Die Rehabilitierung Stalins als ideologische Grundlage der neuen Kremlpolitik

Mit der Ablösung von Boris Jelzin durch Wladimir Putin als Präsident Russlands sind nicht nur die Köpfe an der Spitze des Kremls ausgetauscht, sondern auch neue politische Akzente gesetzt worden. Durch seine Allianz mit der Fraktion der Kommunistischen Partei (KPRF) unter Gennadi Sjuganow in der Staatsduma hat sich der Kreml offiziell von seiner liberal-demokratischen Linie verabschiedet und betrachtet jetzt die politischen Erben Stalins als seine strategischen Partner.

Dieser Kurswechsel wurde nicht über Nacht vollzogen, er hatte sich schon unter dem Mantel des Jelzin-Regimes angebahnt. Aber jetzt ist das Bedürfnis nach einem Feigenblatt weggefallen und das Regime hat den ideologischen Richtungswechsel offiziell verkündet. Es tut dies nicht in einem Dokument. Vielmehr sprechen eine Reihe einflussreicher politischer Zeitungen und Kommentatoren das aus, was der Kreml aus verständlichen Gründen nicht im eigenen Namen sagen würde. Zu diesen Stimmen gehören die Njesawissimaja Gaseta, die vom Oligarchen Boris Beresowski kontrolliert wird, und deren Chefredakteur Witali Tretjakow.

Anlässlich des Geburtstages von Josef Stalin und im Zuge der Auswertung der Parlamentswahlen veröffentlichte die Njesawissimaja Gaseta am 22. Dezember 1999 einen Artikel, der wohl am klarsten die neue Kremllinie zum Ausdruck bringt.

Der Artikel trägt die Überschrift "Stalin - das ist unser alles" und den Untertitel "Das russische Reformerturm als Diktatur". Der von Tretjakow verfasste Artikel bemüht sich, Autoritarismus und Diktatur als notwendige und zivilisierende Mittel zur Umwandlung Russlands zu rechtfertigen. Gleichzeitig versucht er, Stalin in der öffentlichen Meinung als "einen der größten Weltpolitiker des zwanzigsten Jahrhunderts" zu rehabilitieren.

Man muss zugeben, dass in dem Artikel eine Reihe wahrer und tiefer Einsichten enthalten sind. Vor allem unterstreicht der Autor die Wechselbeziehung zwischen dem heutigen Regime und dem Stalinismus.

"Wir wissen gar nicht", schreibt der Autor, "wie viel in unserem Privatleben - nicht zu reden von Politik oder Staat - von dem her stammt, was durch Stalin persönlich oder unter seiner persönlichen Führung erdacht und entwickelt worden ist... Das wichtigste ist jedoch: unser gesamtes Nomenklatur- und bürokratisches System wurde fast ausschließlich auf Stalins Leisten zugeschnitten. Unser Beamter ist genetisch ein Stalinist, auch wenn er eine antistalinistische Einstellung haben mag."

Das ist alles völlig korrekt, genauso wie einige von Tretjakow beschriebene Eigenschaften der Stalinschen Herrschaft: "Stalin hat faktisch Imperium und Monarchie (wenn auch keine Erbmonarchie) wieder errichtet. Das Land, der Staat und die Reformen waren für Stalin von größerem Wert als die Bevölkerung, die Menschen oder der Einzelne."

Darauf folgt eine - ebenfalls richtige - Charakteristik der heutigen russischen Politiker. "Sind unsere Reformer etwa von anderem Kaliber als Stalin?" fragt der Autor und fährt fort: "Der aufgeklärte Tschekist Wladimir Putin, der aufgeklärte harte Reformer Anatoly Tschubaijs und der aufgeklärte Oligarch Boris Beresowski - das sind schon drei Gesichter Stalins von heute."

Aber was ist Stalin? Das ist "die Quintessenz des russischen Pragmatismus" und die "Quintessenz des russischen Reformertums, des grausamen, unmenschlichen und brutalen. Selten effektiv und meistens erfolglos."

Wir sind einverstanden, dass Stalin in den heutigen russischen Politikern fortlebt. Aber wie kann Stalin die "Quintessenz des russischen Reformertums sein"? Und was soll man überhaupt unter dem " russischen" Reformertum verstehen? Kann man beispielsweise die Oktoberrevolution von 1917 mit ihrem klar formulierten, internationalistischen Programm dazu zählen, weil sie große Reformen einleitete? Hat man andererseits die Härte und Brutalität im Auge, so ziehen sich diese durch die gesamte Weltgeschichte hindurch, bis heute. Was ist das spezifisch "Russische" daran?

