Scharfe Konflikte auf dem Parteitag der französischen Sozialistischen Partei

Der 72. Parteitag der französischen Sozialistischen Partei, der am letzten Novemberwochenende in Grenoble stattfand, wurde von scharfen Flügelkämpfen geprägt. Der rechten Mehrheitsfraktion um Regierungschef Lionel Jospin standen zwei linke Minderheitsfraktionen gegenüber, die die wirtschaftsfreundliche Sozialpolitik der Regierung kritisierten.

Eigentlich sollte der Parteitag - am Vorabend der EU-Konferenz in Nizza und als Auftakt eines langen Wahlkampfs für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2002 und die Kommunalwahlen im nächsten Frühjahr - Einigkeit und Geschlossenheit demonstrieren. Aber als Parteichef François Hollande die zentrale Schlussresolution einbrachte, verweigerten ihr die beiden Minderheitstendenzen die Unterstützung und legten stattdessen eigene Resolutionen vor, die zusammen 27 Prozent der Delegiertenstimmen auf sich vereinten.

An der Spitze der Minderheitsfraktionen stehen der frühere Parteichef und Finanzverantwortliche Henri Emmanuelli und Jean-Luc Mélenchon, der Vertreter der innerparteilichen Strömung Gauche socialiste, der seit dem Rücktritt von Claude Allègre im April das Amt des Berufsschulministers bekleidet.

Henri Emmanuelli brachte eine Alternativresolution unter dem Titel "Demokratie und Gleichheit" ein. In seiner Rede griff er den Kurs von Jospin und den seiner britischen und deutschen Amtskollegen, Blair und Schröder, an. Die "Trennungslinie zwischen Wirtschaftsliberalismus und Sozialdemokratie", erklärte er, verlaufe "nicht nur zwischen rechts und links, sondern immer öfter quer durch die europäische Sozialdemokratie selbst". Es sei offensichtlich, "dass der Opportunismus beim Regieren stärker ist als die Verteidigung der egalitären Werte, die untrennbar mit dem Sozialismus verbunden sind." Der Liberalismus könne in Europa deswegen fortschreiten, fuhr er fort, "weil die Sozialdemokratie nachgibt. Deswegen muss der Kampf innerhalb dieser Sozialdemokratie geführt werden."

Dann ging Emmanuelli auf die Lohndrückerei im öffentlichen Dienst und den Angriff auf die Arbeitslosenversicherung Unedic ein. Lohnempfänger würden gegen Arbeitslose ausgespielt, sagte er. Der Vorwurf, die Forderung nach höheren Löhnen behindere die Schaffung von Arbeitsplätzen, bezeichnete er als "alte liberale Leier, deren Zweck darin besteht, den Beschäftigten mit der angeblichen Alternative zwischen Lohnerhöhungen und Arbeitsplätzen Schuldgefühle einzutrichtern." ... "Haben wir dieses alte Manöver nötig, die Arbeiter zu spalten, um die Frage der Umverteilung zwischen Lohn und Kapital zu vermeiden? Nein, Genossen, die Höhe der Lohnabrechnung ist nicht der Feind des Arbeitsplatzes, und es steht der Sozialistischen Partei nicht an, die Arbeitslosen und die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen."

Die von Regierungschef Jospin bereits abgesegnete Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung Unedic(siehe Hintergrundbericht) lehnte Emmanuelli ab. Sie sei nur der erste Schritt zu dem, was der Unternehmerverband Medef und die rechten Gewerkschaften als Refondation sociale("soziale Neugründung") bezeichnen, ein Generalangriff auf das französische Sozialgefüge der Nachkriegszeit.

Der Führer der zweiten Minderheitsfraktion, Jean-Luc Mélenchon, hat seine politische Karriere in den siebziger Jahren in der Partei OCI von Pierre Lambert begonnen, die sich damals auf den Trotzkismus berief. Er war 1977, unter Mitterrand, in die Sozialistische Partei eingetreten, wo er zusammen mit dem Initiator von SOS Racisme, Julien Dray, die Fraktion Gauche socialiste mit ihrem Bulletin A gauche aufbaute.

