorgängerin Rita Süßmuth (CDU) zwei hochrangige Vertreter des deutschen Staates. Die Laudatio hielt Thierses Stellvertreterin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen). Sie pries Rugova als kosovarischen Gandhi und Mandela und griff die USA wegen ihrer Unterstützung für die UCK scharf an.

Es sei "völlig unverständlich", sagte Vollmer, weshalb "eine Gruppierung in die diplomatischen Gespräche eingeführt wurde, die sich seit 1997 ausgerechnet durch Attentate gegen serbische Repräsentanten hervorgetan hatte: die UCK, eine linke Gruppierung, die ausschließlich mit Gewalttaten agierte." Das Fallenlassen der gewaltfreien Bewegung im Kosovo (d.h. von Rugovas LDK) gehöre zu den "dirty secrets" in der Vorphase des Kosovo-Krieges.

Rugova selbst ist alles andere als der friedliebende Mann, als der er in Europa gefeiert wird. Das zeigen schon die Beziehungen, die seine LDK zu Sali Berisha in Albanien unterhält. Letzterer hatte sich während seiner Regierungszeit in Tirana nicht gerade als Demokrat ausgezeichnet und gebietet inzwischen über eine Art unabhängiges Fürstentum im Norden Albaniens, das als Drehscheibe für den Menschen- und Drogenschmuggel gilt.

Rugovas LDK vertritt die alteingesessene, vermögende und einflussreiche Oberschicht der Kosovaren und war daher stets an einem Ausgleich mit Belgrad interessiert. Die UCK verkörpert dagegen die neureichen Aufsteiger und die Ausgegrenzten, die in einem radikalen Bruch mit Belgrad die beste Möglichkeit sehen, sich schnell zu bereichern. Wie die UCK zerfällt auch die LDK in rivalisierende Fraktionen. Bujar Bukoshi, von Rugova einst zum Premierminister seiner Untergrundregierung ernannt, hat sich mit diesem zerstritten. Bukoshi kontrolliert die Gelder, die von der Untergrundregierung unter Exilalbanern eingetrieben worden waren - die Angaben über die Summe schwanken zwischen einigen und einigen hundert Millionen Mark - und weigert sich bisher, diese an Rugova oder an Thacis Provisorische Regierung zu übergeben.

Letztlich drehen sich die Differenzen zwischen den verfeindeten Parteien und Fraktionen weniger um politische und ideologische Fragen, als um Einfluss, Besitz und Geld. Dass sie dennoch zum Anlass heftiger Auseinandersetzungen unter den Nato-Partnern werden, zeigt, wie gespannt die Beziehungen inzwischen sind.

Die Rolle der Vereinten Nationen

Wie schon während des Krieges, rückt auch jetzt wieder die Frage nach der Rolle der Vereinten Nationen ins Zentrum der Auseinandersetzungen. Die Nato hatte den Krieg ohne die Zustimmung der Vereinten Nationen begonnen - ein klarer Bruch geltenden internationalen Rechts. Im Verlaufe des Krieges hatte dann vor allem Deutschland darauf gedrängt, den Vereinten Nationen eine größere Rolle einzuräumen. So sollte zum einen ein völliger Bruch mit Russland vermieden werden, dessen Vetorecht im Sicherheitsrat umgangen worden war. Zum andern sollte verhindert werden, dass die Vereinten Nationen völlig diskreditiert werden. Aus europäischer Sicht ist die Weltorganisation ein Gegengewicht zur Übermacht der USA in der Nato.

Nachdem Jelzins Sondervermittler Tschernomyrdin wesentlich zur Kapitulation Belgrads beigetragen hatte, konnte sich die Nato dem Drängen Moskaus nicht widersetzen, die Übergangsverwaltung im Kosovo den Vereinten Nationen anzuvertrauen. Seither ist der langsame Aufbau der UN-Verwaltung vor allem von amerikanischer Seite immer wieder für die Probleme im Kosovo verantwortlich gemacht worden.

Führende Vertreter der US-Regierung drohen sogar, dass sich am Gelingen oder Scheitern der Kosovo-Mission die Zukunft der Vereinten Nationen entscheidet. Die Zeitschrift Newsweek zitiert unter der Überschrift "Holbrookes Ultimatum: Leistet etwas oder geht unter" den Balkan-Experten Richard Holbrooke, seit kurzem amerikanischer UN-Botschafter, mit den Worten: "Die zukünftige Rolle der UN in internationalen Krisen wird weitgehend durch das bestimmt, was sie im Kosovo erreicht." Ein anderer amerikanischer Spitzenbeamter drohte laut Newsweek: "Wenn sie hier scheitern, wird niemand der UN jemals wieder einen wichtigen Job geben."

Holbrooke gilt nicht gerade als Freund der UN. Nach Aussage des Schweden Carl Bildt, einem der führenden UN-Vertreter auf dem Balkan, durfte während der Bosnien-Verhandlungen in Dayton, die von Holbrooke geleitet wurden, die Weltorganisation nicht einmal erwähnt werden. "Ich erinnere mich, dass das Wort UN während der Dayton-Verhandlungen nicht geäußert werden durfte," zitiert ihn die Washington Post. "Was wir tun mussten, um jede Verbindung zur UN zu vermeiden, war wirklich außergewöhnlich."

