San Francisco Filmfestival 2000

Es gibt immer noch mutige Menschen, sogar in der Filmindustrie

Ein Interview mit Yesim Ustaoglu, Regisseurin von "Reise zur Sonne"

Dies ist der zweite Teil einer Artikelserie vom diesjährigen Filmfestival in San Francisco, das vom 20. April bis 4. Mai 2000 stattfand. Außer einem Überblick über die am Festival gezeigten Dokumentarfilme enthalten diese Reportagen, die zur Zeit in Fortsetzung auf der englischen Seite des WSWS erscheinen, vor allem Aufzeichnungen von Gesprächen - insgesamt mit fünf Filmemacher und einem Darsteller. Der folgende Text ist das erste dieser Interviews.

Über den Film Reise zur Sonne habe ich vergangenen September, als er auf dem Filmfestival von Toronto gezeigt wurde, folgendes geschrieben:

"Reise zur Sonne ist ein ehrlicher und leidenschaftlicher Film von Yesim Ustaoglu über die Türkei. Mehmet, ein junger Mann aus der Westtürkei, der bei den Wasserwerken angestellt ist, rettet Berzan, einen Kurden und Straßenhändler mit Musikkassetten, aus den Fängen eines nationalistischen Mobs in Istanbul. Die zwei werden Freunde. Mehmet hat einen etwas dunklen Teint und könnte leicht für einen Kurden gehalten werden. Seine Freundin, Arzu, arbeitet in einer Wäscherei. Berzan hat eine Verlobte in Zorduc, einem Dorf nahe der irakischen Grenze.

Unter falschem Verdacht gerät Mehmet in Polizeigewahrsam, nachdem im Bus auf dem Sitz neben ihm eine Waffe gefunden wurde. Die Polizisten sind überzeugt, dass er ein Terrorist sei, und schlagen ihn zusammen. Aus Mangel an Beweisen lassen sie ihn nach einer Woche wieder frei. Aber nun ist er ein Gezeichneter. Er verliert seine Arbeit, und als seine Zimmertür mit einem roten Kreuz beschmiert worden ist, fordern ihn seine Zimmergenossen zum Ausziehen auf. Auch seinen nächsten Arbeitsplatz verliert er wegen eines roten Kreuzes.

Inzwischen spitzt sich die politische Lage zu. Kurdische Gefangene befinden sich im Hungerstreik. Berzan, der auf der Fahndungsliste steht, wird verhaftet. Er stirbt unter den Händen der Polizei. Obwohl Mehmet kein naher Verwandter von ihm ist, setzt er durch, dass er Berzans Leiche im Sarg abholen kann. Er klaut einen kleinen Laster und fährt los, um Berzan zur Bestattung in seinen Heimatort zu bringen. Nach verschiedenen Zwischenfällen und Wechsel der Transportmittel kommt Mehmet schließlich mit dem Sarg in Zorduc an. Die Stadt liegt unter Wasser, ist wahrscheinlich auf türkischen Befehl überflutet worden, und sämtliche Gebäude sind zerstört oder verlassen. Mehmet kann nur die schreckliche Szene betrachten, die sich ihm bietet. Er wird Berzans Freundin, deren Foto er behalten hat, hier niemals finden. So schiebt er den hölzernen Sarg ins Wasser und schubst ihn an, und dieser schwimmt weg."

Künstlerische Arbeit mobilisiert viele körperliche und geistige Qualitäten. Man muss Augen oder Ohren (oder beides) haben; Einfühlungsvermögen, Neugier, ein Gefühl für Form, Kenntnis des eigenen Arbeitsfelds, Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte. Und bestimmte moralische Qualitäten: Mut zum Beispiel. Der Wille, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es schwierig ist, wenn diejenigen um einen herum mehr daran interessiert sind, sich selbst ein warmes Nest zu bauen oder Freunde in höheren Kreisen zu finden, so wie gerade jetzt. Es muss eine Beziehung zwischen prinzipiellem Verhalten und künstlerischer Eingebung vorhanden sein, die auf komplexe Weise zum Ausdruck kommt. In beidem steckt ein Sinn für die wesentliche Härte, Problematik und Schönheit der Wahrheit der Dinge.

