Krise in der Europäischen Union

Der gescheiterte Mißtrauensantrag des Europaparlaments

Nur zwei Wochen nach der Einführung des Euro als gemeinsame europäische Währung hat eine schwere Krise die Institutionen der Europäischen Union erschüttert.

Ein Mißtrauensantrag gegen die Brüsseler EU-Kommission wurde am 14. Januar im Europäischen Parlament mit 232 gegen 293 Stimmen nur knapp verworfen. 42 Prozent der anwesenden Abgeordneten stimmten dafür. Das ist zwar weit weniger als die Zweidrittelmehrheit, die nötig gewesen wäre, um die Kommission zum Rücktritt zu zwingen. Dennoch handelt es sich um die größte Stimmenzahl, die ein Mißtrauensantrag gegen die Kommission in der bisherigen Geschichte des Parlaments auf sich vereinte.

Lange Zeit hatte es sogar so ausgesehen, als könnte der Antrag Erfolg haben. Der Abstimmung waren tagelange Auseinandersetzungen, Intrigen und Manöver hinter den Kulissen vorausgegangen, bei denen die Gegensätze zwischen den Parteien, nationale Interessen und taktische Schachzüge derart heftig aufeinanderprallten, daß niemand mehr ein Ergebnis vorauszusagen wagte. Kommentatoren sprachen hinterher von einem "absurden Theater", das "das Fassungsvermögen auch eines strapazierfähigen gesunden Menschenverstandes" übersteige.

Entwickelt hatte sich die Konfrontation zwischen Parlament und Kommission seit vergangenem Dezember, als das Parlament der Kommission überraschend die Entlastung für den Haushalt 1996 verweigerte. Der Grund waren zahlreiche Korruptionsfälle, die im Laufe des Jahres publik geworden waren. Praktisch hätte die Verweigerung der Entlastung wenig Bedeutung gehabt. Das Europaparlament verfügt zwar über alle materiellen Privilegien, aber über kaum eines der Rechte eines nationalen Parlaments.

Doch nun schaukelte sich der Konflikt hoch. Die Kommission führte dem Parlament immer wieder seine Ohnmacht vor Augen, indem sie jede Kritik arrogant zurückwies, den Abgeordneten Einblick in wichtige Unterlagen verwehrte und schließlich einen Beamten fristlos vom Dienst suspendierte, weil er den Abgeordneten Material über finanzielle Unregelmäßigkeiten zugespielt hatte.

Kommissionspräsident Santer, ein Christdemokrat aus Luxemburg, forderte das Parlament heraus, der Kommission doch offen das Mißtrauen auszusprechen, anstatt die Haushaltsdebatte dafür zu mißbrauchen. Die sozialdemokratische Fraktion, die größte im Parlament, formulierte daraufhin einen Mißtrauensantrag. Sie tat dies allerdings nicht in der Absicht, die Kommission zu stürzen, sondern ihr den Rücken zu stärken. Sie wollte, so der Plan, den Antrag stellen und dann gegen den eigenen Antrag stimmen, um der Kommission auf diese Weise ihr Vertrauen auszusprechen.

Ermutigt durch diesen Schritt, formulierten die Grünen, die Liberalen und die Christdemokraten nun ihrerseits einen Antrag, der den Rücktritt der Französin Edith Cresson und des Spaniers Manuel Marin forderte, zweier Kommissare, die besonders in den Geruch der Vetternwirtschaft und finanzieller Unregelmäßigkeiten geraten waren. Das wiederum lehnte die Mehrheit der Sozialdemokraten ab, gehören doch Cresson und Marin der jeweiligen Sozialistischen Partei ihres Landes an.

Formal hätte ein Beschluß gegen Cresson und Marin wenig bewirkt, da das Parlament nur die Kommission als Ganze absetzen kann, nicht aber einzelne Kommissare, deren Ernennung den Regierungen der einzelnen Länder vorbehalten ist. Aber nun trat wiederum Santer auf den Plan und drohte mit Rücktritt, falls der Antrag gegen Cresson und Marin angenommen werde.

In hektischen Verhandlungen wurde schließlich ein Kompromiß ausgehandelt. Das Parlament setzte mit großer Mehrheit einen "Ausschuß der Weisen" ein, der die Unregelmäßigkeiten in der Kommission untersuchen soll. Faktisch entmachtete es sich damit selbst, wie einige Abgeordnete erbittert bemerkten, gehört doch die Kontrolle über das Finanzgebaren der Kommission zu den wenigen Aufgaben, für die es überhaupt zuständig ist.

Der Antrag gegen Cresson und Marin wurde mit 357 gegen 165 Stimmen abgeschmettert - was praktisch einem Vertrauensbeweis für die beiden Kommissare gleichkam, auf die sich zuvor die Wut der Abgeordneten konzentriert hatte. Neben fast allen Sozialdemokraten lehnten ihn mit Rücksicht auf Santer auch viele Christdemokraten ab.

Erst als der Mißtrauensantrag gegen die gesamte Kommission zur Abstimmung kam, machten zahlreiche Abgeordnete ihrer Empörung einmal Luft. Inzwischen richtete sich das Abstimmungsverhalten allerdings nicht mehr nach der Fraktions-, sondern nach der nationalen Zugehörigkeit. Fast alle deutschen Abgeordneten votierten gegen die Kommission - auch die Grünen und die Sozialdemokraten. Sie stellten sich damit in Gegensatz zu Kanzler Schröder (SPD) und Außenminister Fischer (Grüne), die öffentlich immer wieder beteuert hatten, daß sie auf keinen Fall einen Sturz der Kommission wollten. Die spanischen Abgeordneten - Sozialisten und Konservative - stellten sich dagegen fast geschlossen hinter die Kommission. Auch von den anderen südeuropäischen Ländern sowie von Großbritannien und Irland wurde sie mehrheitlich unterstützt.

