Zwei Millionen Gefängnisinsassen in den Vereinigten Staaten

Die Zahl der Gefängnisinsassen in den USA wird am 15. Februar diesen Jahres voraussichtlich die Zwei-Millionen-Marke erreichen. Dies gab das Rechtspolitische Institut (Justice Policy Institute, JPI) im vergangenen Monat bekannt. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Gefängnisinsassen um 840.000 Menschen gewachsen, das entspricht einer Steigerung von 61 Prozent gegenüber den 80-er Jahren und ist fast das 30-fache des durchschnittlichen Zuwachses, der in jedem der fünf Jahrzehnte vor 1970 verzeichnet wurde.

Nach den offiziellen Statistiken haben die Vereinigten Staaten bereits die höchste Anzahl an Gefängnisinsassen in der Welt, gefolgt von China und Russland. Während sie fünf Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, sitzt in den USA ein Viertel aller Gefangenen weltweit ein - zwei von acht Millionen Menschen. Zusätzlich sind derzeit 3,6 Millionen Amerikaner nur auf Bewährung oder unter Auflagen auf freiem Fuß. Das Verhältnis von Gefängnisinsassen zur Gesamtbevölkerung in den Vereinigten Staaten - 672 Insassen auf 100.000 Einwohner - steht nur hinter Russland zurück. Im Vergleich dazu kommen in Frankreich 90 Inhaftierte auf 100.000 Einwohner.

Der Bericht des Instituts mit dem Titel "Das Jahrzehnt der Bestrafung: Einschätzungen von Strafanstalten und Gefängnissen zum Jahrtausendwechsel" berichtet ausführlich über die starke Zunahme der Gefängnisinsassen während der 90-er Jahre, die unverhältnismäßig hohe Zahl von jungen Schwarzen in den Gefängnissen und die steigenden gesellschaftlichen Kosten des Booms im Gefängnisbau.

Der Bericht merkt an, dass das Inkrafttreten einer vorgeschriebenen Mindeststrafe für Drogendelikte dazu führte, dass eine große Anzahl von jungen Schwarzen aus den Innenstädten inhaftiert wurde. Obwohl Schwarze nur einen Anteil von 13 Prozent an der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ausmachen, sind die Hälfte der 1,2 Millionen Insassen in Staats- und Bundesgefängnissen schwarz.

In der Hauptstadt Washington und der nahegelegenen Stadt Baltimore im Bundesstaat Maryland beispielsweise steht die Hälfte der jungen schwarzen Männer unter einer Form der strafrechtlichen Kontrolle. Die Studie weist darauf hin, dass ein männlicher Schwarzer, der 1991 geboren wurde, mit einer Wahrscheinlichkeit von 29 Prozent irgendwann in seinem Leben inhaftiert wird, verglichen mit einer Wahrscheinlichkeit von 16 Prozent für Hispanoamerikaner und einer von 4 Prozent für männliche Weiße.

Was die Mehrheit der zwei Millionen Gefangener miteinander gemein hat ist, dass sie der Arbeiterklasse und den ärmsten Schichten der Gesellschaft entstammt. Weiterhin leiden viele der Menschen im Gefängnis unter Geisteskrankheiten und hatten aufgrund der groß angelegten Schließungen von psychiatrischen Einrichtungen keinen Zugang zu Behandlungen, bevor sie inhaftiert wurden. Noch im Gefängnis wird ihnen Hilfe verweigert.

Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts bemerkte der Direktor des JPI Vincent Schiraldi: "Es kann wahrhaftig gesagt werden, dass die 90-er Jahre unser Jahrzehnt der stärksten Bestrafung waren. Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist der Aufstieg der Gefängnisse zu unserem größten öffentlichen Projekt und Sozialprogramm der Dekade ein trauriges Vermächtnis." Der politische Analytiker des JPI Jason Ziedenberg fügte hinzu: "Wir müssen Alternativen zum Einsperren finden, um Amerikas drückende soziale Probleme zu lösen."

Für die Vertreter von Law-and-Order in Washington ist die Tatsache, dass sich zwei Millionen Amerikaner hinter Gittern befinden, kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil, es wird von vielen als Zeichen des Fortschritts angesehen. Der Kongressabgeordnete Bill McCollum, ein Republikaner aus Florida und Vorsitzender des Komitees zur Verbrechensbekämpfung im Repräsentantenhaus, sagte, dass die hohe Anzahl an Gefängnisinsassen zu einer fallenden Kriminalitätsrate beigetragen habe. "Einer der Hauptgründe für Bestrafung ist Abschreckung - die Botschaft, die davon ausgeht", sagte er. "Es gibt eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen, die keine Verbrechen begehen, weil sie nicht im Gefängnis landen wollen."