Die türkische Filmemacherin Yesim Ustaoglu ist eine ruhige und leise, aber offensichtlich entschlossene Frau. Wir haben in einer Hotellobby von San Francisco miteinander gesprochen.

David Walsh: Was hat Sie an gerade diesem Thema interessiert?

Yesim Ustaoglu: Mir waren die Menschenrechte in meinem Leben immer sehr wichtig. Ich bin immer wieder über Menschen erstaunt, für die das nicht so ist. In den letzten 15 Jahren war das die wichtigste Frage in unserem Leben.

DW: Meinem Eindruck nach muss es sehr schwierig oder gefährlich sein, in der Türkei über die Kurdenfrage zu reden. Es scheint mir ein mutiger Film zu sein. Hatten Sie Schwierigkeiten mit den Behörden?

YU: Natürlich ist es eine Art Tabu in der Türkei, über die kurdische Realität zu reden. Es gibt eine offizielle Darstellung, aber mehr darüber zu diskutieren ist für alle sehr schwierig. Als ich anfing, das Konzept des Films zu entwickeln, wollte ich nichts über die Schwierigkeiten hören. Wenn du dieses Thema anschneidest, bist du entweder Teil des Systems oder - wenn du über das System diskutieren willst - musst du sehr ehrlich sein. Wir dachten nicht darüber nach, was in diesem Fall passieren könnte. Ich wollte nicht hören, dass es gefährlich sei. Natürlich war es nicht einfach. Aber wir waren sehr gut organisiert. Ich habe alleine gearbeitet, bei der Rollenbesetzung, dem Auffinden von Örtlichkeiten für die Außenaufnahmen, egal bei was. Und als wir dann soweit waren, haben wir es einfach gemacht.

DW: Musste der Film eine Zensur durchlaufen?

YU: Nein so ein System gibt es nicht. Wir müssen nur eine Erlaubnis einholen, um ihn in den Kinos zu zeigen.

DW: Ist der Film gezeigt worden?

YU: Er läuft in der Türkei gerade.

DW: Wie kommt er an?

YU: Seine Weltpremiere war in Berlin, dann wurde er in Toronto und anderswo gezeigt. Ein Jahr lang hatten wir in der Türkei keinen Verleih. Keiner wollte ihn zeigen. Kein Kino wollte ihn anfassen. Es gab eine Art Embargo gegen den Film. Die Medien wollten nicht darüber reden. Wir hatten die Erlaubnis des Kulturministeriums, den Film in den Verleih zu bringen, nachdem wir ihn fertig hätten. Nachdem wir ihn in Berlin und anderen Städten gezeigt hatten, gab die Regierung ihre Erlaubnis, aber es gab da eine andere Art Druck, ein Embargo des alten Systems, das nicht daran rühren wollte, das den Film nicht zeigen wollte, nicht darüber reden und diskutieren wollte. Über die Reaktion der Medien war ich ziemlich überrascht. Bei einigen wusste ich das zwar vorher, aber ich hatte erwartet, sie würden ihn diskutieren. Aber nichts dergleichen geschah. Sehr wenige haben das Embargo kritisiert.

Was das Publikum angeht, ist es wirklich gut, denke ich. Viele junge Leute kommen, Studenten, türkische wie kurdische, denen das Thema am Herzen liegt. Natürlich gibt es dann Diskussionen über die Fragen.

DW: Am Anfang wird ein Mob nationalistischer Fußballfans gezeigt. Versucht man, Nationalismus zu schüren, um von den sozialen Problemen wie Armut und Arbeitslosigkeit abzulenken?

YU: Ja, die Republik Türkei ist auf der Idee der einen Nation begründet. Für mich ist es so eine Art Gehirnwäsche. Sich für das ganze Land auf eine Nation zu konzentrieren. In der Türkei gibt es viele wirtschaftliche und soziale Konflikte, und es ist immer so einfach, wenn du Probleme hast... für die Regierung oder das System erweist es sich als nützlich, die Menschen mit Hilfe der Nation oder auch der Religion zu manipulieren.

