Der Tod des sechsjährigen Joseph Abdulla

Ein Lehrstück über die Ursachen rechter Dominanz in Ostdeutschland

Der Todesfall des sechsjährigen Joseph Abdulla im ostdeutschen Kleinstädtchen Sebnitz in der Sächsischen Schweiz ist eine Warnung. Unabhängig von den letztendlich tatsächlichen Umständen seines Todes zeigt dieser Fall, wie weit fortgeschritten die Dominanz der rechten Banden in Ostdeutschland ist - mit Unterstützung der staatlichen Behörden und der CDU.

Der kleine Joseph besuchte wie 200 weitere Sebnitzer Bürger am 13. Juni 1997 mit seiner damals zwölfjährigen Schwester das örtliche Freibad. Der sechsjährige Junge, Sohn eines irakisch-deutschen Apotheker-Ehepaares, das sich erst ein Jahr zuvor in diesem mittelalterlich-romantischen Städtchen, 50 Kilometer südöstlich von Dresden an der tschechischen Grenze niedergelassen hatte, starb an diesem Tag. Wie, das ist derzeit Thema nicht nur in Deutschland.

Der offiziellen amtlichen Fassung zufolge ist Joseph das Opfer eines tragischen Badeunfalls. Der Notarzt, der versuchte, Joseph im Schwimmbad zu reanimieren, schrieb in der Todesbescheinigung, die er noch im Notarztwagen ausfüllte: "Im Schwimmbad ertrunken aufgefunden, Reanimation über eine Stunde erfolglos." Als Todesursache vermerkte er: "Ertrinken beim Spiel im Wasser." Ein Polizist der Direktion Pirna vermerkt in seiner Aktennotiz, Joseph sei ohne Schwimmring im Wasser gewesen. Er sei seinem Freund weggeschwommen. Seine Schwester Diana habe ihn für 15 Minuten im Nichtschwimmerbecken unbeaufsichtigt gelassen. Die tiefste Stelle ist dort 1,35 Meter tief. Joseph maß laut Gerichtsmedizin 1,27 Meter.

Diese offizielle Version wurde bereits unmittelbar nach Josephs Tod in Zweifel gezogen. Sofort gab es Hinweise, dass Joseph nicht verunglückte, sondern ermordet wurde - von einer Gruppe rassistischer Jugendlicher. Die Eltern von Joseph erhielten Hinweise, dass Joseph ertränkt wurde. Bereits wenige Tage nach dem Tod ihres Sohnes erstatteten Saad Abdulla und Renate Abdulla-Kantelberg Anzeige "wegen eines Tötungsdeliktes". Die Polizei ermittelte, aber erfolglos. Am 3. Februar 1998 stellte sie die Ermittlungen ein und schloss den Fall ab.

Auch die Gerichtsmediziner konnten keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen feststellen. "Der Verstorbene war Nichtschwimmer. Es ist nicht auszuschließen, dass er von anderen Kindern untergetaucht wurde." Todesursache sei "am ehesten Ertrinken". Eine "gröbere fremde Gewalteinwirkung" werde ausgeschlossen. Auf die Beschwerde der Eltern gegen die Einstellung der Ermittlungen antwortete der Generalstaatsanwalt im Sommer 1998: "Auch wenn der Ablauf des Unglücksfalles am 13. Juni nicht bis ins Detail geklärt werden konnte, ... kann sicher ausgeschlossen werden, dass Dritte ein Verschulden am Tode des Joseph Abdulla trifft."

