Massendemonstration in Prag

Die Fragen von 1989 sind ungelöst

Zum zehnten Jahrestag der Massenkundgebungen, die das Ende der stalinistischen Regierung einleiteten, versammelten sich am vergangenen Freitag rund 80.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz zur größten Demonstration seit jenen Tagen. Auch in anderen Städten der Tschechischen Republik kam es zu Großkundgebungen.

Aufgerufen hatte ein loses Bündnis ehemaliger Studentenführer aus dem Jahr 1989. Unter dem Motto "Danke, geht jetzt" hatte diese Initiative zuvor rund 150.000 Unterschriften unter eine Petition gesammelt, die den Rücktritt von Regierungschef Milos Zeman, seines de facto Koalitionspartners Vaclav Klaus sowie Neuwahlen fordert.

Seit zehn Jahren erlebt die Mehrheit der Bevölkerung eine stetige Verschlechterung ihrer sozialen Lage. Die offizielle Politik und die im Parlament vertretenen Parteien genießen nur noch wenig Glaubwürdigkeit. Die Arbeitslosigkeit, die jetzt 8 Prozent beträgt, wuchs in den vergangenen drei Jahren um das Dreifache und zeigt weiter ansteigende Tendenz. Und man erhält nur ein halbes Jahr Arbeitslosengeld, das darüber hinaus äußerst kläglich ausfällt: drei Monate die Hälfte des letzten Netto-Einkommens, und weitere drei Monate 40 Prozent.

Eine Umfrage des Soziologischen Instituts der Prager Universität ergab, dass 79 Prozent aller Tschechen persönlichen Reichtum für eine Folge von Unehrlichkeit und Betrug halten. Wie überall in den osteuropäischen Ländern ging die Einführung der Marktwirtschaft durch die Förderung einer kriminellen Elite vonstatten. Einer anderen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IVVM zufolge beurteilen nur acht Prozent der Bevölkerung die wirtschaftliche Lage und 11 Prozent die innere Entwicklung des Landes positiv.

Ganz offenkundig war es diese soziale Unzufriedenheit, die sich in der massenhaften Beteiligung an den Demonstrationen vergangenen Freitag niederschlug. Umfragen zufolge unterstützen 56 Prozent aller Tschechen den Aufruf "Danke, geht jetzt", selbst wenn sie ihn gar nicht kennen. Von den "Informierten" sollen ihn 72 Prozent gutheißen.

Doch wie schon 1989 besteht die Gefahr, dass die allgemeine Unzufriedenheit zur Durchsetzung von politischen Veränderungen benutzt wird, die alles nur noch schlimmer machen.

Die Initiatoren des Demonstrationsaufrufes verfügen nach eigenen Angaben über kein Programm und erwägen jetzt erst, sich irgendwie organisieren. Dennoch hat ihr Aufruf einen unverkennbar rechtsgerichteten Einschlag. Sie werfen der Führung des Landes vor, dass sie nicht in der Lage sei, das Land für den EU-Beitritt zu rüsten, und dass die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition nur Wasser auf die Mühlen der Kommunistischen Partei leite, die sich auf dem besten Wege befinde, wieder zur stärksten Partei zu werden.

Auch andere Kräfte versuchen auf dieser Grundlage eine regelrechte Pogromstimmung zu erzeugen. Eine der auflagenstärksten Zeitungen erschien im September mit einem Foto des Ex-Premiers und heutigen (die Regierung stützenden) Oppositionsführers Vaclav Klaus mit der Unterschrift: "Schädlich. Wer beseitigt ihn? Fünf Millionen Kronen Belohnung." Die Prager Polizei konnte darin keinen strafrechtlich relevanten Sachverhalt erkennen.

Die einstigen Studentenführer verweisen auf den jüngsten Bericht der EU-Kommission über die Entwicklung der Tschechischen Republik, in dem der Regierung ein schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. Die EU fordert eine schnellere Umstrukturierung und Privatisierung der Wirtschaft, die beschleunigte Fortsetzung der Preisliberalisierung, eine schnellere Anpassung der Landwirtschaft an die EU-Regeln (sprich Streichung von Subventionen für die Bauern), eine bessere Gesetzgebung für unternehmerische Tätigkeit in zahlreichen Branchen, und anderes mehr. Insgesamt stellt der EU-Bericht eine ungeduldige Mahnung an die tschechische Regierung dar, die eigene Bevölkerung rascher und effektiver anzugreifen.

Dieses Drängen ergibt sich daraus, dass die EU im Interesse ihrer Behauptung auf dem Weltmarkt und aus strategischen Erwägungen heraus ihre Osterweiterung möglichst rasch verwirklichen will, ohne sich jedoch ungelöste soziale Fragen ins Haus zu holen und womöglich noch unkalkulierbare Kosten aufzuhalsen. Nicht nur gegenüber der Tschechischen Republik, auch gegenüber den übrigen Beitrittskandidaten, insbesondere gegenüber Polen, wird in jüngster Zeit die Peitsche geschwungen.