Und in der Türkei gibt es über diese beiden Fragen viele Kämpfe. Mal wird die eine hochgespielt, mal die andere. Es ist immer so einfach, die unteren Klassen mit dieser nationalen Sache zu manipulieren. Wenn man sich die Leute aus den linken oder den ganz rechten Kreisen anschaut, kann man sehen, dass sie ähnliche Probleme haben, aber um die politische Situation zu ändern oder zu verbessern, bringen sie immer den Nationalismus ins Spiel. Dann vergisst du deine tatsächlichen sozialen und ökonomischen Probleme und konzentrierst dich auf den Nationalismus. Das tut weh.

DW: Wie sind die sozialen Bedingungen der Massen?

YU: Die Türkei versucht verstärkt, ihre Wirtschaft zu privatisieren. Das hat einen Graben zwischen den Reichen und der übrigen Bevölkerung geschaffen. In den siebziger und achtziger Jahren gab es eine Mittelschicht, Arbeiter und Mittelschichten. Wenn du gearbeitet hast, konntest du für deine Leistung etwas bekommen. Die Gewerkschaftsbewegung war viel stärker. Nach dem Putsch von 1980 haben sie ganz andere Bedingungen eingeführt. Sie haben in den letzten zehn, zwanzig Jahren ein ganz anderes Land geschaffen. Die Bevölkerung ist sehr unpolitisch, außer den Nationalisten. Ein Teil der Bevölkerung ist sehr reich geworden, man wird nie erfahren auf welche finstere Art sie zu diesem Reichtum gekommen sind, während die Arbeiterklasse und die Mittelschicht die Leidtragenden waren. Viele Menschen aus den ländlichen Gebieten im Osten waren gezwungen, in die Städte zu ziehen, was große Probleme geschaffen hat. Arbeitslosigkeit und andere Probleme. Die Ungleichheit ist ein großes Problem.

DW: Das ist ein fast allgemeines Phänomen. Auf die eine oder andere Art ist es auch hier so und in Frankreich. Ich hatte dieselben Diskussionen mit Regisseuren aus Frankreich, dem Libanon ...

YU: Das ist die Globalisierung.

DW: Es gibt weltweit soziale Ungleichheit. Und es gibt auch ein weltweites politisches Problem: Die alten Parteien sind diskreditiert, die Gewerkschaften und die traditionelle Arbeiterbewegung haben sich als wertlos erwiesen. Es gibt ein Vakuum. Die Menschen sind nicht glücklich, aber sie sehen keine Alternative. Religiöse oder nationalistische Bewegungen füllen diese Lücke und versuchen, in demagogischer Weise an die Menschen zu appellieren. Wie sieht es mit dem islamischen Fundamentalismus aus?

YU: Weil es in der Türkei nicht ausreichend Demokratie für jede Idee gibt, kann man sich dieses Problem selber schaffen, wenn man es haben will. In unserer Geschichte gab es immer großen Druck des Säkularismus gegen den Islam, gleichzeitig verbreitete das System aber die Idee, dass wir auch ein muslimisches Land seien. Sie spielen ein Spiel. "Wir sind Muslime, aber ich gebe euch ein paar Rechte. Wir sind nur bis zu diesem Punkt Muslime." Wenn die Menschen mehr wollen, wird das unterdrückt. Dadurch macht man diese [religiösen] Leute politisch aktiv. Deshalb erlebten wir diesen Kampf der islamischen Parteien. Menschen, die unterdrückt werden, wenden sich ihnen zu, weil sie sonst nichts haben. Aber die islamischen Parteien gehören zum selben System. Die Leute werden benutzt, ausgenutzt. Ich denke, dass das System jedenfalls säkular bleiben wird.

DW: Was denken Sie über den Prozess gegen Öcalan?

