Filme der 50. Berlinale

Kunst und Armut

Russlands Wunderkinder, von Irene Langemann

Seit 1932 gibt es die Zentrale Musikschule am Moskauer Konservatorium. Welches hochbegabte Kind die Chance erhält hier Schüler zu werden, befindet sich auf dem Weg in die musikalische Elite, erklärt die Regisseurin. Sie will mit ihrem Dokumentarfilm deutlich machen, dass Russland nicht nur aus der Mafia besteht, ein "Reich des Bösen", sondern Russland auch "Hochkultur" bedeutet, wo es eine lange musische Tradition gibt. Etliche der einstigen Schüler der Zentralen Musikschule gehören heute zur künstlerischen Weltspitze. Beispiele sind die Geiger Viktor Tretyakov und Wladimir Spivakov, die Pianisten Vladimir Ashkenazy, Vladimir Krainev und Michail Pletnev, sowie auch der Dirigent Gennady Rozhdestvensky.

Die Regisseurin beschäftigt die Frage: Wie ist es überhaupt möglich, solch hohes künstlerisches Niveau zu erreichen, wo doch in Russland immer schwierige Bedingungen herrschten, ob schon zu Zeiten Stalins, Breschnews oder auch heute.

Die gegenwärtigen Bedingungen, unter denen Lehrer und Schüler arbeiten müssen, sind, wie der Film zeigt, katastrophal. Bei den wenigen staatlichen Gelder reicht es vorne und hinten nicht. Wenn die Schule nicht auf Grund privater Verbindungen zusätzlich Unterstützung bekäme, "würden wir längst auf der Straße liegen", erklären Pädagogen der Schule. Nur "auf Grund der Enthusiasten, die hier arbeiten" könne die Einrichtung ihr Niveau halten.

Wir erleben die Aufnahmeprüfung der achtjährigen Ira und stellen dabei fest, dass die Klaviere teilweise verstimmt sind. Die Tatsache, dass in den Räumen der Schule Klaviere stehen und man an den hässlichen Wänden einige Bilder von Komponisten, wie dem weltberühmten Peter Tschaikowski, hängen sieht, sind so ziemlich die einzigen Hinweise darauf, dass dieses heruntergekommene Gebäude, an dem außen der Putz abbröckelt, irgend etwas mit Musik zu tun hat.

Den trostlosen Bedingungen zum Trotz sind die Lehrer hoch motiviert, von Liebe zu den Kindern durchdrungen. Einige bringen ihre Schützlinge, die in der Regel fern von Mutter und Vater im Internat leben, sogar eigenhändig ins Bett, und wir sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit man morgens beim Lehrer zu Hause frühstückt. Die Augen der zarten achtjährigen Irina leuchten, während sie vor der Kamera Musik beschreibt, als "tanzende Blumen", durch die ein leichter Wind weht.

Die Ausbildung ist hart, es gibt viele Zwischenprüfungen, und die strenge Auslese unter den Kindern geht auch in der Schule weiter. Während der Prüfungsvorspiele sehen wir die Gesichter besorgter Mütter auf dem Flur. Die Opferbereitschaft, die Eltern wie Lehrer für die hohe Kunst aufbringen ist enorm. In die musikalische Elite aufzusteigen, kann neben dem Genuss einer gediegenen kulturellen Bildung auch den Aufstieg aus der Armut und damit ein höheres Maß an persönlicher Freiheit bedeuten.

Den heutigen Pädagogen der Schule, selbst einstmals hervorragende Solisten, war es unter dem stalinistischen Regime nicht vergönnt auf der ganzen Welt Konzerte zu geben. Heute setzen sie alles daran, dies den nachfolgenden Generationen zu ermöglichen. Wer es von den Kindern später wirklich schaffen wird, liegt nicht in ihrem Einflussbereich. Das entscheidet später einmal der internationale Musikmarkt.