Die Eltern ermittelten daraufhin auf eigene Faust. Fast zwanzig Personen, Jugendliche und Erwachsene, bezeugten in unterzeichneten Erklärungen ihre Beobachtungen. Danach spielte sich der "Badeunfall" folgendermaßen ab:

Mehrere Jugendliche zerrten Joseph "mit Gewalt an seinen Händen von seinem Liegeplatz an der Hecke" zum Imbiss des Freibades. "Dort wartete die restliche Gruppe an der Theke." Joseph weinte und versuchte, sich loszureißen. "Du Ausländerschwein", wurde der Sechsjährige angeschrieen. Dann hielt ihn einer fest, sein Mund wurde aufgerissen und ein Mädchen "goss ihm die Flüssigkeit in den Mund". Joseph versuchte zu entfliehen. Er hielt sich krampfhaft an Wasserhähnen fest, die aus dem flachen Wasser ragten. "Er war wackelig auf den Beinen. Er heulte wieder." Dann gingen alle Jugendlichen vom Imbiss wieder zu ihm und lösten ihm "einzeln mit Gewalt die Finger von der Stange". Sie trugen ihn in ein Handtuch gewickelt zum tiefen Teil des Beckens. Dort schrie eine junge Frau: "Na, macht‘s endlich, schmeißt ihn schon rein. Scheiß Ausländer." Die Jugendlichen taten dies. Zwei sprangen hinterher und "hopsten auf seinem Rücken herum". "Ungefähr zehn Minuten."

Der damals zwölfjährige Junge, der diese Aussage machte, hat auch berichtet, dass Joseph mit einem Elektroschocker misshandelt wurde. Mit "mehreren Stromschlägen": einen "im unteren Bauch, einen am rechten Unterarm, einen in den Nacken, einen auf das Ohr, einen auf das Geschlechtsteil". Diese Schilderung deckt sich mit anderen Zeugenaussagen. Mehrere Zeugen haben sich freiwillig bei der Familie Abdulla gemeldet. Doch niemand von ihnen sprach mit der Polizei. Viele erklärten der Familie, sie hätten Angst. Nicht nur vor den Rechten, sie würden niemandem trauen.

Am Tag nach Josephs Tod lagen Blumen, Kerzen und Plakate am Eingang des Freibades. Auf einem Plakat stand: "Ihr Mörder, ihr seid Schuld am Tod von Joseph Abdulla". Am nächsten Tag waren diese Bekenntnisse der Solidarität und Trauer verschwunden. Niemand will wissen, wer sie entfernt hat. Das Grabkreuz von Joseph steht inzwischen im Keller der Familie. Aus Angst vor rechtem Vandalismus liegt der kleine Junge auf einem westdeutschen Friedhof neben seinem Großvater begraben - anonym.

Am 22. November lassen die Eltern ihren Sohn exhumieren und im Institut für Rechtsmedizin der Universität Gießen auf eigene Kosten ein zweites Mal untersuchen. Das Universitätsinstitut, das außerdem Fotos und eine zweieinhalb Jahre zuvor entnommene Blutprobe erhält, kommt zu folgendem Ergebnis: Auf Fotos von Joseph, wenige Tage nach seinem Tod aufgenommen, ist ein Hämatom am rechten Ohr erkennbar. Außerdem eine "fleckförmige Halsveränderung", die ebenfalls im ersten medizinischen Bericht "keine Erwähnung" fand. Die Untersuchung der Blutprobe ergibt "trotz der fortgeschrittenen Fäulnis Hinweise auf eine Verabreichung des Wirkstoffes Methylphenidat". Dies ist der Wirkstoff des Beruhigungsmittels Ritalin. Eine Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens, folgert das Institut, erscheine "angezeigt".

Auch das renommierte Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen unter Leitung des designierten niedersächsischen Innenministers Christian Pfeiffer gelangt zu diesem Schluss, nachdem es 17 Zeugenaussagen und das Ergebnis der Universitätsklinik Gießen analysiert hat. Es kommt am 24. Juli dieses Jahres zum Ergebnis: "Die Aussage des Jungen... erscheint insgesamt glaubhaft. Die Schilderungen in beiden Erklärungen sind insbesondere von Detailreichtum, aber auch anderen Glaubwürdigkeitssignalen geprägt." Die "Elektroschockmisshandlung" dürfe als "unstreitig zu behandeln sein", da sie ein Erwachsener auf Anhieb erwähnt habe.