Die deutsche Regierung hat auf die Drohung gegen die UN reagiert, indem sie dem französischen Leiter der UN-Verwaltung vergangene Woche einen der engsten Vertrauten von Außenminister Joschka Fischer zur Seite stellte. Tom Koenigs übernimmt die Verantwortung für den Aufbau der Polizei und der zivilen Verwaltung im Kosovo. Koenigs politische Freundschaft mit Fischer geht bis in die Zeit der Vietnam-Demonstrationen und Häuserkämpfe zurück. Später leitete er Fischers Büro als Umweltminister in Hessen und wurde als Stadtkämmerer in Frankfurt, wo er einen rabiaten Sparkurs durchsetzte, zur Symbolfigur für die Rechtsentwicklung der Grünen. Im Kosovo wird er sich vor allem als harter Law-and-Order-Mann bewähren müssen, um das amerikanische Misstrauen zu überwinden.

Auseinanderdriften der Nato

Die Spannungen innerhalb der Nato entzünden sich am Kosovo, ihre Ursachen gehen aber tiefer. Solange das Bündnis die Aufgaben einer reinen Verteidigungsorganisation wahrnahm, ließen sich politische Meinungsverschiedenheiten leicht überwinden. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion hat sich die Rolle der Nato grundlegend verändert: Sie hat sich aus einem territorialen Verteidigungsbündnis in ein globales Interventionsbündnis verwandelt, das die Interessen seiner Mitglieder auch außerhalb des eigenen Territoriums wahrnimmt.

Der Kosovokrieg markiert in dieser Hinsicht einen Meilenstein. Zum ersten Mal hat die Nato ein souveränes Land angegriffen, das ihr selbst nicht angehört, um ihm ihren Willen aufzuzwingen. Der Krieg war zugleich ein Test für ähnliche Interventionen in anderen Regionen der Welt - nicht zuletzt im ebenso rohstoff- wie konfliktreichen Gebiet des Kaukasus und des Kaspischen Meers.

Während die Nato-Partner vereint sind im Bemühen, in diesen Regionen Fuß zu fassen, lassen sich ihre wirtschaftlichen und strategischen Interessen auf Dauer nicht auf einen Nenner bringen. Es ist völlig undenkbar, dass die riesigen Gebiete, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion für das internationale Kapital geöffnet haben, friedlich unter den Großmächten aufgeteilt werden. Bei der Frage, wer die gewaltigen Öl- und Gasvorkommen der kaspischen Region ausbeutet, transportiert und die erforderliche Infrastruktur erstellt, geht es um Milliardenbeträge - die geostrategische Bedeutung der Region im Schnittpunkt Asiens und Europas nicht eingerechnet.

Hinzu kommt, dass sich das Kräfteverhältnis innerhalb der Nato in den vergangenen zehn Jahren grundlegend verändert hat. Deutschland ist mit der Wiedervereinigung wieder zur herausragenden Macht in Europa geworden und hat sich aus einer geopolitischen Grenzlage ins Zentrum Europas bewegt. Europa als ganzes tritt den USA mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und den Bemühungen um eine eigene Verteidigungsidentität immer offener als Herausforderer und Rivale gegenüber.

Die Nato driftet so unaufhaltsam auseinander. Das kommt in den Spannungen über den Kosovo zum Ausdruck. Das Handeln einzelner Politiker mag diesen Prozess beschleunigen oder verlangsamen, aufhalten lässt er sich nicht.

Daraus erschließt sich auch der wirkliche Sinn des Kosovokriegs. Es geht nicht um die bewaffnete Verteidigung der Menschenrechte oder gar um den Schritt zu einer kosmopolitischen Weltbürgergesellschaft, wie die Propagandisten des Krieges behauptet haben. Spätestens die grausige Realität im besetzten Kosovo dürfte dieser Art von Propaganda den Todesstoß versetzt haben. Vielmehr kennzeichnet der Kosovokrieg den Auftakt zu einer ganzen Reihe weiterer Kriege, in denen sich die Spannungen zwischen den Großmächten zwangsläufig verschärfen werden.

Man fühlt sich unweigerlich an den Anfang des Jahrhunderts erinnert. Auch damals führten die Großmächte einen gemeinsamen Feldzug zur "Verteidigung der Zivilisation" - die Niederschlagung des Boxeraufstandes in China. 14 Jahre später fielen sie gegenseitig übereinander her und veranstalteten das bis dahin blutigste Gemetzel der Weltgeschichte.

Ein Gegengewicht gegen das Auseinanderbrechen des atlantischen Bündnisses - nicht der Regierungen, sondern der Völker - kann nur von unten kommen: Durch den Zusammenschluss der europäischen und amerikanischen Arbeiter im gemeinsamen Kampf für eine menschliche, sozialistische Gesellschaft.

Siehe auch:
50 Jahre NATO -Die Spannungen im atlantischen Bündnis nehmen zu
(24. April 1999)
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