Alltägliche Armut in Nordrhein-Westfalen

Eine Studie der Ruhruniversität Bochum (http:\\www.ruhr-uni-bochum.de\zefir\) belegt, dass große Teile der Bevölkerung in wachsendem Maß von Armut bedroht und betroffen werden. Armut ist in Nordrhein-Westfalen (NRW) wie auch in der Bundesrepublik insgesamt nicht nur eine konjunkturelle oder vorübergehende Erscheinung.

Galt bislang vor allem die Arbeitslosigkeit als Hauptursache für Armut, so sind inzwischen weitere Ursachen hinzugekommen: "Die inhaltlichen Ergebnisse zum Armutspotential in NRW zeigen, ... dass Armut das Ergebnis von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ist. Regionale Vergleiche zeigen jedoch darüber hinaus, dass besonders in den Städten dieser direkte Zusammenhang: Arbeitslosigkeit erklärt das Armutsniveau nicht mehr gilt. Gleichzeitig mit diesem ökonomischen Prozess beobachten wir eine zunehmende soziale (und sozialräumliche) Spaltung unserer Gesellschaft, in der es immer mehr zu einer Kumulation von benachteiligten Lebenslagen und benachteiligten Lebensformen kommt."

Nach der Bochumer Studie fallen 11,5% der Einwohner NRWs unter die wissenschaftliche Armutsgrenze. Führt man sich deren Definition vor Augen, bekommt man einen Eindruck davon, was Leben in Armut bedeutet. Als arm gilt, wer die Hälfte des Durchschnitteinkommens (1874 DM), also 937 Mark im Monat zur Verfügung hat!

Das wirkliche Ausmaß der Verarmung in Nordrhein-Westfalen wird deutlich, wenn man die Haushalte hinzuzählt, die in ‚prekärem Wohlstand‘ leben. Dieser gilt als gegeben, wenn eine einzelne Person zwischen 937 und 1400 DM zur Verfügung hat, um ihr Leben zu finanzieren. Laut Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit lebten 39% der Haushalte in NRW in prekärem Wohlstand. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist also arm oder permanent von Armut bedroht.

Neben den Arbeitslosen sind Kinder, Alleinerziehende und Ausländer überdurchschnittlich von der Armut betroffen, bzw. gefährdet: "Mehr als jeder Dritte (35,2%) in der Armutspopulation hat eine nichtdeutsche Nationalität... Eine weitere von Armut besonders betroffene Gruppe sind Alleinerziehende und ihre Kinder. So leben 14,9% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze in Alleinerziehenden-Haushalten." In dem mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesland leben etwa 330.000 Alleinerziehende, 1,8 Millionen Ausländer und rund dreieinhalb Millionen Kinder und Jugendliche.

Fast ein Drittel der Armen sind Kinder unter 15 Jahren. Als "Risikofaktor" diagnostizieren die Soziologen der Uni Bochum dabei nicht nur Alleinerziehenden-Haushalte, sondern auch kinderreiche Familien. Fast 40% der Betroffenen lebt in Haushalten mit fünf oder mehr Personen.

Armut ist, wie die Bochumer Studie deutlich belegt, zur alltäglichen Erfahrung von Millionen Menschen geworden: "Betrachtet man die Betroffenheit von Armut im Längsschnitt, zeigt sich, dass sich im Zeitraum von 1991 bis 1995 20% der Bevölkerung mindestens einmal in einer Armutslage befunden haben... Bei 7% der Bevölkerung in Privathaushalten beschränkte sich die Betroffenheit von Armut auf ein Erhebungsjahr, 8% befanden sich zwei- bis dreimal in Armut und immerhin noch 5% lagen öfter als dreimal unterhalb der Armutsgrenze... Festzuhalten bleibt jedoch, dass Armut kein Randgruppenphänomen ist, sondern vielmehr für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung (ein Fünftel!) eine zumindest temporäre Realität darstellt."

Die Armut in NRW zeigt, wie tief die Gesellschaft gespalten ist. Immer größere Teile der Bevölkerung müssen mit sinkenden Einkommen und unsicheren Lebensverhältnissen klar kommen. Eine unerwartete Wendung in ihrer Biographie reicht aus, sie vor unüberwindbare Probleme zu stellen. Wissenschaftlich-theoretisch als "arm" oder "prekär wohlhabend" definiert, zählen sie in der Wirklichkeit permanent und jeden Tag zu den Unterprivilegierten der Gesellschaft, die sich aufgrund des verstärkten Abbaus gesellschaftlicher Sicherungen, von Niedriglohn- und Teilzeitjobs, von Rentenkürzungen oder des Verlusts ihres Arbeitsplatzes kaum mehr gegen die Risiken eines völlig normalen Lebens sichern können.

