35-Stunden-Woche in Frankreich -

oder wie eine progressive Idee bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird

1. Februar 2000: Während der LKW-Blockade auf der Europabrücke zwischen Frankreich und Deutschland fragt ein Journalist einen Fernfahrer, warum er sich an der Blockade beteiligt. "Wir sind hier, weil wir gegen die 35-Stunden-Woche sind," antwortet dieser. Daraufhin sein Kollege: "Nein, wir sind dafür! Aber das ist egal, denn für uns kommt sie sowieso nicht in Frage."

Die Verwirrung ist symptomatisch. Seit Anfang des Jahres wird in Frankreich offiziell das Gesetz über die 35-Stunden-Woche in die Tat umgesetzt, das seit Juni 1998 wichtiger Bestandteil des Regierungsprogramms von Lionel Jospin ist. Im Volksmund heißt es mittlerweile "Loi balai" ("Besengesetz"). Es ist deutlich geworden, dass sich mit diesem Gesetz völlig unvereinbare Interessen verbinden.

Die 35-Stunden-Woche, ursprünglich als gewerkschaftliche Forderung gegen die Massenarbeitslosigkeit aufgestellt, sollte die vorhandene Arbeit bei vollem Lohnausgleich auf alle Hände verteilen. Die zunehmenden Streiks in den verschiedensten Bereichen der französischen Wirtschaft zeigen, dass die Erwartungen der Arbeiter und Angestellten in diese Richtung gehen. Ihre Forderungen und Parolen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: effektive Arbeitszeitverkürzung, sofortige und umfangreiche Neueinstellungen und Gehaltserhöhungen.

Die Regierung dagegen passt das Gesetz bei jedem Schritt mehr an die Bedürfnisse der Unternehmer an. Die jüngste Fassung vom 9. Februar 2000 ist nur noch eine inhaltsleere Hülle. Sie enthält keine Verpflichtung auf Neueinstellung, sondern erlaubt sogar Entlassungen; sie sieht eine Jahresarbeitszeit von 1600 Stunden vor, wobei bis zu zwölf Wochen lang hintereinander täglich zehn Stunden oder wöchentlich 44 Stunden gearbeitet werden kann; und sie enthält eine derart eingeschränkte Interpretation des Begriffs der "effektiven Arbeitszeit", dass die Unternehmen in Zukunft Essens- und Umkleidepausen ausklammern können. Der Mindestlohn SMIC, der auf Stundenbasis berechnet wird und deshalb mit der Arbeitsverkürzung automatisch sinkt, wird erst im Jahr 2005 wieder angehoben.

Viele Unternehmen und Verwaltungsstellen betrachten die 35-Stunden-Woche inzwischen als eine willkommene Gelegenheit, mit einem Schlag die Arbeitsabläufe flexibler zu gestalten. So brüstete sich der Direktor der Krankenkasse CPAM im elsässischen Mülhausen, Joseph Becker, öffentlich: "Der Übergang zur 35-Stunden-Woche wird von uns als Hebel benutzt, um die Krankenkassen zu modernisieren".

Seit einigen Wochen kommt es zu immer neuen Arbeitskämpfen in den verschiedensten Bereichen. Daran beteiligen sich Schichten, die zum Teil seit 1968 nicht mehr auf der Straße waren. Seit November 1999 haben das Personal der Krankenhäuser und der Pariser Kaufhäuser, Bankangestellte, Postler, Lokführer und Angestellte des Personennahverkehrs, Métro-Reinigungskräfte, Journalisten, Feuerwehrleute, Finanzbeamte, Krankenkassen-Sachbearbeiter und Disneyland-Angestellte gestreikt. Auch Forscher, Gymnasiallehrer und leitende Angestellte sind in den Ausstand getreten. Die Streiks wenden sich gegen die Art und Weise, wie die 35-Stunden-Woche eingeführt wird, oder treten für eine echte Arbeitszeitverkürzung ein.

Gerade die LKW-Fahrer haben guten Grund zum Protest, nachdem die Regierung dem Druck ihrer Bosse nachgegeben hat. Am 10. Januar hatten die LKW-Unternehmer eine Straßenblockade organisiert und damit einseitig ein Dekret des Transportministers Gayssot (KPF) erreicht, das ihnen eine maßgeschneiderte Anwendung der 35-Stunden-Woche gewährleistet. Die Unternehmen dürfen demnach ihr Personal 208 Stunden im Monat beschäftigen, was über fünfzig Stunden in der Woche bedeutet. In dem Dekretentwurf stand auch die groteske Regelung, dass bei Langstreckentouren mit zwei Fahrern die Zeit, die ein Fahrer nicht am Steuer verbringt, nicht als "effektive Arbeitszeit" anerkannt wird, da er diese Zeit angeblich "zur freien Verfügung" habe. Die LKW-Fahrer beklagen, dass von den Errungenschaften des Streiks von 1995 betreffend Lohn und Arbeitszeit heute, fünf Jahre danach, nichts mehr übrig sei.