An der Bereitschaft, die tschechische Bevölkerung zu schröpfen, mangelt es den Parteien im Prager Parlament beileibe nicht. Aber die Frage, wie dies bewerkstellig werden und wie man die Bedingungen der EU erfüllen soll, sorgt seit Jahren für eine Dauerkrise der Regierungen. Gegenwärtig versucht Premier Milos Zeman verzweifelt, den Haushalt für das Jahr 2000 durch das Parlament zu bringen. Er warnte bereits, dass ansonsten die großen internationalen Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufen würden. Der bereits mehrfach umgearbeitete Haushalts-Entwurf sieht sehr zum Unwillen der EU nach wie vor ein Defizit in Höhe von 42 Milliarden Kronen, das sind umgerechnet rund 2,3 Milliarden DM vor. Er wird aufgrund zahlreicher Verzögerungen erst im Januar zur Abstimmung kommen und dann möglicherweise abgelehnt werden.

Über die Amtszeit von Zemans Vorgänger Vaclav Klaus, der mit seiner "Demokratischen Bürgerunion" (ODS) von 1992 bis 1997 das Land führte, schrieb der Korrespondent des in Wien erscheinenden "Standard" nach der Bildung der neuen Regierung 1998, er habe "allen thatcheristischen Bekenntnissen zum Trotz schmerzhafte Eingriffe weitgehend vermieden. Mit der Wirtschaftskrise im Rücken müssen nun die Sozialdemokraten das undankbare Geschäft besorgen, von dem vor allem die eigenen Wähler betroffen sein dürften."

Nach den Wahlen vom Juni 1998 hatte die Sozialdemokratische Partei (CSSD), die mit 32 Prozent stärkste Fraktion geworden war, einen sogenannten "Oppositionsvertrag" mit der Demokratischen Bürgerunion (ODS) geschlossen. Darin ist vereinbart, dass die ODS die Minderheitsregierung der CSSD unter Premier Milos Zeman toleriert und im Gegenzug wichtige Posten und Pfründe erhält. Die OSD hat sich auch verpflichtet, keinen Misstrauensantrag zu stellen. Vorausgegangen war diesem Abkommen ein langer Schacher. Zeman und Klaus galten eigentlich als Erzfeinde, und der parteilose Präsident Vaclav Havel war ohnehin gegen ihr Zusammengehen, da er eine Schwächung seiner eigenen Position befürchtete. Es gelang Zeman jedoch nicht, die beiden kleineren bürgerlichen Parteien, die Christdemokraten und die Freiheitsunion, für eine Koalition zu gewinnen, obwohl er letzterer an einem Punkt sogar den Posten des Regierungschefs anbot.

In den anderthalb Jahren ihrer Regierungszeit ist die Unterstützung der CSSD Umfragen zufolge auf knapp über 20 Prozent gesunken. Finanzminister Ivo Svoboda, der für die Ausarbeitung des Haushalts für das Jahr 2000 zuständig war, musste im Juli diesen Jahres wegen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Konkurs seiner Privatfirma zurücktreten. Nach der Veröffentlichung des ungünstigen EU-Berichts trat in jüngster Zeit auch der stellvertretende Premier Egon Lansky zurück.

Die Initiatoren des Aufrufs "Danke, geht jetzt" versuchten, die Massendemonstrationen vom Freitag als Druckmittel auf den Kongress der Bürgerunion (ODS) an den folgenden beiden Tagen zu benutzen: Ihr Vorsitzender Klaus müsse zurücktreten, die ODS aus dem Oppositionsvertrag aussteigen, Neuwahlen in die Wege leiten und "neuen jungen Kräften" Platz machen.

Die Ereignisse vom vergangenen Wochenende in Prag machen deutlich, dass der Teufelskreis "Stalinismus oder Kapitalismus" noch nicht durchbrochen ist. Die Masse der Bevölkerung sieht noch keine andere, darüber hinaus gehende Alternative.

Die alte Kommunistische Partei, die zur selben Zeit tagte wie die ODS, reagiert auf ihre wachsenden Ergebnisse in Umfragen - sie liegt mittlerweile mit über 20 Prozent an der Spitze neben der CSSD -, indem sie sich selbst nach Kräften an den etablierten Politikbetrieb anpasst. Ihr Vorsitzender Miroslav Grebenicek, in alter Manier vom Parteitag wiedergewählt, forderte die Delegierten auf, die Nostalgie für die Zeit vor 1989 endlich abzuschütteln und zu einer modernen demokratischen Partei zu werden.

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