Sydney Filmfestival 1999

Ein Werk von Authentizität, künstlerischer Substanz und Optimismus

Es beginnt heute: Ein Film von Bertrand Tavernier mit den Hauptdarstellern Philippe Torreton und Maria Pitarresi

Einer der Höhepunkte des Sydney Filmfestivals war für den Schreiber dieser Zeilen die Vorführung von Bertrand Taverniers Film Es beginnt heute. Bereits Anfang des Jahres ist anläßlich des Berliner Filmfestivals in der World Socialist Web Site(siehe den Hyperlink unten) eine Filmkritik erschienen und Es beginnt heute ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Film.

Die Kommentare der früheren Filmkritik sollen hier nicht wiederholt werden, ich möchte jedoch betonen, daß Tavernier in seinem Film seine echten und tief empfundenen Gefühle angesichts der Situation, mit der die arbeitende Bevölkerung heute konfrontiert ist - in diesem Fall Lehrer und Sozialarbeiter in Hernaing in Nordfrankreich - in ein Werk beeindruckender Authentizität, künstlerischer Substanz und Optimismus umgesetzt hat.

Hauptfigur des Films ist Daniel Lefebvre (brillant gespielt von Philippe Torreton), der Lehrer und Rektor einer Vorschule in einer Bergarbeiterstadt in Nordfrankreich. Die Arbeitslosenrate liegt bei 30 Prozent und die Stadt ist durch die Schließung der Kohlenminen schwer mitgenommen. Die Einwohner versuchen unter diesen sehr schwierigen Bedingungen zu überleben und ihre Familien durchzubringen. Der Film erzählt die Geschichte von Lefebvre und seinen Lehrerkollegen und ihrem Versuch, die sozialen Folgen, die diese Armut für die Kinder des Ortes und die Gemeinschaft hat, zu konfrontieren.

Nach einem tragischen Vorfall in der Vorschule beschließt Lefebvre allein eine Kampagne gegen die örtlichen Behörden, darunter auch gegen den Bürgermeister, Mitglied der Kommunistischen Partei, zu führen, um gegen die Stromabsperrungen bei armen Mietern, den Mangel an Sozialarbeitern, Personal im Gesundheitswesen und weitere Einrichtungen in der Gegend zu protestieren. Lefebvre ist ein empfindsamer und doch entschlossener Mann und stößt auf eine Wand bürokratischer Opposition, doch es gelingt ihm, die Unterstützung der Eltern und schließlich auch einiger Sozialarbeiter zu gewinnen. Doch während Lefebvre diesen Kampf führt, ist sein eigenes Leben ein einziges Durcheinander. Er hat Schwierigkeiten mit dem Sohn seiner Freundin zu kommunizieren; sein Vater, ein pensionierter Bergarbeiter stirbt an einem Lungenemphysem, und die Behörden des Bildungsministeriums ziehen die Fäden im Hintergrund, um Lefebvre auf die konforme Linie zurückzubringen.

Natürlich kann es bei einem solchen Charakterportrait und angesichts einer Gemeinschaft, die versucht eine Vielzahl sozialer Probleme zu lösen, kein Happy End geben. Aber indem Tavernier diese Realität ehrlich, genau und mit wacher Einfühlsamkeit dramatisiert, gibt er all jenen Hoffnung, die entschlossen sind, die Situation, mit der sie konfrontiert sind, zu verändern. Der Film, der die Wärme und Zuneigung ausstrahlt, die Tavernier und all seine Darsteller für diese Charaktere empfinden, ist ein wirkliches Gegengift für die endlosen Behauptungen von Medien und Regierungen, daß die Betroffenen selbst die Schuld und Verantwortung für die Armut trügen.

Es ist eine schwierige Aufgabe, einen poetischen und emotional engagierten Film über diese Themen zu produzieren, ohne Predigten zu halten bzw. moralische Vorhaltungen oder Zugeständnisse an bestehende Machtverhältnisse zu machen. In der heutigen Zeit gibt es nur wenige, die sich dieser Herausforderung stellen. Taverniers Entschlossenheit, einen solchen Film zu produzieren, ist ein Akt, der Mut und Menschlichkeit beweist, und ein Zeugnis seiner großen künstlerischen Fähigkeiten.

Betrand Tavernier wurde 1941 in Lyon, Frankreich, geboren und begann seine große Karriere in der Filmindustrie als Filmkritiker für die Filmzeitschriften Positif und Cahier du Cinema. Nach einer kurzen Zeit als Hilfsregisseur von Jean-Pierre Melville wurde Tavernier Presseagent, der mit einer breiten Palette von Filmemachern zusammenarbeitete - angefangen von den Hollywoodgrößen bis zu Joseph Losey, Stanley Kubrick und vielen europäischen Regisseuren. Seit dem gefeierten Film Uhrmacher von St. Paul, seinem ersten Spielfilm von 1973, hat Tavernier historische Dramen, schwarze Komödien, introspektive Endzeitdramen und eine interessante Reihe von Dokumentarfilmen gedreht.