Die französische Zeitschrift L‘Express schrieb am 3. Februar: "Im öffentlichen Dienst - dem Transportwesen, der Post, usw. - ist die ‚Atmosphäre der 35-Stunden-Woche‘ zum Synonym für neue Spannungen geworden. Der Kampf der Fernfahrer ist ein Symbol dafür: Innerhalb von drei Wochen blockierten die gleichen LKWs die gleichen Straßen aus dem gleichen Anlass - der 35-Stunden-Woche. Lediglich am Lenkrad saßen andere Leute. Die 35-Stunden-Woche ist eine populäre Reform, die soziale Konflikte erzeugt."

Die komplexe Problematik zeigt sich am klarsten in den Streiks des Krankenhauspersonals, weil hier der staatliche und der private Sektor vertreten sind, der Staat selbst als Arbeitgeber fungiert und die unterschiedlichsten Arbeitsbereiche betroffen sind. Am 28. Januar kam es in Paris zur größten Demonstration im Gesundheitswesen seit zehn Jahren, an der sich nicht nur Schwestern und Pfleger, sondern auch Ärzte, Notärzte, Psychiater, Krankenhausapotheker, Spezialkräfte und Techniker unter dem Slogan "Assez de la rigueur - on veut de la santé" ("Schluss mit dem Sparen - wir fordern Gesundheit") beteiligten.

Um die 35-Stunden-Woche umzusetzen, wären sofort sechs bis sieben Prozent Neueinstellungen notwendig, die bisher nicht bewilligt wurden. Dabei hat sich die Situation schon vorher zugespitzt. Schon seit fünf Jahren in Folge ist das Budget zu knapp. Außerdem verstärkten zum Jahreswechsel die Grippewelle, das Unwetter und das Millennium den Stress des Pflegepersonals.

Dr. Alain Fisch, Notarzt in einem Krankenhaus mit 450 Betten in Villeneuve-Saint-Georges, erklärte einer französischen Tageszeitung: "Noch nie in meinem Leben habe ich einen solch katastrophalen Zustand erlebt. Seit Jahresbeginn liegen Schwerkranke in der Notaufnahme auf Tragbahren. Aber wir sind kein Einzelfall: Sämtliche Pariser Krankenhäuser, mit denen wir zusammenarbeiten, sind in der gleichen Notlage." Der Arzt beschwerte sich, er sei nicht mehr in der Lage, seine Patienten vernünftig zu behandeln. Es gehe dem Personal nicht um mehr Geld, sondern: "Wir wollen ganz einfach nicht mehr, dass unsere Kranken gefährdet sind."

Auch bei den Postlern liegen die Nerven blank. Hier gibt es schon seit Februar 1999 eine 35-Stunden-Regelung, der die Gewerkschaften CGT und SUD jedoch nicht zugestimmt haben. Diese Regelung enthält keine ausreichende Vereinbarung über Neueinstellungen. Stattdessen werden die Arbeitsplatzbeschreibungen neu gefasst. So sind für die Auslieferung eines Briefes nur noch 1,5 Minuten statt wie bisher drei Minuten Zeit vorgesehen. Die Briefträger werden auf ihrer Tour schon mal von Kontrolleuren begleitet. Während sich die Arbeitsmenge vergrößert hat - der Postanfall hat sich gegenüber 1998 auf 25 Mrd. Briefe oder um 2,5 Prozent erhöht -, wurde bei gleichbleibendem Personal die Arbeitszeit verkürzt. Als am 1. Februar die kürzere Arbeitszeit bei einem Teil der Postdienststellen eingeführt wurde, kommentierten Kollegen in anderen Stellen: "Wenn das die 35-Stunden-Woche sein soll, dann verzichten wir lieber darauf."

Dabei mangelt es nicht an Bewerbern, die gerne Briefe austragen würden. Als im Mai 1999 in ganz Frankreich neue Briefträgerstellen ausgeschrieben wurden, meldeten sich in Marseille 7.200 Kandidaten für achtzig Stellen, d.h. neunzig Kandidaten pro Stelle. Im nationalen Durchschnitt meldeten sich auf jede Stelle 26 Anwärter.

In Besançon erstatteten am 31. Januar mehrere Dutzend Postarbeiter Anzeige bei der Polizei wegen "Arbeitszeitklau". Daraufhin gingen sie in Eigeninitiative dazu über, die 35-Stunden-Woche einzuführen. Sie arbeiteten täglich vierzig Minuten weniger und ließen dafür die Werbung liegen. Die Reaktion der Direktion war äußerst scharf. Sie erklärte die Aktion zum Streik und weigerte sich, auch nur eine Stunde zu bezahlen, obwohl die Belegschaft effektiv 35 Stunden Arbeit geleistet hatte.

Die Reinigungskräfte eines Subunternehmens, das die Pariser Métro sauber hält, haben schon etwas länger Erfahrung mit der 35-Stunden-Woche: Bei ihnen wurde sie im Juni 1999 eingeführt. Ihr Fazit ist: Während das Arbeitspensum gleich blieb, schieden dreißig Mitarbeiter aus und 23 wurden neu eingestellt. "Wir müssen die gleiche Arbeit wie vorher bewältigen, nur haben wir jetzt sieben statt acht Stunden Zeit zur Verfügung," erklärte ein streikender Arbeiter im Dezember.

