Russland führt Luftangriffe gegen Tschetschenien

Russische Truppen begannen in der vorigen Woche mit der Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Von vielen Seiten werden die Luftangriffe als Vorbereitung für den Einmarsch russischer Truppenverbände in die abtrünnige Republik und als Mittel zur Einschüchterung der dortigen Bevölkerung angesehen. Die Eskalation der Kriegshandlungen im Nordkaukasus wird von den selben Kräften im Kreml vorangetrieben, die in der Ausrufung eines Ausnahmezustandes die einzige Möglichkeit sehen, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in Russland aufrechtzuerhalten.

Als die Kampfhandlungen gegen die islamistischen Separatisten in Dagestan begannen, wurden von russischer Seite Luftschläge gegen tschetschenische Ziele geführt, die als Stützpunkte der Truppen von Schamil Bassajew und Abu Chattab angesehen werden. Nach den Bombenexplosionen in Moskau und Wolgodonsk erklärte Premierminister Putin, dass ein "Sicherheitskorridor" um Tschetschenien gezogen werden müsse, begleitet von punktuellen Angriffen auf Schlüsselstellungen der Separatisten.

Am Donnerstag, den 23. September, wurde diese Taktik in die Tat umgesetzt und eine erste Serie von Raketenangriffen auf Grosny durchgeführt. Ziel der ersten Bombardierungen war der Flughafen von Grosny "Scheich Mansur", der zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt. Dabei wurde ein am Boden stehendes Transportflugzeug An-2 zerstört und dessen Flugzeugmechaniker getötet.

Die Luftangriffe wurden den ganzen Tag fortgesetzt. Zum Schluss waren die Luftüberwachungsanlage und die Flugzeuganlegeplätze auf dem Flughafen zerstört und weiterhin Lagerhallen und Munitionsdepots.

Die Angriffe wurden auch am nächsten Tag fortgesetzt und konzentrierten sich vorwiegend auf den Stadtteil Oktjabrsky, der schon seit einigen Monaten von der islamistischen Opposition kontrolliert wird. Dabei wurden Treibstofflager und die Ölraffinerie von Grosny bombardiert, die sich im Nordwesten der Stadt befindet und die sich nach Angaben russischer Quellen unter der Kontrolle Bassajews befinden soll. Die Raffinerie geriet in Brand und hüllte ganz Grosny in eine Rauchwolke.

Entgegen den Erklärungen der russischen Führung, dass die angegriffenen Ziele nur in Zusammenhang mit den Terroristen stünden und die Zivilbevölkerung in keinem Fall betroffen wäre, berichten tschetschenische Vertreter, dass russische Luftschläge gegen "friedliche Dörfer" geflogen worden seien. So seien die Ortschafen Scholkowskoje, Nashai-Jurtowskoje und Scharoiskoje angegriffen worden sowie ein weiteres Dorf drei Kilometer von Grosny entfernt.

Vorläufigen Angaben tschetschenischer Seite zufolge seien bisher über 200 Menschen getötet worden. So teilte der Staatssekretär Tschetscheniens Chutschan Achmadow mit, dass die Situation in Grosny zusätzlich durch 30.000 Flüchtlinge aus den Grenzregionen erschwert werde. Dort führt die russische Seite konzentrierte Angriffe gegen die Rebellen. "Wegen der Blockade der Republik haben wir keine Mittel, ihnen zu helfen", erklärte er.

Auch der Flüchtlingsstrom in die umliegenden Republiken wächst. So wird im benachbarten Inguschetien bereits von einer humanitären Katastrophe gesprochen. Dorthin sind mittlerweile über 50.000 Menschen geflohen. Sollten die Kampfhandlungen fortgesetzt werden, wird mit über 200.000 Flüchtlingen gerechnet. Das entspricht der Gesamtzahl der Einwohner Inguschetiens.

Die tschetschenische Führung strebt eine möglichst schnelle Beilegung des Konfliktes an und warnt davor, das Feuer zu eröffnen, um nicht eine noch schlimmere "Situation heraufzubeschwören". Auf einer gemeinsamen Sitzung des tschetschenischen Parlaments, der Regierung und des Scharia-Komitees der Regierung wurde ein Verteidigungskomitee gegründet und der Ausnahmezustand über die Republik verhängt. Des Weiteren wurde ein Verteidigungsplan für die Hauptstadt "für den Fall einer Aggression Russlands" ausgearbeitet aber auch "spezielle Maßnahmen für die Fortsetzung der Luftangriffe und des Artilleriebeschusses tschetschenischer Städte und Dörfer".

Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow rief dazu auf, "die Probleme am Verhandlungstisch zu lösen und, wenn nötig, unter Hinzuziehung einer dritten Seite, internationaler Beobachter". Er beabsichtigt an dem für den 27. September anberaumten Treffen der Führer der Nordkaukasusregion in Naltschik, der Hauptstadt Kabardino-Balkariens, teilzunehmen. Dort werden die Oberhäupter Nordossetiens, Inguschetiens, Tschetscheniens, Vertreter Dagestans, der Präsident Kabardino-Balkariens und der Gouverneur der südrussischen Region Krasnodar anwesend sein.

Die weitere Anspannung der Beziehungen mit Tschetschenien wird von einer massiven Kampagne seitens offizieller russischer Politiker betrieben, die von den russischen Massenmedien unterstützt wird. Innenminister W. Ruschailo erklärte beispielsweise: "Erstmals in der Geschichte Russlands haben Verbrecher die Kontrolle über eines der Föderationssubjekte errichtet und haben mit massiver ausländischer Unterstützung eine subversive Tätigkeit in Russland entwickelt." "Ihr Ziel besteht darin", fährt er fort, "die wichtigste geostrategische Region des Landes abzutrennen und eine kriminelle Enklave zu schaffen, wo ungehindert internationale Terroristen ausgebildet werden können. Diese werden ihre Operationen auf die ganze Welt ausweiten, Waffen und Drogen herstellen und verbreiten, einen Hort für den Menschenhandel schaffen und großangelegte Finanzoperationen organisieren."

Putin erklärte mit dem ihm eigenen Sarkasmus, dass "die Banditen dort verfolgt werden, wo sie sich befinden". In der kasachischen Hauptstadt Astana sagte er, wenn es nötig ist und wir sie "auf der Toilette erwischen, werden wir sie auch dort ertränken".

An den Grenzen zu Tschetschenien ist es mittlerweile zu einer Konzentration von Truppen gekommen, die mit jener kurz vor dem Einmarsch in Grosny während des damaligen Krieges von 1995 vergleichbar ist. In den vergangenen Tagen sind in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, Truppenteile der Moskauer, der Leningrader Region und aus dem Ural eingetroffen, die um Tschetschenien zusammengezogen werden. Als Vortrupp wird die Infanterieeinheit der Nordmeerflotte eingesetzt. Weitere drei Infanterieeinheiten werden noch zusammengestellt.

Wie die Zeitung Sewodnja schreibt, ist die "Haltung 50.000 Mann starker Verbände über eine längere Zeit in höchster Kampfbereitschaft für Russland nicht tragbar. Vom materiellen Standpunkt ist ein Angriff billiger - aber natürlich nur, wenn die Leute auch kämpfen können."

Viele russische Zeitungen schreiben, dass die Militärs mit ihrem Vorgehen die Erfahrungen der NATO im Krieg gegen Jugoslawien kopieren. Den Worten der Zeitung Iswestja zufolge "werden Ziele bombardiert, die direkt oder indirekt mit der Infrastruktur der Truppen von Bassajew und Chattab zusammenhängen." "Im Grunde ist das eine methodische Zerstörung alles dessen, was der Durchführung einer Sonderoperation theoretisch im Wege stehen könnte... Diese Taktik ist fast eine vollständige Kopie der Methoden, die von den NATO-Ländern gegen Jugoslawien angewandt wurden", fährt die Zeitung fort.

Diese und andere Einschätzungen dienen insbesondere dazu, die Eskalation des russischen Militarismus mit der "Autorität" der NATO abzudecken und den westlichen Regierungen die Argumentationsgrundlage für eine eventuelle Verurteilung der russischen Bomben auf Tschetschenien zu entziehen.