Mélenchon forderte die Partei auf, mit der Logik der Globalisierung zu brechen, sich auf die kämpferischen Traditionen Frankreichs zu besinnen und sich den jüngsten Protestbewegungen von Seattle bis Millau (Protest gegen die Handelskette McDonald) zuzuwenden. Gleichzeitig verteidigte er die "unteilbare Republik" Frankreich in der Korsikafrage. Die Resolution der Gauche socialiste ist in der Form eines Briefs eines jungen PS-Mitglieds an den Parteichef gehalten und gipfelt in der unverbindlichen Forderung, die Sozialistische Partei müsse "radikale Reformen vorschlagen, die mit der Logik des Systems brechen".

Lionel Jospin wies die Kritik beider Fraktionen zurück und forderte die Partei auf, "unsern begonnenen Marsch nicht aus dem Tritt zu bringen, indem wir die wirtschaftlichen Realitäten missachten. Bremsen wir unsern wiedergefundenen Schwung nicht durch einen Rückfall in die Orthodoxie. Wir haben keinen Grund, unsere Politik zu ändern."

Er rechtfertigte seine Zustimmung zur Umgestaltung der Arbeitslosenkasse damit, dass eine weitere Verweigerung der Regierung schließlich das Ende der paritätischen Verwaltung der Sozialkassen durch Unternehmer und Gewerkschaften bedeutet hätte, da der Medef mit dem Ausstieg aus dem ganzen Sozialsystem Frankreichs gedroht hatte.

Jospin verteidigte die Europäische Union, die er als die Verwirklichung seiner "Vision" bezeichnete, gegen Mélenchon, der die "Einzigartigkeit Frankreichs" gepriesen hatte. Das "Modell Frankreich", erklärte Jospin, müsse als Beispiel für die EU dienen. Er verteidigte den Euro als stabilisierende Kraft in ganz Europa und "eine strategische Wahl, die das Wachstum gefördert hat, anstatt die wirtschaftliche Expansion durch monetäre Maßnahmen einzuengen".

Das "linke" Auftreten der Vertreter der Minderheitstendenzen kann kaum ernst genommen werden. Beide, Emmanuelli und Mélenchon, haben ihre Parteikarriere unter Mitterrand begonnen, dessen 14-jährige Präsidentschaft keinen Zweifel daran ließ, dass die französischen Sozialisten fest auf der Seite der bürgerlichen Ordnung stehen. Die Wende zum Liberalismus, die sie jetzt beklagen, hatte Mitterrand mit seinem damaligen Premier Fabius bereits 1983/84 vollzogen. Emmanuellis Parteikarriere hat nur deshalb einen Knick erlitten, weil er in den Mittelpunkt eines Parteispendenskandals geriet, der ihm eine Vorstrafe einbrachte. Sonst wäre vermutlich er heute an der Stelle Jospins Regierungschef.

Der scharfe Konflikt, der in dieser sorgfältig geplanten Veranstaltung gestandener Bürokraten aufgebrochen ist, zeigt, welche sozialen Spannungen in der französischen Gesellschaft vorhanden sind. Die sogenannten "Linken" drücken die Angst vor einem Aufbrechen der Fassade dieser Regierung aus, die bisher offiziell den sozialdemokratischen Anspruch vertrat, sie lasse Marktwirtschaft "nur in der Ökonomie, nicht in der Politik und Gesellschaft" zu.

Die Praxis hat dieser Fassade allerdings nie entsprochen. Dies wird unter anderem durch einen OECD-Bericht über die Finanzmärkte in Europa bestätigt, in dem das Privatisierungsprogramm der Regierung Jospin besondere Erwähnung findet: Seit 1997 hat es durchschnittliche Erlöse von zehn Milliarden Dollar pro Jahr ergeben.

