Putins Besuch in Indien beleuchtet bedeutende strategische Veränderungen

Der Besuch des russischen Premierministers Putin in Indien Ende Oktober hat verdeutlicht, wie fließend und instabil die ökonomischen, politischen und strategischen Beziehungen auf dem indischen Subkontinent nach dem Ende des kalten Krieges geworden sind.

In den siebziger und achtziger Jahren waren die Bündniskonstellationen relativ deutlich. Die USA unterhielten enge Beziehungen zu Pakistan und seinem Militär, um das Land als Basis für ihre verdeckte Unterstützung der fundamentalistischen islamischen Guerilla zu nutzen, die in Afghanistan gegen die durch die Sowjetunion gestützte Regierung kämpfte. China befand sich ebenfalls mit Pakistan im Bündnis. Die Sowjetunion hingegen unterhielt enge ökonomische und verteidigungspolitische Beziehungen zu Indien und unterstützte es im Kaschmir-Konflikt gegen Pakistan.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich die strategischen Verhältnisse verändert. Präsident Clintons Besuch in Indien - der erste eines amerikanischen Präsidenten seit 22 Jahren - zeigte einen deutlichen Schwenk der Vereinigten Staaten in Richtung Indien. Er hielt sich fünf Tage in Indien auf, um über neue ökonomische und strategische Verbindungen zu diskutieren. Lediglich fünf Stunden verbrachte er in Pakistan, wo er das Militärregime von General Musharraf für seine Unfähigkeit bei der Bekämpfung der islamischen Extremisten in Afghanistan, im Kaschmir und Pakistan selbst abmahnte.

Auch wenn Putins dreitägige Reise nicht dieselbe Aufmerksamkeit internationaler Medien auf sich zog wie jene Clintons, so war sie dennoch höchst bedeutend. Der erste Besuch eines russischen Präsidenten in Indien seit acht Jahren ergab insgesamt 17 Vereinbarungen über wirtschaftliche, militärische und strategische Zusammenarbeit, sowie über Kooperation auf dem Gebiet der Kernenergie. Diese Übereinkünfte dienen der Verstärkung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

Die hohe Bedeutung des Besuchs Putins für Indien äußerte sich in seinem Besuchsprogramm. Der russische Präsident, seine Frau Ludmilla und eine neunzigköpfige russische Delegation waren im Maurya Sheraton Hotel untergebracht - wo zuvor Clinton weilte - und ihm wurden dieselben strengen Sicherheitsvorkehrungen zuteil wie vorher dem amerikanischen Präsidenten.

Zwar war es diplomatisch verklausuliert, aber die gemeinsamen Erklärungen und Kommentare Putins und des indischen Premierministers Atal Bihari Vajpayee zeigen, dass sich die Regierungen beider Länder als Barriere gegen die weltweiten, aggressiven Interventionen der USA betrachten. Putin bemerkte in einem Interview mit dem Magazin India Today: "Ein starkes, entwickeltes und unabhängiges Indien, das eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielt, liegt in unserem Interesse. Wir betrachten es als einen der ausgleichenden Faktoren in der internationalen Politik."

Die gemeinsame Erklärung sprach sich für eine "multipolare globale Struktur" aus und wandte sich gegen den "unilateralen Einsatz oder die Androhung von Gewalt unter Verletzung der UN-Charta, sowie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten". Diese Sätze spiegeln die Besorgnis wider, welche die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO unter Führung der USA sowohl in New Delhi als auch in Moskau ausgelöst hat. Dabei wurden das Konzept der nationalen Souveränität praktisch über den Haufen geworfen und Tür und Tor dafür geöffnet, die "Menschenrechte" in Zukunft als Rechtfertigung für ähnliche Interventionen der USA und anderer Großmächte zu nutzen.

Beide Seiten betonten, dass die indisch-russischen Übereinkünfte keine Rückkehr zu den Beziehungen oder der Rhetorik des kalten Krieges darstellten, sondern die "neuen globalen Realitäten" zur Grundlage hätten.

Für seinen Teil strebt Russland danach, seine beherrschende Rolle in den strategisch bedeutenden Gebieten Zentralasiens und des Kaukasus mit ihren heftig umstrittenen Erdöl-Vorräten und anderen Bodenschätze zu behalten. Moskau versucht, den Herausforderungen der USA und anderer Großmächte in diesen Regionen zu begegnen und ist gleichzeitig über den destabilisierenden Einfluss der islamischen fundamentalistischen Gruppen besorgt, die ihre Basis im von den Taliban kontrollierten Afghanistan haben.

