Vor dem SPD-Parteitag in Berlin

Neue Töne in der Außenpolitik

Vom 7. bis 9. Dezember werden die Sozialdemokraten ihren Bundesparteitag in Berlin abhalten. Es ist die erste bundesweite Konferenz seit dem Rücktritt von Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender und Bundesfinanzminister und den verheerenden Wahlniederlagen der SPD im vergangenen Sommer.

Viel war anfangs über die Bedeutung des Parteitags spekuliert worden. In den Tagen, als Lafontaine sein Buch "Mein Herz schlägt links" veröffentlichte und seiner Kritik an Kanzler Schröder und anderen Regierungsmitgliedern freien Lauf ließ, tauchte das Gerücht auf, er werde auf dem Parteitag das Wort ergreifen. In Erinnerung an den Mannheimer Parteitag 1995, als Lafontaine den damals amtierenden Vorsitzenden Rudolf Scharping vom Sockel stieß und die politische Führung der Partei an sich riss, herrschte allgemeine Aufregung im Willy Brandt-Haus. Einige Kommentatoren sprachen bereits von einer drohenden Spaltung der SPD.

Doch je näher der Termin des Parteitags rückte, desto mehr beruhigten sich die Gemüter. Lafontaine hat angekündigt, auf dem Parteitag nicht zu erscheinen und sich auf absehbare Zeit nicht unmittelbar in die Tagespolitik einzumischen. Geübt im Umgang mit Parteikrisen und ein Meister der bürokratischen Manöver, hat der neueingesetzte Generalsekretär Franz Müntefering eine Reihe von Parteitagen auf Landes- und Kreisebene organisiert, um den Mitgliedern eine Möglichkeit zu geben, Dampf abzulassen.

Auf vielen dieser kleinen Parteitage war Kanzler Schröder selbst anwesend, hörte sich die "harsche Kritik der Basis" an, ließ sich als "Genosse der Bosse" titulieren und antwortete väterlich, er nehme die Meinung der Basis sehr ernst, aber zur gegenwärtigen Regierungspolitik gäbe es keine Alternativen. Nun ist die Luft raus aus der Opposition und seit der Kanzler bei dem bankrotten Baukonzern Philipp Holzmann eingegriffen hat, um den Sanierungsplan der Banken zu unterstützen, wird er von vielen Gewerkschaftsfunktionären als "Retter der Arbeitsplätze" gefeiert.

Zwei Dinge springen im Vorfeld des SPD-Parteitags ins Auge. Das erste ist der politische Bankrott der selbsternannten Linken in der SPD, die dem Rechtskurs der Führung nicht einen einzigen ernstzunehmenden Gedanken, geschweige denn eine politische Perspektive entgegenzusetzen haben. Das zweite sind neue Töne in der Außenpolitik. Die Europa-Frage wird gezielt eingesetzt, um den wachsenden sozialen Spannungen und der immer größeren Spaltung der Gesellschaft in arm und reich entgegenzutreten und ein neues "Wir-Gefühl" zu erzeugen. Angesichts der verheerenden Tradition des deutschen Chauvinismus hüllt er sich nun in das Sternenbanner der Europäischen Union. Nicht mehr am deutschen Wesen soll die Welt genesen, sondern am europäischen.

Unter der Parole: "Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse!" mobilisiert die SPD für die "Verteidigung des europäischen Gesellschafts- und Wertesystems". In der Außenpolitik dient diese Perspektive dazu, eine schrittweise Neuorientierung und Lösung aus der engen Bindung an die USA einzuleiten. In der Innenpolitik zielt sie darauf ab, alle gesellschaftlichen Schichten und Klassen hinter den Interessen der herrschenden politischen Kreise zu vereinen.

Ausgerechnet der notorische Rechte im SPD-Vorstand, NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement betonte, die Europa-Frage müsse ins Zentrum des Parteitags gestellt werden und auf dieser Grundlage müsse ein Ruck durch die Partei gehen. Ähnlich wie es John F. Kennedy einst gelungen sei, mit seiner Perspektive der Mondlandung eine ganze Generation zu begeistern, so müsse die SPD die Perspektive Europa zur Grundlage für eine breite Mobilisierung der Bevölkerung zu machen.

Ein Leitantrag des Parteivorstands zur "internationalen Politik am Beginn des 21. Jahrhunderts" steht unter dem Motto: "Verantwortung Europa". Im ersten Absatz wird die Europäische Union als "Friedens- und Zivilisationsmodell" gepriesen und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) betont. "Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten und Mitgestaltung der Weltpolitik verlangen eine gemeinsame Definition und verbesserte Koordination der europäischen Interessen, insbesondere gegenüber den internationalen Sicherheits- und Finanzinstitutionen," heißt es auf der ersten Seite.