Selbst wenn man den Argumenten dieser Reaktionäre unbesehen Glauben schenken würde, was sagt es über die amerikanische Gesellschaft aus, wenn Millionen und potentiell weitere Millionen mit kriminellen Aktivitäten befasst sind? Wenn eine große Gruppe Kinder plötzlich von der selben Krankheit befallen wird, suchen die Ärzte nach dem Infektionsherd in der Umgebung der Kinder. Aber die wirtschaftsfreundlichen Politiker und die Medien weisen jede Untersuchung der gesellschaftlichen Ursachen für Kriminalität zurück. Statt dessen bestehen sie darauf, dass ihr Ursprung der Kriminelle selbst ist, das "Urböse" in ihm etc., und ignorieren dabei bewusst den Zusammenhang von hoher Kriminalitätsrate und Drogenmissbrauch mit im Niedergang begriffenen Vierteln und Schulen, Armut, Rassismus und anderen gesellschaftlichen Problemen. Diese Methode hält das gesellschaftliche System und seine politischen Vertreter tunlichst aus der Sache raus.

Das explosionsartige Anwachsen der Gefangenenzahlen hat zum großen Teil unter der Regierung Clinton stattgefunden. Während Clinton und der von Republikanern dominierte Kongress die Ausgaben für Wohlfahrts- und andere Sozialprogramme zusammengestrichen haben, gaben sie Milliarden dafür aus, die Anzahl der Polizeikräfte zu erhöhen und mehr Gefängnisse und Armee-Ausbildungslager zu bauen. Gleichzeitig unterstützten die Demokraten und Republikaner auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebener strengere Strafgesetze, wie z.B. "Drei Vergehen und du bist weg", die Behandlung von Jugendlichen nach dem Erwachsenenstrafrecht und die Todesstrafe.

Anstatt die soziale Krise zu mindern hat das Anwachsen der Gefangenenzahl die Bedingungen, besonders für arme Familien, verschlimmert. In der Zeit von 1980 bis 1995 ist die Zahl der inhaftierten Frauen um 417 Prozent gestiegen, verglichen mit einem Anstieg von 235 Prozent bei den Männern. Eine Studie aus dem Jahre 1991 zeigte, dass drei Viertel der Frauen im Gefängnis Mütter waren. Die langfristigen Folgen dieser Politik, darunter die psychologischen Auswirkungen auf die Jugend, sind nicht abzuschätzen. Viele der Kinder, die eine Jugendstrafe erhalten, haben entweder einen Elternteil im Gefängnis sitzen oder kommen aus Pflegeheimen.

Die Gesamtkosten der eingesperrten Amerikaner in Staats- und Bundesgefängnissen im Jahre 1999 betrugen über 39 Milliarden US-Dollar und werden im Jahr 2000 auf 41 Milliarden Dollar steigen. Das JPI weist darauf hin, dass die Ausgaben der Vereinigten Staaten für 1,2 Millionen Straffällige um 50 Prozent höher liegen als die insgesamt 16,6 Milliarden Dollar, die die Bundesregierung derzeit auf Wohlfahrtsprogramme für 8,5 Millionen Menschen verwendet. 1995 wurde zum ersten Mal mehr Geld für den Bau von Gefängnissen als für den Bau von Schulen ausgegeben.

Dies ist eine gigantische Verschwendung von wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen, die zur Verbesserung von sozialen Bedingungen sinnvoller eingesetzt werden könnten. Die Ausgaben haben allerdings dem aufblühenden Geschäft des Gefängnisbaus Aufschwung verliehen, indem Verträge mit privaten Gefängnisbetreibern und andere lukrative Geschäfte geschlossen wurden.

Als Ganzes stellen die Statistiken des JPI-Berichts eine Anklage gegen den amerikanischen Kapitalismus dar. Unter dem dünnen Furnier des Wohlstands nehmen die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft an Schärfe zu. Die wachsende Zahl der Gefängnisinsassen zeigt vor allem, dass eine Gesellschaft, die weder willens noch fähig ist die breiten Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu erfüllen, zur Verteidigung der wirtschaftlichen Elite auf rohe Gewalt zurückgreifen muss.