Wer ist Angela Merkel?

Ein Portrait der neuen CDU-Vorsitzenden

Mit 96 Prozent der Stimmen hat der Parteitag der CDU in Essen die bisherige Generalsekretärin Angela Merkel zur neuen Vorsitzenden der Partei gewählt. Die gleichen CDU-Funktionäre, die Merkel in der Grugahalle minutenlang frenetischen Beifall spendeten, hätten ein solches Szenario noch vor einem halben Jahr wohl kaum für möglich gehalten.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen liegen auch die deutschen Medien Angela Merkel zu Füßen. Es ist die Rede von einem neuen "Polit-Star", gar von einer "Kulturrevolution" in der CDU, der ihre Wahl zur Vorsitzenden gleichkomme. Festgemacht wird das an Attributen wie: Sie ist eine junge Frau (45 Jahre!), sie kommt aus dem Osten, sie ist protestantisch und noch dazu geschieden. Wahrlich selten anzutreffende Merkmale! Und dann ist da natürlich noch ihre hausbackene Erscheinung: Wenn aus ihren eingeschlafenen Gesichtszügen plötzlich ein fromm-seliges Lächeln unter der Ponyfrisur hervortritt, geraten die älteren Herrschaften der CDU regelmäßig in Entzücken.

Was aber zeichnet Angela Merkel wirklich aus? Warum wurde gerade sie an die Spitze der CDU gestellt? Diese Frage zu beantworten ist deshalb nicht ganz leicht, weil Merkel in ihrer zehnjährigen politischen Laufbahn nie durch eigene politische Initiativen oder gar politische Konzeptionen von sich Reden gemacht hat. Erst als Familien- und später als Umweltministerin hätte sie genug Gelegenheit gehabt, sich zu profilieren. Stattdessen blieb sie meist blass und mied jeden Konflikt mit ihrem politischen Ziehvater Helmut Kohl.

Größere politische und theoretische Abhandlungen von ihr zu irgendeinem politischen Thema sind Mangelware. Auch in Interviews mit ihr ist ein eigenständiges politisches Profil nicht zu erkennen.

Ein Blick auf die Biografie Angela Merkels verspricht zwar nichts sonderlich Erhellendes, aber er gewährt so manchen Einblick in die vermeintliche Lichtgestalt der CDU.

Angela Dorothea Kasner wird 1954 in Hamburg geboren. Ihr Vater, ein protestantischer Pfarrer, und ihre Mutter, Lehrerin, ziehen kurz nach ihrer Geburt in die DDR. Der Vater übernimmt eine Pfarrei in Templin in Brandenburg. Er steht dem SED-Regime wohlwollend gegenüber, schließt sich aber in der Wendezeit 1989 dem Neuen Forum an. Die Mutter tritt dagegen der Ost-SPD bei und der Bruder wird Mitglied beim Bündnis 90/Die Grünen.

Angela Merkel ist in ihrer Jugend über Jahre hinweg aktives Mitglied der SED-Jugendorganisation FDJ. Nach dem Abitur studierte sie in Leipzig Physik. Von 1978 bis 1990 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften. 1986 promoviert sie zum Dr. rer. nat.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass Angela Merkel je in politischer Opposition oder im Konflikt zum DDR-Regime gestanden hätte. Wäre die DDR nicht zusammengebrochen, hätte sie eine ganz "normale, durchschnittliche Ostbiografie" (O-Ton Merkel) fortgesetzt.

Mehr durch Zufall also gerät Angela Merkel in die Politik. Genauer gesagt, sie hatte - wie viele andere "Demokraten" in der DDR zur Wendezeit - nur ein Verlangen: Wie rette ich möglichst schnell und unbeschadet meine Haut?

Ende 1989 wird sie Mitglied beim Demokratischen Aufbruch (DA), der wie andere Gruppen unter den Fittichen der evangelischen Kirche stand. Geleitet wird der DA von dem Rechtsanwalt Wolfgang Schnur und dem Pfarrer Rainer Eppelmann. Merkel bringt es bis zur Pressesprecherin des DA. Kurze Zeit später wird Wolfgang Schnur als Stasi-Mitarbeiter enttarnt. Der DA bricht auseinander und diejenigen, die für eine schnelle Einführung der kapitalistischen Markwirtschaft sind, treten als Gruppe in die CDU über.

Aber lassen wir Angela Merkel selbst zu Wort kommen: "Mein damaliger Chef und ich wollten unbedingt in die Politik, und so machten wir uns zusammen auf die Suche nach einer Partei. Er blieb sofort bei der SPD hängen. Aber die haben so komische Lieder gesungen wie ‚Brüder zur Sonne, zur Freiheit‘. Ich wollte aufbauen helfen. Beim Demokratischen Aufbruch standen drei unausgepackte Computerkisten, da packte ich an."