Der Autor versucht nicht, diese Widersprüche zu entwirren. Seine Aufgabe besteht darin, die Geschichte grobschlächtig den Bedürfnissen der gegenwärtigen Kremlpolitik anzupassen. Das wird im folgenden sehr schnell klar.

"Stalin hat die ideale Monarchie geschaffen", schreibt Tretjakow, "aber von den zwei möglichen Produkten - einer Nomenklatur- und Beamtenklasse oder einer Bürgergesellschaft - konnte er nur die erste hervorbringen. Darin liegt seine Beschränktheit. Das ist sein Fluch."

Das ist eine falsche Bilanz. Die Gegenüberstellung einer "Nomenklatur- und Beamtenklasse" und einer "Bürgergesellschaft" ist in Bezug auf die sowjetische Geschichte abwegig (wenn man unter letzterer eine bürgerliche Gesellschaftsstruktur versteht). Wie Leo Trotzki schon in den 30er Jahren zeigte, war die stalinistische Bürokratie, die als privilegierte soziale Schicht entstanden war, lediglich ein Übergangsstadium auf dem Weg zu einer neuen Klasse kapitalistischer Eigentümer, d.h. in das Grundelement einer "Bürgergesellschaft". Die einzige Macht, die diesen konterrevolutionären Prozess hätte aufhalten können, war die Arbeiterklasse.

Stalin hat mit der "Schaffung" der Nomenklatur die kapitalistische Restauration und den Sieg der "Bürgergesellschaft" vorbereitet und keineswegs verhindert. Und genau wegen seiner Herkunft aus dem Schoße der Nomenklatur ist der heutige russische Kapitalismus derart korrupt und kriminell.

Weiter unter versucht der Autor, Stalin in eine Reihe mit großen historischen Figuren zu stellen und vergleicht ihn insbesondere mit Peter dem Großen. "Gerade Stalin hat das geopolitische und industrielle Vermächtnis Peters des Großen verwirklicht. Mehr noch - er hat es sogar übertroffen."

"Peter der Große war ein Reformer und Westler", fährt Tretjakow fort. "Er war zwar ein Diktator, aber ein aufgeklärter. Und war Stalin denn kein Reformer? War er denn nicht aufgeklärt?" Der einzige Unterschied zwischen Stalin und Peter dem Großen besteht für Tretjakow darin, dass Peter am Westen orientiert war, während Stalin ein "Byzantiner war, der an Russland als eine besondere Zivilisation glaubte."

Der Artikel schließt mit folgendem Gedanken: Stalin hat viel "Schreckliches" getan, aber auch viel "Ehrenvolles" und "Gutes". Darum: "Schimpft nicht auf Stalin. Stalin ist unser alles, wie Puschkin. Zwei Pole der russischen und nicht zuletzt politischen Kultur."

Was die politische Bedeutung des Artikels in der Njesawissimaja Gaseta betrifft, so ist sie eindeutig: Stalin soll rehabilitiert werden und sein Erbe soll im Interesse der neuen herrschenden Klasse Bestandteil der Staatspolitik werden. Was die Qualität der Argumente anbelangt, so beruht die gesamte Konstruktion ausschließlich auf Spitzfindigkeiten und historischen Fälschungen. Tretjakow sieht einfach über den geschichtlichen Hintergrund hinweg.

Dass Peter Reformer war, Stalin ihm historisch folgte und sich ebenfalls die Hände schmutzig machte, bedeutet noch lange nicht, dass er ebenfalls Reformer war. Um die reale historische Bedeutung eines Ereignisses oder einer Figur zu bestimmen, muss man die Frage untersuchen, auf welche sozialen Kräfte sich die betreffenden Figur gestützt hat und in wessen Interesse und in Richtung welcher gesellschaftlichen Entwicklung sie gewirkt hat. Es reicht schon, diese Frage zu stellen, um den himmelweiten Unterschied zwischen Figuren wie Peter dem Großen und Stalin zu sehen.