Indien teilt die Feindschaft Russlands gegen den islamischen Fundamentalismus, dies umso mehr, als die Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) einen extremen hinduistischen Chauvinismus vertritt. Außerdem sucht es internationalen Rückhalt für seine Haltung im Kaschmir-Konflikt mit Pakistan: keine internationale Einmischung und Einstellung der pakistanischen Unterstützung für die Separatisten in Kaschmir, bevor irgendwelche Verhandlungen stattfinden.

Die indisch-russische Zusammenarbeit gegen islamische Fundamentalisten und das Taliban-Regime war ein zentraler Bestandteil der Diskussionen zwischen Vajpayee und Putin. Ihre gemeinsame Erklärung brandmarkte Afghanistan als "Nährboden für religiösen und internationalen Terrorismus". Putin sagte vor dem indischen Parlament, dass dieselben Gruppen oder sogar Personen in Terrorakte "von den Philippinen bis zum Kosovo, einschließlich Kaschmir, Afghanistan und Russlands Nordkaukasus" verstrickt seien.

Nach dem Rückzug der oppositionellen Nördlichen Allianz in den äußersten nordöstlichen Zipfel des Landes kontrollieren die Taliban nun 95 Prozent der Fläche Afghanistans, das an einige der zentralasiatischen Republiken grenzt. Zum Schutz Tadschikistans sind 25.000 Soldaten der russischen Armee und Grenztruppen an der tadschikisch-afghanischen Grenze stationiert. Russland, das die Taliban wiederholt bezichtigte, die islamistischen Rebellen in Tschetschenien zu fördern, unterstützt außerdem verdeckt die Nördliche Allianz.

Putin kündigte an, dass Russland und Indien "beabsichtigen, ihre militärischen und politischen Maßnahmen der Situation gemäß zu koordinieren". Obwohl gemeinsame indisch-russische Militäroperationen ausgeschlossen wurden, sagte der nationale Sicherheitsberater Brajesh Mishra, die beiden Länder seien übereingekommen, eine gemeinsame Arbeitsgruppe zu Afghanistan zu gründen. Mishra und der russische Premierminister Michail Kasjanow unterzeichneten eine ausführliche Sicherheitsvereinbarung mit dem Ziel, den Austausch von Geheimdienstinformationen zu erleichtern.

Russland und Pakistan

Während Indien seine Bindungen zu Russland als Gegengewicht zu den USA festigt, erkundet Russland Möglichkeiten, die Beziehungen zu Indiens Rivalen Pakistan zu verbessern. Am Vorabend von Putins Besuch in Indien fand sich der russische Sonderbeauftragte Sergej Jastrschembski zu Unterredungen mit der pakistanischen Regierung in Islamabad ein. Dem indischen Magazin Frontline zufolge kam die Initiative dazu von der pakistanischen Militärjunta, die auf diese Weise versucht, ihrer wachsenden internationalen Isolierung zu begegnen.

Im vergangenen August war Generalleutnant Mahmut Ahmed, Leiter des militärischen Nachrichtendienstes ISI, zu Unterredungen nach Russland gereist. Der ISI steht im Ruf, enge Beziehungen zu den Taliban und den kaschmirischen Rebellen zu haben. Der Reise folgten Gespräche Musharrafs mit Putin am Rande der Millenniums-Vollersammlung der UN, die im September in New York stattfand.

Trotzdem sind die Beziehung zwischen Pakistan und Russland vorerst noch provisorisch. Jastrschembski machte der pakistanischen Regierung deutlich, dass weitere Schritte von deren Maßnahmen gegen islamische Extremisten abhängen werden. Frontline zufolge überreichte er eine Liste mit fünf Lagern in Afghanistan, in welchen Kämpfer für Tschetschenien und Guerillas in den zentralasiatischen Republiken ausgebildet werden.

Nach Jastrschembskis Besuch in Pakistan kam Putin in Indien an und war hier sichtlich bemüht, klarzustellen, dass Russland keine gemeinsame Positionen mit Pakistan gegen New Delhi suche. In der Schlüsselfrage Kaschmir akzeptierte Russland Indiens Position. In der gemeinsamen Erklärung Putins und Vajpayees wurde festgehalten, dass Gespräche zwischen Indien und Pakistan erst nach Beendigung des "grenzüberschreitenden Terrorismus" wieder aufgenommen werden könnten. In seiner Rede vor dem indischen Parlament sagte Putin deutlich, dass in Kaschmir "fremde Eingriffe unterbleiben sollten".

Indiens Sicherheitsberater Mishra erklärte gegenüber den Medien: "Wir haben sicher gestellt, dass es keine Beziehungen mit Pakistan zum Nachteil Indiens geben wird. Wenn Russland mit Pakistan über Afghanistan Vereinbarungen sucht, ist das in Ordnung. Es ist seine souveräne Entscheidung." So wie Russland Indien im Kaschmirkonflikt unterstützt, wiederholte Putin auch die Zusicherung von Russlands Unterstützung für Indiens lang angestrebtes Ziel eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat.