Zieht man in Betracht, dass die SPD als Regierungspartei eine wohlbedachte diplomatische Sprache benutzt, so ist unverkennbar, dass trotz Formulierungen wie "partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den USA" die Hervorhebung der europäischen Interessen auf einen wachsenden Konflikt mit der US-Regierung weist.

"Bei Krisenverhütung und -bewältigung" müsse die europäische Union aus "eigener Initiative" handeln und sich daher auch auf "eigene militärische Kapazitäten" stützen können. Die "europäische Identität" müsse innerhalb der Nato verstärkt werden.

Besonders deutlich wird die sicherheitspolitische Abgrenzung gegenüber den USA in der Haltung gegenüber Russland. Während die US-Regierung ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen in Südosteuropa sehr zielstrebig verfolgt und dabei auch in wachsendem Maße einen ernsten Konflikt mit Russland in Kauf nimmt, betont der SPD-Leitantrag die enge Zusammenarbeit mit Russland.

Der Antrag widmet dieser Frage ein eigenes Kapitel, in dem das starke Interesse Deutschlands an einem "ökonomisch und politisch starken, demokratischen Russland" hervorgehoben wird. "Deutschland und seine europäischen Partner müssen nach wie vor bereit sein, gemeinsam mit Russland in den Aufbau der russischen Demokratie und die wirtschaftliche Gesundung des Landes zu investieren."

Die "Partnerschaft mit Russland" müsse "im Interesse der europäischen Sicherheit" auf allen Ebenen verstärkt werden. Bei der Regelung von Konflikten müsse Russland "frühzeitig in den Entscheidungsprozess der gemeinsamen Institutionen einbezogen werden".

Bemerkenswert ist, dass die deutsch-russische Zusammenarbeit nicht nur im "Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität", sondern ausdrücklich auch in der Bekämpfung des Terrorismus genannt wird. Unter genau dieser Bezeichnung, "Kampf gegen Terrorismus", führt das Jelzin-Regime gegenwärtig seinen brutalen Krieg in Tschetschenien.

An keiner Stelle des neunseitigen Antrags wird dieser Krieg kritisiert oder auch nur erwähnt. Während die Bundesregierung am Auseinanderbrechen Jugoslawiens durchaus interessiert war und sich daher am Nato-Bombardement gegen Serbien aktiv beteiligte, will sie ein Auseinanderbrechen Russlands nach Möglichkeit verhindern. Das zeigt erneut wie zynisch die Menschenrechtsfrage eingesetzt wird, wenn es gilt die eigene Großmachtpolitik zu rechtfertigen.

In den Jahrzehnten des Kalten Kriegs waren die Verhältnisse klar und die Führungsrolle der USA im westlichen Bündnis stand außer Frage. Mit der Auflösung der Sowjetunion gerieten die internationalen Beziehungen Anfang der neunziger Jahre stark in Bewegung. Der Konflikt zwischen den führenden Großmächten über Rohstoffe, Absatzmärkte und Einflusssphären nimmt seither ständig zu.

Die Debatte über eine Neubestimmung der deutschen Außenpolitik findet in allen Parteien statt und ist eng mit einer Neuformierung der politischen Lager in Deutschland verbunden. Ausgerechnet die Linken in der SPD spielen dabei eine Vorreiterrolle.

So forderte der Kölner Bundestagsabgeordnete Konrad Gilges bereits während des Kosovokrieges "eine Abkehr vom Militärbündnis Nato und den strategischen Vorstellungen der USA". Er trat für "ein europäisches System gegenseitiger Sicherheit von Wales bis Wladiwostok" ein und warf der Parteiführung vor, dass sie ein solches System nur für wünschenswert und funktionsfähig halte, wenn die Nato darin die entscheidende Rolle spiele. Damit stärke sie "den großen politischen Einfluss der USA auf die europäische Politik". Er räumte ein, dass in einem europäischen Sicherheitssystem "die Bundesrepublik Deutschland dank ihrer wirtschaftlichen Stärke, ihrer Bevölkerungszahl und ihrer geographischen Lage eine entscheidende Rolle spielen" würde, und stellte bedauernd fest: "Diese Aussicht schreckt andere westeuropäischen Staaten, und die Eliten von SPD und Grünen scheuen bisher vor dieser Verantwortung zurück." (Aus "Argumente für die künftige Friedenspolitik der SPD-Linken")

Oskar Lafontaine hat in seinem jüngsten Buch sehr ähnlich argumentiert. Er hat in diesem Zusammenhang auch auf die PDS hingewiesen und mehrmals betont, er habe keinerlei Hemmungen, mit der PDS auch auf Bundesebene eine gemeinsame Regierung zu bilden. Mittlerweile hat die Umorientierung in der Außen- und Sicherheitspolitik auch in anderen politischen Kreisen das Interesse an der PDS geweckt. Als einzige Partei in Deutschland stand sie im Kalten Krieg auf der anderen Seite und verfügt traditionell über gute Beziehungen zu Russland. Ihre Parlamentsfraktion kündigte bereits ein Thesenpapier zur Entwicklung einer deutschen Russlandpolitik an.