Ihre Beweggründe für ein politisches Engagement in der CDU begründet sie so: "Für mich waren nach der Wiedervereinigung sofort drei Dinge klar: Ich wollte in den Bundestag, eine schnelle deutsche Einheit und soziale Marktwirtschaft." (Berliner Morgenpost 1998)

Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990, die eine CDU geführte Koalitionsregierung unter der Führung von Lothar de Maizière hervorbringt, wird Merkel stellvertretende Regierungssprecherin. Im August tritt sie in die CDU ein. Günther Krause, der zusammen mit Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag aushandelte und später als CDU-Verkehrminister wegen Korruptionsgeschichten zurücktreten musste, verhilft ihr zu einer aussichtsreichen Direktkandidatur für den Bundestag im CDU-dominierten Stralsund/Rügen. Mit 48 Prozent der Erststimmen schlägt sie zwei Bewerber aus dem Westen aus dem Rennen.

Von nun an vollzieht sich ihr Aufstieg schnell. Es ist hinlänglich bekannt, dass Ex-Kanzler Helmut Kohl "das Mädchen", wie er sie nannte, nach seiner Gunst aufbaute. Leute in seiner Umgebung konnten nur etwas werden, wenn sie in hohem Maße anpassungsfähig und folgsam waren. Angela Merkels brachte beides mit. Kohl persönlich erkor die verhuschte Pfarrerstochter sozusagen als doppelte Quotenfrau, um das Image der CDU im Osten ein wenig aufzupolieren.

1991 nahm Kohl sie ins Kabinett. Sie wurde Bundesministerin für Frauen und Jugend. Fortan ließ sie keine Gelegenheit aus, um dem Kanzler der Einheit zu huldigen. Das brachte ihr schon wenige Monate später auf dem Dresdner CDU-Parteitag eine Mehrheit der Stimmen zur stellvertretenen Parteivorsitzenden der Bundes-CDU.

Auch wenn sich Merkel nur schwer einem bestimmten Flügel der CDU zuordnen lässt, kann eine eindeutig konservative und oft reaktionäre politische Haltung nachgewiesen werden. Als in ihrer Regierungszeit eine Neufassung des umstrittenen Abtreibungsparagraphen 218 zur Debatte steht, stimmt sie zusammen mit fanatischen Abtreibungsgegnern aus der CSU gegen eine Fristenlösung. Sie fordert bis heute auch die Wiedereinführung von Kopfnoten für Fleiß und Betragen und das Pflichtfach "Völkerkunde" an den Schulen.

Als Bundesumweltministerin macht sie sich bei den Grünen und den Umweltverbänden schnell einen Namen als "Erfüllungsgehilfin der Atomindustrie". (Den Titel kann sie sich jetzt allerdings mit dem grünen Umweltminister Jürgen Trittin teilen.) Merkel setzt mit brutaler Gewalt Atomtransporte durch. Bei den sogenannten Castor-Transporten kommt es zu radioaktiven Unfällen, weshalb SPD und Grüne vergebens ihren Rücktritt fordern. Auch das Aussitzen von Problemen und politischen Skandalen hat sie von Kohl gelernt.

Die ausländerfeindlichen CDU-Kampagnen von Roland Koch in Hessen und Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen unterstützt sie ausdrücklich. Das aus den von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" in Ostdeutschland eine industrielle Wüste entstanden ist, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit und sozialem Elend, hat die junge ostdeutsche Politikerin nie sonderlich gestört. Ganz im Stile ihres Mentors Helmut Kohl schiebt sie jede Folge ihrer eigenen Politik weit von sich.

Oft wird Merkel ob ihrem ausgeprägten Machtinstinkt und ihren taktischen Fähigkeiten gerühmt. Und tatsächlich hat sie die Krise der CDU geschickt genutzt, um an die Spitze der Partei zu gelangen. Als sie sich im Dezember 1999 in der FAZ erstmals von ihrem Übervater Kohl distanziert, gleicht dies aber eher einem Reflex der Selbsterhaltung als einer prinzipiellen politischen Entscheidung. "Wir Ostdeutschen kannten uns damit aus, uns mit den Mächtigen zu arrangieren, ohne eine totale Bindung einzugehen," rühmt sie sich in einem Interview. Merkel verkörpert mit diesem Standpunkt eine recht unheilvolle Eigenart des deutschen Bürgertums: politisches Mitläufertum und Ehrfurcht vor dem Staat.

Dabei ist allerdings unübersehbar, dass ihre Kontrahenten in der Union - wie CDU-Fraktionschef Merz und die mächtigen Landesfürsten Stoiber, Koch und Müller - ihr nur deshalb vorerst das Feld überlassen haben, weil der politische Richtungskampf in der Union noch aussteht. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Merkel im Gerangel um den nächsten Kanzlerkandidaten der Union das Rennen machen wird.

So gesehen ist es kein Zufall, dass Angela Merkel zur Galionsfigur der CDU mutierte. Der Mief, den das stalinistische Regime in der DDR mit seiner Bevormundung der arbeitenden Bevölkerung hervorbrachte, fand im Westen seine größte Ausprägung in der erzkonservativen CDU.

Siehe auch:
Essener Parteitag der CDU: Ein kollektiver Verdrängungsakt
(13. April 2000)
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