Darüber hinaus ergab Putins Besuch eine Reihe von wichtigen Rüstungslieferungen, welche die Position der indischen Streitkräfte gegenüber Pakistan und in der gesamten Region bedeutend verstärken werden. Das indische Militär ist immer noch stark mit Waffen und Technologie ausgerüstet, das es von der früheren Sowjetunion bezogen hat. Deshalb ist es weiterhin von Ersatzteillieferungen und technischer Unterstützung abhängig. Indien schuldet Russland für seine Waffenkäufe in der Sowjetunion immer noch schätzungsweise 200 Milliarden Rupien (ca. 10 Milliarden DM).

Zwischen den beiden Ländern wurden vier Rüstungsvereinbarungen im Gesamtwert zwischen fünf und sieben Milliarden US-Dollar geschlossen. Indien kaufte mehr als 300 schwere Kampfpanzer des Typs T 90S und Panzerabwehrraketen, erwarb eine Lizenz zum Nachbau des modernen Suchoi Su 30 Jagdflugzeuges und schloss ein Leihabkommen über vier schwere Bomber des Typs Tupolew Tu 22 (NATO-Bezeichnung "Backfire").

Über andere Erwerbungen wird Berichten zufolge noch verhandelt. Eingeschlossen sind hier Luftabwehrraketen, Artillerie, spezielle Kampfflugzeuge, seegestützte Marschflugkörper und Kamow Ka 31 Hubschrauber (zur Seeaufklärung und U-Boot-Bekämpfung). Russland wird Indien außerdem für die Kosten einer umfangreichen Überholung den Flugzeugträger "Admiral Gorschkow" überlassen, der den bisherigen veralteten ersetzen soll.

Russland unterstützt Indien weiterhin technologisch beim Bau zweier Kernreaktoren im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu und hat weitere Kooperationen auf dem Gebiet der Kernenergie angeboten. Damit ignoriert es die Opposition der USA und anderer Großmächte gegen eine Unterstützung für diese Länder auf diesem Gebiet, eine Reaktion auf die Kernwaffentests Indiens und Pakistans im Jahr 1998. Putin ließ zwar die Aufforderung Russlands an Indien, einen umfassenden Vertrag zum Stopp aller Kernwaffentests zu unterschreiben, nicht fallen, begrüßte aber "Indiens freiwilliges Moratorium für alle Kernwaffentests". Daraufhin besuchte er bezeichnenderweise das indische Nuklear-Forschungszentrum bei Bombay und beschrieb es als einen "Tempel der Wissenschaft und Technologie".

Die Waffenverkäufe und andere Verträgen mit dem Ziel, den Handel zwischen den beiden Ländern zu verstärken, werden Russland einen starken Anstieg der Einnahmen aus dem Außenhandel bringen. 1990, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, betrug das Handelsvolumen zwischen dieser und Indien ca. 5,5 Milliarden US-Dollar. Letztes Jahr war es auf 1,6 Milliarden US-Dollar zusammengeschrumpft.

Putin sprach auf einem Treffen, das von der Indischen Industrievereinigung und der Vereinigung der indischen Industrie- und Handelskammern organisiert worden war, vor mehr als 350 führenden indischen Geschäftsleuten. Er lud sie dazu ein, ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland zu verstärken: "Wir benötigen einen wachsenden Handelsaustausch und müssen außerdem die Handelstrukturen verbessern ... Wir sollten uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen."

Russland und Indien planen außerdem einen neuen Verkehrskorridor, um nicht mehr auf die gegenwärtige extrem lange Route über den Suezkanal und Nordeuropäische Häfen angewiesen zu sein. Die angestrebte Route, welche Land- und Seeverbindungen einschließt und auf Vereinbarungen mit dem Iran beruht, wird die Transportzeit um 10 Tage verkürzen, was noch einmal die enorme strategische Bedeutung der Region um das kaspische Meer herausstreicht, durch die die Transporte gehen werden.

Das Ende des kalten Krieges und die wachsenden Konflikte über Ressourcen und strategische Bündnisse in Zentralasien haben die internationale Aufmerksamkeit auf den indischen Subkontinent gelenkt. Nicht nur die USA und Russland, sondern auch Japan und europäische Großmächte haben zum ersten mal seit Jahren Staatsbesuche auf hoher Ebene in dieser Region gemacht. Als regionale Großmacht wird Indien als politischer und strategischer Partner hofiert, ebenso als lukrativer Markt und profitables Gebiet für Investitionen. Auch wenn die Schritte der verschiedenen Beteiligten vorerst noch zögerlich und provisorisch sind, so stellt doch das gewachsene Interesse an diesem Subkontinent das Potential erbitterter Konflikte in der Zukunft heraus.

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