Peter kämpfte gegen die jahrhundertealte russische Rückständigkeit und Abgeschlossenheit. Er stützte sich auf die seinerzeit fortschrittlichsten gesellschaftlichen Kräfte, förderte die Entwicklung der individuellen Initiative und appellierte direkt an die Notwendigkeit, sich die westeuropäischen Erfahrungen anzueignen und sich der Entwicklung im Westen anzuschließen. Indem er Sankt Petersburg gründete, stieß er das Fenster nach Europa auf und brach mit dem asiatischen Moskautum. Er ließ die Bärte der Bojaren abschneiden und kämpfte gegen die vererbbaren Amtsposten, die mit den patriarchalischen Traditionen verbunden waren. Peter griff auf barbarische Methoden zurück und rechnete nicht selten mit seinen Gegnern grausam ab. Aber er brachte Russland voran und brauchte dafür nicht zu lügen, weil seine Absichten und Worte mit seinen Taten zusammenfielen.

Stalin ist ein völliger anderer Typ von Politiker. Um zum Diktator der Sowjetunion zu werden, musste er mit seiner revolutionären Vergangenheit brechen. Auf diese Weise verkörperte er nicht die besten Werte der modernen Zivilisation, sondern im Gegenteil, die nationalistische Reaktion auf die größte revolutionäre Bewegung der gesamten Weltgeschichte.

Stalin erweckte die schlimmsten Seiten der russischen Rückständigkeit zu neuem Leben, mit denen die Oktoberrevolution klar und unbarmherzig gebrochen hatte. Anstelle der Anerkennung der Vorherrschaft der Weltwirtschaft kultivierte Stalin die beschränkte und nationalistische Konzeption des "Sozialismus in einem einzelnen Land". Anstatt schöpferische Tätigkeit und freiheitliches Denken zu fördern, praktizierte er inquisatorische Prozesse und "Hexenjagden". In seiner Politik stützte er sich auf die neue Kaste der privilegierten Bürokratie und vernichtete die besten Elemente der Gesellschaft: in erster Linie die Führer der Revolution und breite Schichten der sozialistischen Intelligenz und Arbeiter. Stalin zog das Land zurück. Deshalb wurden Lügen und das ständige Umschreiben der Geschichte zu notwendigen Bestandteilen seiner Methode.

Wenn es in den letzten zwei Jahrhunderten in Russland eine Ereignis gab, das man als Fortsetzung von Peters Reformen bezeichnen könnte, dann die Oktoberrevolution von 1917. Beide Ereignisse gaben dem Land einen mächtigen Impuls in der Entwicklung von der Rückständigkeit zur Zivilisation. Beide erzeugten herausragende Führer und einen kulturellen Fortschritt. Das Stalinregime dagegen verkörperte die Konterrevolution und eine geschichtliche Rückentwicklung. Es bereitete den Boden für die Katastrophe, in die Russland 1991 geriet.

Nicht weniger ungeheuerlich ist die Konstruktion einer Verbindungslinie zwischen Stalin und Puschkin. Sie bilden keine "zwei Pole der russischen Kultur". Genauer gesagt, sie bilden diese zwei Pole, aber in einem völlig anderen Sinne, als Tretjakow uns das weismachen will. Folgt man dem Redakteur der Njesawissimaja Gaseta,so ist Puschkin die Quintessenz der russischen Kultur und Stalin die Quintessenz der russischen Politik.

In Wirklichkeit gibt es gute Traditionen der "russischen Kultur, darunter auch der politischen", und es gibt schlechte Traditionen der russischen Kultur und Politik. Puschkin und die russische Revolution von 1917gehören zur ersten Kategorie, Stalin zur zweiten. Diese beiden Traditionen stehen im Wiederspruch zueinander und ergänzen sich nicht.

Puschkin zeichnete sich durch freiheitliches Denken, Unabhängigkeit, europäischen Weitblick und Verachtung für jegliche Form von "Hurrapatriotismus" aus. Im Unterschied dazu vereint Stalin in sich die schlechtesten Elemente der russischen Rückständigkeit: Trägheit, Beschränktheit, Vorurteile und Despotismus.

Ziehen wir Bilanz. Die Notwendigkeit zur Rehabilitierung Stalins und der Methoden seiner "Staatsführung" ist der klarste Ausdruck dafür, welchen historischen Stellenwert der neue russische Kapitalismus hat. Unfähig, die Probleme der millionenköpfigen Bevölkerung zu lösen, beschwört er für sein Überleben die dunkelsten Schatten aus der Vergangenheit. Allein schon aus diesem Grund muss er selbst so schnell wie möglich in das ewige Reich der Schatten verschwinden.

Siehe auch:
Weitere Artikel zu Russland
Loading