Aber auch in ausgesprochen konservativen Kreisen gewinnt die Ost-Orientierung an Gewicht. Unter der Überschrift "Großbaustelle Europa - vom Atlantik bis zum Ural" berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 5. Europa-Forum der Quandt-Stiftung in Berlin. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Frage: "Wohin wird sich Russland orientieren?" Während der amerikanische Harvard-Professor Richard Pipes auf diesem Forum vor Wissenschaftlern, Industriellen und Politikern davor warnte, zu große Hoffnungen auf Russland zu setzen, und die "zentrifugalen Kräfte" der früheren Sowjetunion beschrieb, betonten deutsche Sprecher die "dringend notwendige Osterweiterung" der Europäischen Union. Der Artikel gibt den Standpunkt des früheren Beraters von Kanzler Kohl, Horst Teltschik, wieder, der auch ein "intimer Kenner Südosteuropas und der GUS-Staaten" sei. Teltschik wähne "Europa in einer Phase des Glücks und hätte die GUS-Staaten am liebsten mit dabei".

Auch von russischen Nationalisten wird die Zusammenarbeit mit der EU und speziell Deutschland hervorgehoben. Während eines Besuchs Mitte November in Berlin betonte KP-Chef Sjuganow in mehreren Gesprächen mit hochrangigen Politikern, Regierungsvertretern und Wirtschaftsfachleuten, Deutschland habe eine "herausgehobene Bedeutung für die russische Politik und Wirtschaft".

Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Russland versicherte Sjuganow, er werde im Falle einer Regierungsbeteiligung alles tun, damit das deutsch-russische Verhältnis gestärkt werde. Deutschland müsse eine "stärkere Rolle in der Weltpolitik spielen und eine größere Unabhängigkeit der Europäer von den Vereinigten Staaten anstreben".

Während die Verschiebung der außenpolitischen Parameter noch heftig debattiert wird, werden auf politischer und militärischer Ebene bereits zügig Fakten geschaffen. In dem halben Jahr seit Beendigung des Nato-Bombardements gegen Serbien wurde der Aufbau einer eigenständigen europäischen Armee mit großer Intensität vorangetrieben. Nach dem anglofranzösischen Gipfeltreffen in London vor einer Woche wurden auf dem deutsch-französischen Routinetreffen vor wenigen Tagen in Paris bekannt gegeben, dass sich Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien auf eine gemeinsame Militärstruktur der Europäischen Union geeinigt haben. Bereits auf dem kommenden EU-Gipfel in Helsinki soll die bisher noch geheimgehaltene Erklärung unter der Überschrift "Militärische Organe, Planung und operative Führung durch die Europäische Union" verabschiedet werden.

Deutschland bildet dabei nicht nur die treibende Kraft im Zusammenschluss der europäischen Rüstungsindustrie, wie bei der Fusion von Dasa und der französischen Aerospatiale Matra S.A. zur European Aeronautic, Defense and Space Company (EADS), sondern macht sich auch für die Verlängerung der Achse Paris - Berlin Richtung Moskau stark. Erinnerungen an imperiale Strategien für "mehr Lebensraum im Osten" versucht die rot-grüne Regierung dabei nach Kräften zu vermeiden.

Lafontaine wird auf dem kommenden Berliner Parteitag der SPD nicht anwesend sein. Er hat aber für zwei Entwicklungen das Stichwort gegeben: Die Delegierten werden häufiger und langatmiger als früher die "soziale Gerechtigkeit" beschwören, während praktisch alles beim alten bleibt. Eichels Sparhaushalt, der die bestehende Ungerechtigkeit weiter verschärft, wurde ohne nennenswerten Widerstand im Parlament verabschiedet. Erfolgreicher ist Lafontaine mit seiner Forderung nach einer Distanzierung von den USA: Sie spielt eine Schlüsselrolle, um einen weiteren Rechtsruck der Partei durchzusetzen.

Siehe auch:
Die Krise der SPD
(20. November 1999)
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