Diese Entwicklung verläuft regional unterschiedlich, doch deutlich stellt hierbei das Ruhrgebiet das Zentrum dar. Die Städte dieses Ballungsraumes haben im Landesvergleich die höchsten Arbeitslosenquoten. Das nördliche Ruhrgebiet trennt sich hierin außerdem vom südlichen. So hatten im Dezember vergangenen Jahres 13,2% der abhängig Beschäftigten in Essen, 15,2% in Duisburg und 16,6% in Gelsenkirchen keine Arbeit.

Die Städte des nördlichen Ruhrgebietes, dieses alten Herzens der Industrieproduktion, sind zu sozialen Brennpunkten geworden. Allein zwischen 1991 und 97 wurden eine halbe Million Arbeitsplätze in den alten Industrien vernichtet, während weder neue Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl geschaffen, noch Maßnahmen gegen die Verarmung riesiger Bevölkerungsschichten ergriffen wurden.

Das Ergebnis ist eine verstärkte Konzentration von Armut. Besserverdienende Familien verlassen die unterprivilegierten Stadtviertel - meist die alten Arbeitersiedlungen oder die Stadtteile des sozialen Wohnungsbaus der 60er und 70er Jahre. Die unattraktive Wohngegend lässt den Strom öffentlicher und privater Investitionen versiegen (die "Kaufkraft" der Betroffenen tendiert gegen Null) und weitere Arme in die verkommenen, aber billigen Wohnungen ziehen.

Soziale Polarisation führt zur Ghettobildung und die Menschen, die gezwungenermaßen in diesen Ghettos leben, verändern sich und ihre Lebensweise ebenso gezwungenermaßen.

"Traditionell war das Ruhrgebiet ein Sammelbecken für Zuwanderer aus verschiedenen Regionen und Ländern, die mitsamt ihren Kindern integriert werden konnten. Der Strukturwandel und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit hat diese Situation grundlegend verändert: statt Integration zunehmend soziale Ausgrenzung der Zugewanderten. Die Messlatte dafür sind Wahlen; je höher der Anteil von Ausländern in einem Wahlbezirk, desto höher die Zahl der Stimmen für rechtsextreme Parteien und die der Nichtwähler. Arbeitslosigkeit fördert Fremdenfeindlichkeit, Armut, Resignation, Gewalt und den Zerfall von Familien." ( Armut im Ruhrgebiet - auf Kosten der Kinder, Ruhruniversität Bochum)

Andere Untersuchungen haben längst eindeutig belegt, dass sich ein Leben in Unsicherheit und Armut katastrophal auswirkt. So tritt beispielsweise bei dieser Gruppe räumlich konzentrierter, gesellschaftlich unterprivilegierter Menschen eine höhere Säuglingssterblichkeit auf, ebenso eine deutlich höhere Anzahl an Geburten mit einem Gewicht unter 2500 Gramm. Die Menschen werden häufiger krank, leiden auch häufiger an chronischen Krankheiten wie Asthma, haben einen schlechteren Zugang zu frischen und qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln, zu Bildungsangeboten. Es treten vermehrt Verhaltensauffälligkeiten auf; der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort hält 20% der Kinder und Jugendlichen einer Generation für "auffällig", und vielfach sogar für behandlungsbedürftig. Kinder leiden vermehrt an Übergewicht und Depressionen und verunglücken häufiger tödlich.

Das Ruhrgebiet ist von der sozialen Spaltung der Gesellschaft besonders betroffen. Die Folgen des immer dreisteren Abbaus sozialer Leistungen und der Vernichtung Hunderttausender Arbeitsplätze treffen die Bewohner der alten kohle- und stahlproduzierenden Städte mit unvorstellbarer Wucht.

Im Zeichen der heranrückenden Landtagswahl propagieren die SPD und allen voran deren Spitzenkandidat Wolfgang Clement das Wirtschaftswachstum als Balsam für alle gesellschaftlichen Wunden. "Trotz aller Probleme bei Kohle und Stahl haben wir es geschafft, einen sozialverträglichen Strukturwandel zu gestalten, wie er in keiner vergleichbaren Industrieregion der Welt gelungen ist."

Die Realität zeigt, dass der sozialdemokratische Strukturwandel, trotz wachsendem Bruttosozialprodukt, steigendem DAX- Kurs und explodierenden Gewinnen keine Verlangsamung der Verarmung, geschweige denn eine Erhöhung des Lebensstandards gebracht hat. "Sozialverträglicher Strukturwandel" bedeutet nichts anderes, als dass die SPD die Wahrheit beugt - Wahlkampf eben.

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