Diese haben wie die amerikanische Außenministerin Albright Russland inzwischen davor gewarnt, eine Eskalation der Situation nicht zuzulassen. Obwohl ein "Friedenseinsatz" in Russland ähnlich wie in Jugoslawien bisher ausgeschlossen ist, sind sich die herrschenden Kreise in Washington und Moskau sehr wohl über die tiefe Krise des Kremls und der sich daraus ergebenden Einflussmöglichkeiten in der Kaukasusregion im Klaren. Stimmen in den westlichen Medien, die zumindest Verhandlungen mit Russland fordern, werden immer lauter.

Mit dem Angriff auf die Erdölraffinerie von Grosny ist deutlich geworden, dass Russland mit allen Mitteln versucht, die geostrategisch wichtige Region unter seiner Kontrolle zu behalten. Tschetschenien ist nun nicht mehr in der Lage die lukrative Erdölverarbeitung von 835.000 Tonnen (1998) aus seinen eigenen 1500 Quellen und von 120.000 Tonnen, die jährlich aus der russischen Pipeline von Aserbaidshan nach Russland abgezweigt wurden, zu bewältigen.

Internationale Konsortien setzen seit dem Dagestankonflikt immer weniger auf die russische Karte, da jetzt auch die im Bau befindliche Pipeline durch Dagestan unter Umgehung Tschetscheniens im Mittelpunkt eines neuen Konfliktherdes steht und Russland wegen der Blockade der Tschetschenen schon jetzt nicht mehr in der Lage ist, verschiedenen Lieferverpflichtungen nachzukommen. Die Chancen Georgiens, die aserbaidschanischen Öllieferungen zu übernehmen, sind enorm angestiegen.

In diesem Zusammenhang müssen die innenpolitischen Vorbereitungen auf einen Kriegseinsatz gesehen werden. Meldungen über regelrechte Pogromstimmungen, die gezielt gegen Kaukasier und vor allem Tschetschenen geschürt werden, gingen mittlerweile um die ganze Welt. Willkürlich werden Dunkelhäutige, ob einfache Arbeiter oder Kleinunternehmer, auf den Straßen von der Polizei verhaftet und nicht selten brutal zusammengeschlagen. Hauptinitiator ist Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow, der als Ordnungsmann für die kommenden Dumawahlen kandidiert.

In den Medien wird die notwendige Begleitmusik für das Säbelrasseln des Kremls geliefert. Ständig werden Greueltaten kaukasischer Banden an russischen Zivilisten und Soldaten gezeigt, während mit keiner Silbe erwähnt wird, dass die tschetschenische Zivilbevölkerung die Hauptlast der Angriffe zu tragen hat.

Weiterhin verabschiedete die Duma am 24. September ein Gesetz, das dem Geheimdienst (FSB) weitere Rechte einräumt. Demnach hat der FSB erweiterte Vollmachten bei der Besetzung von Grundstücken und Häusern, bei der Durchsuchung von Transportmitteln; er kann die Bewegungsfreiheit von Bürgern bei Bedarf einschränken oder sie zwingen, sich in Hausarrest zu begeben oder ihre Grundstücke und Häuser dem FSB zu überlassen. Dieses Gesetz wurde einstimmig von 305 Abgeordneten angenommen.

Trotz aller Erklärungen, dass keine großangelegten Militäraktionen in Tschetschenien vorgesehen seien, ist ein Einmarsch äußerst wahrscheinlich. Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen und der andauernden Finanzskandale über Verbindungen von Kreml und Mafia nutzt dieser alle Möglichkeiten, durch die Schaffung einer Atmosphäre von Angst, Einschüchterung und eines Notstandes die Kontrolle über die Lage im Lande in den eigenen Händen zu behalten.

Auf diese Weise soll mit dem Kampf gegen einen schrecklichen und mächtigen Feind der Hass der Bevölkerung gegen die Kremloligarchie in andere Bahnen gelenkt werden. "Das wichtigste ist meines Erachtens die Konsolidierung der Gesellschaft", erklärte Putin. "Wir haben die Pflicht, uns um die wichtigste Aufgabe zusammenzuschließen: die Bewahrung unserer Bürger vor Terror und der Erhalt unseres Staates."

Siehe auch:
In Karatschai-Tscherkessien drohen Doppelherrschaft und territoriale Spaltung
(22. September 1999)
Terroranschläge in Moskau - Wer und was könnte dahinter stehen?
( 17. September 1999)
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