YU: Während des Prozesses war ich nicht in Istanbul, ich war in Berlin. Ich habe von dort aus verfolgt, was passierte. Es gab wieder viele Manipulationen von Seiten der Nationalisten. Wenn man die Nachrichten in den türkischen und den internationalen Medien las, waren sie völlig unterschiedlich.

Es gibt Druck von verschiedenen Seiten. Es geht hoch und runter. Zum einen will die Türkei in die Europäische Union, was einen eher mäßigenden Einfluss hat. Aber sie wissen nicht, wie sie das bewerkstelligen sollen. Gerade bevor ich hierher gekommen bin, habe ich gelesen, dass die kurdische Realität akzeptiert wird, zumindest im Moment, aber unser Premierminister sagt immer noch, dass das Kurdische keine Sprache sei. So geht es immer auf und ab, vor und zurück. Es wird einige Zeit dauern, bis die Menschen das verstehen.

DW: Wie ist die Lage der türkischen Filmemacher?

YU: Das Publikum will türkische Produktionen sehen. Jeder dieser Filme kann in die Verleihs kommen - nur meiner nicht. Es gibt ein paar große kommerzielle Produktionen. Die Industrie ist jetzt größer. Es gibt ein paar unabhängige Low-Budget-Filme.

DW: Kann man Ihren Film in unterschiedlichen Regionen der Türkei sehen?

YU: Ja, als wir ihn in Istanbul aufgeführt haben, kam er auch in andere Städte. Kleine Kinos, aber immerhin...

DW: Hat es keine Proteste oder Probleme gegeben?

YU: Wir hatten den Vorteil, dass er im Ausland so bekannt war.

DW: Ist es schwierig, gesellschaftliche und psychologische Wahrheit und künstlerische Form mit derselben Ernsthaftigkeit zu behandeln?

YU: Für mich ist das ein und dasselbe. Ich kann diese Elemente nicht voneinander trennen. Ich will bei dem was ich diskutiere, was ich den Menschen sagen will, ehrlich sein und es auf meine künstlerische Art, auf meine Weise sagen. Natürlich ist das wichtig. Ich will eine Filmemacherin, eine Künstlerin sein. Ich denke, all diese Elemente sind immer wichtig, wenn man etwas erschaffen will.

DW: Welche Filmemacher bewundern Sie?

YU: Tarkowsky ist sehr wichtig für mich. Bergman, Bresson. In der Türkei Yilmaz Güney [der verstorbene Regisseur].

DW: Ist er in der Türkei immer noch eine bekannte Persönlichkeit?

YU: Die junge Generation fängt an, mehr über ihn zu erfahren.

DW: Man kann seine Filme sehen?

YU: Yol[ Der Weg] ist letztes Jahr gezeigt worden. Das ist wichtig für die neue Generation. Natürlich kannte meine Generation seine Filme.

DW: Haben Sie noch etwas anderes gemacht?

YU: Ich habe Architektur studiert, aber dazwischen habe ich Geschichten geschrieben. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass im Kino alle Elemente vorhanden sind. Als ich meinen ersten Film machte, merkte ich, dass ich mich dessen nicht erwehren kann.

DW: Ich will noch die Frage von Zensur und demokratischen Rechten aufbringen, den Fall Deepa Mehta. Das ist Teil einer internationalen Entwicklung. Wir haben eine Kampagne zur Verteidigung von Mehta organisiert. Ich möchte wissen, was Ihre Meinung zu diesem Problem ist. Stellt es eine Gefahr für demokratische Rechte und künstlerische Freiheit dar?

YU: Ja. Aber sie muss weitermachen, ich muss weitermachen. In meinem Land gibt es das Problem bei vielen aus meiner Generation, dass sie nichts Schwieriges anpacken wollen. Selbst bei der jüngeren Generation ist das so. Sie machen Filme im Rahmen des Systems, und das reicht nicht aus. Künstler sollten sich auch mit der Gesellschaft beschäftigen.

DW: Ich denke, Ihr Film ist ein Beitrag dazu und hoffe, dass ihn viele Menschen sehen werden.

Siehe auch:
Das Neuste von Tavernier und ein Film aus der Türkei
(10. Mai 1999)
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