Die Ermittlungen werden daraufhin im Oktober wieder aufgenommen. Am 21. und 22. November verhaftet die Polizei drei dringend tatverdächtige junge Personen. Fünf bzw. sechs Tage später werden sie wieder auf freien Fuß gesetzt mit der Begründung, an der Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen gebe es Zweifel. Der damals zwölfjährige Junge habe zwei von ihnen auf drei Jahre alten Fotos nicht eindeutig wiedererkennen können. Ein Verdächtiger habe ein "unerschütterliches Alibi". Gegen die beiden anderen werde weiter ermittelt, der Verdacht rechtfertige aber keine Haft mehr.

Am folgenden Tag ging die ermittelnde Staatsanwaltschaft noch weiter und stellte alle Zeugenaussagen in Frage. "Sämtliche Zeugen haben erklärt, dass die schriftlichen Erklärungen auf suggestive Befragung durch die Eltern des Joseph zurückzuführen seien," heißt es in einer entsprechenden Mitteilung. Die Zeugen hätten außerdem für ihre Aussagen Geld bekommen. Auch eine Verbindung zur rechtsradikalen Szene gebe es nicht, obwohl - wie die Staatsanwaltschaft zugab - gegen einen der drei Verdächtigten schon früher wegen des "Verdachts einer rechtsextremistischen Straftat" ermittelt worden war.

Nun ging auch die sächsische Landesregierung in die Gegenoffensive. Kurz nach der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft trat Ministerpräsident Kurt Biedenkopf überraschend vor die Presse und richtete schwere Angriffe gegen die Medien und den niedersächsischen Kriminologen Pfeiffer. Die Familie Abdulla-Kantelberg erschien nun plötzlich als Netzbeschmutzer, die Bewohner von Sebnitz als Opfer - einschließlich der weiterhin unter Tatverdacht Stehenden, die nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft vom örtlichen CDU-Oberbürgermeister Mike Ruckh empfangen wurden. Sebnitz habe Schaden genommen, ganz Ostedeutschland sei verunglimpft worden, wetterte Biedenkopf. Pfeiffer, der designierte Justizminister von Niedersachen, sei "fahrlässig mit so schwierigen Fragen" umgegangen. Er, Biedenkopf, halte ihn nicht geeignet für das Amt des Justizministers.

Die Erklärung der Dresdener Generalstaatsanwaltschaft, die bereits die ursprünglichen Ermittlungen im Fall Joseph Abdulla eingestellt hatte, strotz von offensichtlichen Widersprüchen. So ist nicht einzusehen, weshalb der Hauptbelastungszeuge, der noch am 16. Oktober seine Aussagen in einer vierstündigen richterlichen Vernehmung bestätigt hatte, nur fünf Wochen später vor der Staatsanwaltschaft völlig umgekippt sein soll. Könnte hier nicht das Klima der Einschüchterung, das seit dem Bekannt werden des Falles in Sednitz herrscht, eine Rolle gespielt haben?

Auch der Vorwurf, die Aussagen seien den Zeugen durch Renate Kantelberg in den Mund gelegt worden, ist kaum nachvollziehbar, lagen den Ermittlungsbehörden doch nicht nur die unterschriebenen Aussagen, sondern auch stundenlange Tonband- und Videomitschnitte vor. Es ist zudem unbestritten, dass die Polizei nach dem Tode Josephs schlampig ermittelt hat und zahlreichen Hinweisen nicht nachgegangen ist, obwohl der Verdacht eines Verbrechens von Anfang an in der Luft lag.

Renate Kantelberg hat den Verdacht, Zeugenaussagen seien gekauft worden, mit Empörung zurückgewiesen. Sie habe den Zeugen im Gegenteil eingeschärft, nichts auszusagen, woran sie sich nicht genau erinnern können, und ihnen zum Dank höchstens eine Packung Hustenbonbons oder eine Päckchen Zigaretten geschenkt.