Lena, eine 17jährige Schülerin, beginnt bald ihr Musikstudium in Deutschland. Sie hat seit ihrem neunten Lebensjahr die halbe Welt bereist. Früher wurde sie als russisches Pianowunder herumgereicht. Eine ältere Archivaufnahme zeigt sie bei einem Auftritt vor dem Vatikan. Der Papst küsst dem kleinen Mädchen anschließend die Stirn. Heute sagt Lena: "Ich komme jetzt in das Alter, wo man uns kaum noch beachtet." Trotz ihrer zahlreichen Konzertreisen, die ihr bis jetzt ein privater Agent vermittelt hat, lebt sie zusammen mit ihrer Mutter unter erbärmlichen Verhältnissen. Sie besitzt nicht einmal ein eigenes Klavier zum Üben.

Wir bewundern die Virtuosität des zirka 10jährigen Mitja bei Korsakows Hummelflug und die musikalische Reife Lenas bei der Interpretation von Chopin. Die innere Ausrichtung des Films wird aber nicht ganz klar. Soll der Zuschauer zu der Erkenntnis kommen, dass, so schlecht die soziale Lage in Russland auch ist, die Kultur immer ihren Weg finden wird, solange es nur genügend Idealisten gibt, die, statt zu klagen, ihre ganze Kraft in den Dienst der Kunst stellen?

Besitzt Kunst die Fähigkeit sich zu entfalten und weiterzuentwickeln, unabhängig davon, welche sozialen und politischen Gegebenheiten in der Gesellschaft vorherrschend sind? Diese Auffassung wäre sehr naiv.

Die Gefahr, dass Russlands Wunderkinder in dieser Art und Weise vom Publikum aufgefasst wird, ist durchaus gegeben. Die Tradition der "russischen Hochkultur" kennt im Film keine an konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen orientierte Geschichte. Die Frage, warum die Sowjetunion, im Widerspruch zu ihrer monströsen Bürokratie, in der Lage war, eine so hoch entwickelte Musikkultur hervorzubringen, kann der Film daher nicht beantworten.

In der Publikumsdiskussion nach der Filmvorführung erklärte die Regisseurin dieses Phänomen mit dem Wesen der "russischen Seele".

Der Film Buena vista social club von Wim Wenders, der letztes Jahr auf der Berlinale zu sehen war, verweist in ähnlicher Weise auf die Unerschütterlichkeit der kubanischen Seele. Er begeistert durch die kraftvolle, lebensbejahende Musik der hochbetagten kubanischen Musiker, die lange vergessen waren und teilweise in bitterster Armut lebten. Ihre Frische und Unverbrauchtheit stellt Wenders dem allgemeinen gesellschaftlichen Pessimismus der Gegenwart als Vorbild gegenüber. Welchem Zeitgefühl die Kraft dieser Musik einst entsprang, welche gesellschaftlichen Erfahrungen die Musiker seitdem gemacht haben, welchen Verlauf ihr Denken über die kubanische Gesellschaft genommen hat - solche Hinweise gibt der Film nicht. Statt dessen ist der Regisseur offenbar fasziniert davon, dass die Musiker quasi aus dem Nichts auftauchen.

Die Uneigennützigkeit der Pädagogen unter den schwierigen Bedingungen verdient Hochachtung. Neben der Begeisterung für die Kunst scheint deren Aufopferung jedoch gleichermaßen eine tiefe innere Verunsicherung und Ratlosigkeit angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität auszudrücken - vergleichbar mit der Situation auf einem Schiff, auf dem niemand weiß, wie man sein drohendes Sinken verhindern kann, man sich also in das unvermeidliche Schicksal fügt und in Würde ausharrt.

Der Ausstrahlung und Faszination, die von den musizierenden jungen Menschen ausgeht, die, umgeben von Tristheit, eine spürbare innere Bereicherung durch die Musik erfahren haben, kann sich der Zuschauer nicht entziehen. Darin liegt eine innere Kraft des Films, die auf eine Universalität weist, die jenseits der russischen Grenzen und jenseits der Mechanismen des Marktes liegt.

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