Die Filme Leben und nichts anderes(1989) mit Philippe Noiret als Hauptdarsteller und Captaine Conan(1996) mit Phillippe Torrenton zeigten die französischen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg. Diese eindrucksvollen Antikriegsfilme fanden bei den Kritikern Anerkennung und erhielten mehrere internationale Auszeichnungen für die Schauspieler und Tavernier als Regisseur.

Der Film Capitaine Conan,der auf dem Balkan spielt, ist ein komplexer und tief psychologischer Film über ein Gruppe französischer Soldaten, die auch nach der formalen Beendigung des Kriegs im November 1918 hinter den feindlichen Kampflinien kämpft, und der internen Militärpolitik, die ihr Schicksal besiegelt. Im Mittelpunkt des Films Leben und nichts anderes steht ein französischer Offizier, der die Aufgabe hat, nach dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs die Toten und Vermißten zu finden. Der Film zeigt seine Beziehung zu verzweifelten Angehörigen und Familien vermißter Soldaten und die verzweifelten jämmerlichen Versuche eines Offizierskollegen und der lokalen Behörden, einen geeigneten Leichnam für ein Denkmal für den Unbekannten Soldaten zu finden.

Taverniers international erfolgreichster Film war Um Mitternacht(1986). Er ist den Jazzmusikern Bud Powell und Lester Young gewidmet und die Freundschaft zwischen Bud Powell und dem französischen Illustrator Francis Paudras hat Tavernier zu diesem Film inspiriert. Der Film, der den schwarzen Musikern Tribut zollt, die in den späten 50er Jahren in Paris lebten und auftraten, ist zweifellos der beste der wenigen Filme, die über Jazzmusiker gemacht wurden. Der Film erhielt eine Oskarnominierung für den Hauptdarsteller Dexter Gordon.

Vor der Veröffentlichung von Auf offener Straße, einem Filmdrama über ein Polizeidrogendezernat, im Jahr 1992, hatten Taverniers Filme im allgemeinen introspektiven Charakter, an die er fast mit den Gefühlen eines Malers heranging und sie handelten häufig von alten Menschen. Filme wie Sonntag auf dem Lande(1984), Leben und nichts anderes und Daddy Nostalgie(1990) zählen zu dieser Filmkategorie.

Aber auch Taverniers Science-Fiction-Produktionen - wie zum Beispiel Der gekaufte Tod(1980) mit den Hauptdarstellern Harvey Keitel, Romy Schneider und Max von Sydow über eine Zukunftsgesellschaft, in der Tod zur neuen Pornografie wird - oder das historische Komödienabenteuer D'Artagnans Tochter(1994), zeigten eine neue Herangehensweise. Unabhängig vom jeweiligen Genre war jeder der Filme durchdrungen von der Entschlossenheit, die gängigen Klischees, Stil oder Metaphorik des jeweiligen Genres zu vermeiden. Und das große Mitgefühl, das Tavernier stets für seine Charaktere empfindet, ist weder allzu süß noch emotional überzogen, eine Herangehensweise, die gemessen am Standard der heutzutage produzierten Filme sehr selten anzutreffen ist.

Tavernier hat auch eine ganze Reihe provokativer Dokumentarfilme produziert. Dazu zählen die Untersuchung des Lebens des französischen surrealistischen Schriftstellers und Dichters Philippe Soupault, der Film Mississippi Blues(1983) mit einem Überblick über die Musik in Amerikas Süden, Krieg ohne Namen(1991), ein Bericht über den Krieg in Algerien und der kürzliche erschienene Film Jenseits des Stadtrings, ein Film, der sich mit den Lebensbedingungen der armen Immigranten in Paris auseinandersetzt.

Leider werden die vielen Werke von Tavernier in Australien sehr selten gezeigt. Die Kontrolle, die Hollywood über das Kino und die Filmvertriebsnetze ausübt, sorgt dafür, daß die neuesten Kinohits und andere gedankenlose Laufbandproduktionen allgemein dominieren. Videoläden sind keineswegs besser. Man findet dort nicht einmal ein Viertel von Taverniers Filmen, und auch diese sind nur in ganz wenigen spezialisierten Videoläden erhältlich. In Australien haben mitunter diejenigen Glück, die das Fernsehprogramm genau verfolgen und ihren Videorekorder bereithalten, denn gelegentlich werden im staatlichen Sender Special Broadcasting Services Filme von Tavernier ausgestrahlt.

Obwohl Tavernier selbst am Sydney Filmfestival teilnahm, zeigten die Organisatoren während dieses 12tägigen Ereignisses lediglich einen seiner Filme. Es bleibt zu hoffen, daß irgend jemand dieses Versehen bemerkt und in naher Zukunft eine größere Retrospektive der Werke dieses ernsthaften Regisseurs machen wird.

Die australischen Leser der World Socialist Web Site haben das Glück, daß Taverniers Es beginnt heute ab 26. August im australischen Kino zu sehen sein wird. Sollte der Film in dem Teil der Welt gezeigt werden, wo der Leser dieser Zeilen zu Hause ist, sollte er die Gelegenheit unbedingt wahrnehmen und sich diesen Film ansehen.

Siehe auch:
Ein Interview mit Bertrand Tavernier
(31. Juli 1999)
49. Berlinale - Das Neuste von Tavernier und ein Film aus der Türkei
( 10. März 1999)
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