Was am 13. Juni 1997 im Freibad Sebnitz genau geschehen ist, lässt sich gegenwärtig nicht eindeutig feststellen und wird, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft in Dresden die Ermittlungen wieder an sich gezogen hat, möglicherweise auch nie festzustellen sein. Dass aber Neonazis in dieser Stadt ihr Unwesen treiben und sich nach dem Auftreten Biedenkopfs noch stärker fühlen werden, lässt sich nicht übersehen.

Die NPD hat in Sachsen mit rund 1000 Mitgliedern einen ihrer stärksten Landesverbände und ist in Sebnitz mit dem Arzt Johannes Müller im Stadtrat vertreten. Sie erhielt bei der Kommunalwahl 6,5 Prozent. Die Sächsische Schweiz gilt als Hochburg neonazistischer Umtriebe; die "Skinheads Sächsische Schweiz" gelten als bestorganisierte - und wie jüngste eine Razzia zeigte: schwerbewaffnete - militante Nazigruppe. Auch in Sebnitz selbst ist mit der "White Warrior Crew Sebnitz" eine NPD-nahe Kameradschaft tätig.

Die Familie Abdulla lebt seit dem Tode Josephs in Angst vor den Rechten. Sie wurde telefonisch bedroht: "Ihr seid die Nächsten." Türen und Fenster ihres Hauses sind verriegelt, man geht nur ungern vor die Tür.

Nach Bekannt werden des Falles bedrohte der rechte Mob im Beisein der Medien unverhüllt die Familie und alle, die ihre Nase in diese Angelegenheit stecken. So schrie vor laufender Fernsehkamera ein Jugendlicher vor dem Fenster der Abdullas: "Morgen wirst du sterben." Das Fernsehteam, das ihn darauf ansprach, versuchte er einzuschüchtern. Er brüllte die Reporter an und erwartete offensichtlich ein Zurückweichen des Teams.

Er bekam ebenfalls Schützenhilfe von Ministerpräsident Biedenkopf. Es gebe Hinweise, erklärte dieser der Presse, dass die Rechten für solche Auftritte von den Medien bezahlt würden - ein Vorwurf den Spiegel-TV, das die Szenen gedreht hatte, mit Verachtung zurückwies.

Auch die Reaktion der in Stadtrat und im Land dominierenden CDU kann das Selbstbewusstsein der Rechten nur stärken. Hinweise auf eine Mordtat hatten vor drei Jahren natürlich auch das Rathaus erreicht. Dort wurden aber alle Hinweise darauf abgewiesen und diejenigen, die diese Vorwürfe vorbrachten, als "Spinner" abgetan.

Nach Informationen des sächsischen SPD-Landtagsfraktionsvorsitzenden Thomas Jurk war auch die sächsische Landesregierung schon bald nach dem Tode Josephs darüber informiert worden, dass es sich nicht um einen Badeunfall, sondern um einen durch Rechte verübten Mord handele. Jurk verwies auf ein Schreiben des inzwischen verstorbenen Landtagsabgeordneten Joachim Richter an den damaligen Justizminister Steffen Heitmann (CDU), der aber diese Hinweise ignorierte.

Heitmanns Nachfolger Manfred Kolbe (CDU) hat am vergangenen Montag der Stadt Sebnitz empfohlen, Schadenersatzforderungen gegen die Bild-Zeitung zu stellen, die den Fall ins Rollen gebracht hat. Dass eine solche Äußerung des Justizministers, des weisungsberechtigten Vorgesetzten der Staatsanwaltschaft, weder den Ermittlungseifer der Staatsanwälte noch die Aussagebereitschaft der Zeugen stärkt, versteht sich von selbst. Mitten in einem offenen Verfahren grenzt sie an Strafvereitelung.

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