Was vielen als Wahnsinn erscheint, hat bei genauerem Hinsehen Methode. Die Eskalation des Konflikts zwischen Parlament und Kommission fällt nicht zufällig mit der Einführung des Euro zusammen. Die Verlagerung zahlreicher Machtbefugnisse von der nationalen auf die europäische Ebene, die mit der Währungsunion einhergeht, verlangt nach neuen politischen Strukturen.

"Mit dem Beginn des Euro hat die Gemeinschaft einen Grad des Zusammenwachsens erreicht," kommentiert dies der Spiegel, "der nicht mehr mit einer schleichenden, scheinbar unpolitischen Konzentration von Macht gesteuert werden kann." Ziel müsse "ein neuer institutioneller Rahmen für die Führung der Weltmacht Europa" sein.

Vor allem die deutsche Regierung strebt deshalb eine gründliche Neuordnung der europäischen Institutionen an. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen will sie ihren politischen Einfluß auf die EU vergrößern und verlangt deshalb die Beseitigung des Einstimmigkeitsprinzips bei wichtigen Entscheidungen. Zum anderen will sie finanziell entlastet werden und fordert eine Senkung des deutschen Nettobeitrags.

Die Europäische Kommission in ihrer jetzigen Form steht ihr dabei im Wege. Sie hat sich seit ihrer Entstehung vor vierzig Jahren zu einer selbstherrlichen Bürokratie mit über 20.000 Beschäftigten entwickelt, die weitgehend ihren eigenen Regeln gehorcht. Formal untersteht sie zwar der Weisungsbefugnis des Europäischen Rats und der Ministerräte, die aus den Regierungschefs, bzw. den Fachministern der einzelnen Mitgliedsländer bestehen. Da diese aber nur einstimmig entscheiden können, schaltet und waltet die Kommission meist nach eigenem Gutdünken. Sie verwaltet einen jährlichen Haushalt von 160 Milliarden Mark, den sie zu 80 Prozent in Form von Subventionen an die Landwirtschaft und strukturschwache Gebiete ausschüttet. Dabei gedeihen zwangsläufig Korruption und Günstlingswirtschaft.

Solange es darum ging, die Voraussetzungen für den Europäischen Binnenmarkt und die Währungsunion zu schaffen, hat Deutschland diesen Zustand hingenommen, um kleinere und wirtschaftlich schwächere Länder nicht abzuschrecken. "In der Vergangenheit sind die notwendigen Kompromisse häufig zustande gekommen, weil die Deutschen sie bezahlt haben," erklärte dazu Bundeskanzler Schröder in einem Spiegel -Interview. "Diese Politik ist an ihr Ende gekommen."

Dabei lag es nicht im Interesse der deutschen Regierung, die Kommission zu stürzen. Sie sollte nur in die Schranken gewiesen und gefügig gemacht werden. Ein Rücktritt der Kommission hätte die EU während der sechsmonatlichen deutschen Präsidentschaft, die im Januar begonnen hat, lahmgelegt und die deutschen Reformpläne blockiert. Deshalb stellten sich Kanzler und Außenminister öffentlich hinter die Kommission, während die deutschen Europaabgeordneten, allen voran die Grünen, nahezu geschlossen gegen sie votierten. Der Widerspruch war nur scheinbar. "Die Krise hat auch ihr Gutes," bemerkte hinterher der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Verheugen. "Wer die Politische Union in Europa will, muß auch diese Konflikte wollen."

Bezeichnend für den Inhalt des Konflikts ist auch die völlig unterschiedliche Berichterstattung in der Presse der betroffenen Länder. Die deutsche Presse konzentrierte sich auf die Korruptionsaffären, malte sie in allen Details aus und stellte das Mißtrauensvotum als Versuch des Parlaments dar, eine demokratische Kontrolle über die Kommission zu errichten.

Die spanische Presse dagegen erwähnte die Korruptionsvorwürfe kaum und stellte den Mißtrauensantrag als deutsche Verschwörung dar. Es handle sich um einen Versuch der nettozahlenden Mitgliedsländer, so El Pais,"die Kommission als Verbündeten Spaniens im Vorfeld der Verhandlungen über den zukünftigen EU-Finanzschlüssel zu schwächen". Ein anderer Kommentar bezeichnete die Affäre als "Aufwärmrunde" für die bevorstehende Debatte um die EU-Finanzierung: Wenn es gelänge, die Kommission als korrupt darzustellen, würden die reichen EU-Mitglieder ihr Vorhaben um so leichter verwirklichen können, ihre Beitragszahlungen zu verringern und die Fonds für die ärmeren Länder in Südeuropa zu kürzen.

Eines macht die Affäre auf alle Fälle deutlich: Mit der Einführung des Euro hat in Europa keine Epoche des harmonischen Zusammenlebens eingesetzt. Die Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht in den Händen der mächtigsten Konzerne und Regierungen verschärft die nationalen und regionalen Gegensätze und ruft erbitterte Verteilungskämpfe hervor.

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