Die jüngste Zustimmung der Regierung zur drastischen Verschlechterungen der Arbeitslosenversicherung ist der bisher offensichtlichste Riss in dieser Fassade. Noch im Juli hatten Jospins Sozialministerin Martine Aubry und der Finanz- und Wirtschaftsminister Laurent Fabius das Projekt Unedic bereits zum zweitenmal abgelehnt und vehement als unsozial gebrandmarkt. Seither hat sich Aubry nach Lille zurückgezogen, wo sie für das Amt des Stadtoberhauptes kandidiert und sich für höhere Weihen, möglicherweise als Nachfolgerin Jospins, bereit hält.

Am 15. Oktober ergriff der Regierungschef Jospin persönlich die Initiative, rief den Unternehmerpräsidenten Baron Ernest-Antoine Seillière an und teilte ihm die Zustimmung der Regierung mit. Seillière sagte anderntags der Presse voller Lob, Jospin habe sich endlich auch als wahrer "moderner Sozialist" wie Blair und Schröder verhalten. Gleichzeitig verlangte er weitere Zugeständnisse. Auch die 35-Stunden-Woche müsse wieder grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Der anfängliche Vertrauensvorschuss, den Jospin bei seinem Regierungsantritt bei der Arbeiterklasse genossen hat, ist mittlerweile vollständig verspielt. Das Referendum vom 24. September über die Amtszeit des Präsidenten, an dem sich nicht einmal dreißig Prozent beteiligt haben, hat demonstriert, in welchem Ausmaß die Politiker insgesamt das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. Der jüngste BSE-Skandal verschärfte dieses Misstrauen noch.

Die sogenannten "Linken" in der Partei spüren die Gefahr, dass Jospin an Boden verliert. Sie fürchten, er könne mit seiner Koalition von Sozialistischer Partei, Kommunistischer Partei, Sozialradikalen, Bürgerbewegung und Grünen vor der Zeit Schiffbruch erleiden, und bemühen sich, das Image des "linken Flügels" dieser Koalition zu wahren. Dies wurde deutlich, als Henri Emmanuelli sagte: "Die Linke in der Gewerkschaftsmehrheit, die sich mutig widersetzt hat, schaut auf uns. Es ist nicht akzeptabel, dass wir sie vor den Kopf stoßen. Wir dürfen uns hier keinen Fehler erlauben." Es war klar, dass er damit die Bürokratie der Gewerkschaften CGT und FO meinte, die den neuen Unedic -Vertrag nicht unterzeichnet haben.

Die innerparteiliche "Opposition" spricht einerseits für Gewerkschafts- und sozialistische Parteifunktionäre auf allen Verwaltungsebenen, andererseits für jene radikalisierten Mittelschichten, die ihre Interessen in verschiedenen Protestinitiativen gegen die Globalisierung von Seattle bis Millau zum Ausdruck bringen und in Jospin ihren Ansprechpartner und den Garanten ihrer sozialen Stellung gesehen haben, sich aber durch sein Engagement für die EU betrogen fühlen.

Jospins Kontrahenten haben letztendlich dasselbe Ziel wie er selbst: an der Macht zu bleiben. Dies wurde am Schluss des Parteitags offensichtlich, als beide Minderheitsfraktionen geschlossen die Parteiführung im Amt bestätigten und Emmanuelli schwülstig über Jospin sagte: "Er weiß, dass er mit unserer Unterstützung und Ergebenheit rechnen kann, heute wie gestern, morgen wie übermorgen, in einer Zukunft, die vielleicht manchmal weniger ruhig als die Vergangenheit sein wird. Aber wir werden da sein, Lionel, du weißt das. Denn was zählt, ist der Sieg unserer Ideen, die soziale Umwandlung, der Weg vorwärts. Und wir wissen, dass wir in dieser Hinsicht eine gute Lokomotive haben."

Siehe auch:
Hintergrund - Unedic
(9. Dezember 2000)
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