Eine wirkliche Premiere stellte am 24. November die nationale Kundgebung der Führungskräfte ("Cadres") in Paris dar. Sie fühlen sich betroffen, weil Artikel fünf des neuen Arbeitszeitgesetzes die Möglichkeit vorsieht, ihre Arbeitszeit nach Tagen zu berechnen, ohne Berücksichtigung der Stunden. Vorgesehen ist eine Jahresarbeitszeit von 217 Tagen. Die leitenden Angestellten befürchten nun, dass sie in Zukunft bis zu 13 Stunden am Tag im Betrieb verbringen müssen, um zwingende finanzielle Vorgaben zu erfüllen; sonst droht ihnen die Entlassung. Es war wirklich ein ungewöhnlicher Anblick, als einige Tausend vorwiegend ältere Männer im Nadelstreifenanzug ohne große Transparente und ziemlich ruhig hinter einer riesigen Uhr dem Seineufer entlang marschierten.

Den Gegensatz zwischen der vorgespiegelten heilen Welt und der tatsächlichen sozialen Wirklichkeit trieb am 13. Januar die Journalistinnen der Frauenzeitschriftengruppe Marie-Claire auf die Straße. Sie fordern die 35-Stunden-Woche, da sie täglich gezwungen sind, Artikel darüber zu verfassen, was "die französische Frau" mit der neuerworbenen Freizeit alles machen könne - während sie die Zeit selbst nicht haben. Wie bei vielen andern Streiks der letzten Wochen entwickelte sich dieser Streik spontan und für die Gewerkschaft völlig überraschend. Es ist das erstemal seit 22 Jahren, dass in diesem Bereich gestreikt wird. Die Parole "35 Stunden - weil wir es uns wert sind" ist eine Parodie auf die L'Oréal-Werbung, in der verschiedene Mannequins mit dem Satz "...weil ich es mir wert bin" für Produkte des Kosmetik-Unternehmens werben.

Auch die Radio- und Fernseh-Journalisten von France2, France3, Radio France, RFI, Arte, INA und SFP streikten Mitte November zum erstenmal eine ganze Woche lang. Ihnen ging es um die Durchsetzung eines allgemein gültigen Tarifvertrags, um Neueinstellungen und um die Verhinderung von Studioschließungen. Die Gewerkschaften hatten im Zuge der 35-Stunden-Woche bereits Haustarifverträge abgeschlossen, die den alten Tarifvertrag außer Kraft setzten, und wurden auch hier vollkommen überrascht.

Im Finanzamt nutzt der neue Finanzminister Christian Sautter, Nachfolger von Dominique Strauss-Kahn, die neue Arbeitszeitregelung für die Umstrukturierung des gesamten Sektors. Geplant ist die Zusammenlegung von Finanzamt und Staatskasse, der in den kommenden eineinhalb Jahren voraussichtlich 1.500 Stellen zum Opfer fallen werden. Hier kam es seit November mehrfach zu Streiks mit großer Beteiligung, obwohl die zwei einflussreichsten Gewerkschaften, die SNUI und die FO, sich davon distanzierten.

Überhaupt sind einige Gewerkschaften fieberhaft bemüht, ihrer Rolle als Partner der Unternehmer und der Regierung beim Abschluss der Arbeitszeitverträge gerecht zu werden. Nicht weniger als fünf Millionen Mark will z.B. die CFDT jetzt für eine Informationskampagne über die 35-Stunden-Woche locker machen, obwohl nach Aussage der CFDT-Vorsitzenden Nicole Notat "nur eine verschwindende Minderheit" Vorbehalte dagegen habe. Nur in der Hälfte der betroffenen Unternehmen ist die Gewerkschaft überhaupt repräsentiert.

Ein krasses Beispiel für die Art und Weise, wie Unternehmer aus der 35-Stunden-Woche Profit schlagen können, sind die Fahrstuhlfabrikanten Otis, Thyssen, Koné, Schindler u.a.. Sie verlangen von den Verwaltungen im sozialen Wohnungsbau zwischen fünf und sechs Prozent mehr Geld für ihren Wartungsservice und begründen dies mit der neuen Arbeitszeit. "Die 35-Stunden-Woche stellt ein außergewöhnliches und unvorhergesehenes Ereignis dar, das das wirtschaftliche Gleichgewicht der aktuell laufenden Verträge bricht," schrieb die Firma Schindler in einem entsprechenden Brief. Darin wird auch behauptet, dass der Branche acht Prozent Mehrkosten entstünden. Der Clou an der Sache: Einige Fahrstuhlfabrikanten haben die 35-Stunden-Woche bisher gar nicht eingeführt, die andern, die sie eingeführt haben, kassieren dafür staatliche Prämien und bitten jetzt die Mieter ein zweites Mal zur Kasse.

Siehe auch:
35-Stunden-Woche in Frankreich - eine Mogelpackung
(6. November 1999)
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