Bericht des Haager Kriegsverbrechertribunals:

Die Opferzahlen im Kosovo wurden übertrieben

"Die endgültige Anzahl der Leichen wird unter 10.000 liegen und sich wahrscheinlich auf zwei- bis dreitausend belaufen." Zu dieser Schlussfolgerung gelangte das Haager Kriegsverbrechertribunal zum Kosovo, wie sein Sprecher Paul Risley am 17. August erklärte.

In den drei Monaten, in denen diesen Sommer Exhumierungen durchgeführt wurden, fanden die internationalen Gerichtsmediziner des Tribunals an 150 Stellen 680 Leichen. Diese kommen zu den 2.108 Leichen hinzu, die im letzten Jahr an 195 Stellen gefunden worden waren. "Wir gehen davon aus, dass wir im Oktober über ausreichend Klarheit verfügen, so dass wir die Ausgrabungen durch ausländische Teams beenden können, und dass diese nächstes Jahr nicht mehr nötig sein werden", sagte Risley.

Die Zahl von 3.000 liegt weit unter der, die während des Kriegs genannt worden war. Auf dem Höhepunkt der Bombardierung sprachen die westlichen Regierungen von wahllosen Tötungen und von bis zu 100.000 Zivilisten, die von den Serben aus den Flüchtlingstrecks herausgegriffen worden seien. Der amerikanische Verteidigungsminister, William Cohen, sagte in den CBS Nachrichten im Mai 1999, 100.000 Männer im militärtauglichen Alter würden vermisst und "könnten ermordet worden sein". David Scheffer, US-Beauftragter für Kriegsverbrecherfragen, nannte sogar noch eine höhere Zahl und erklärte, dass über 225.000 ethnische Albaner im Alter zwischen 14 und 59 Jahren vermisst würden.

Am 17. Juni 1999, am Ende der NATO-Bombenkampagne sagte Geoff Hoon, damaliger Staatssekretär im britischen Außenministerium, dass "mindestens 10.000" albanische Zivilisten getötet worden seien. Diese Zahl wurde fünf Monate später in einem Memorandum für das Unterhaus wiederholt, wobei behauptet wurde, sie stütze sich auf "verschiedene Geheimdienst- und andere Quellen".

Der Bericht des Haager Tribunals könnte deshalb die westlichen Regierungen und auch die Medien in Verlegenheit bringen. Graham Blewitt, stellvertretender Staatsanwalt beim internationalen Verbrechertribunal der UN für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, warnte davor, wie er sagte, "mit Zahlen zu spielen", ehe er bekannt gab, dass die endgültige Zahl bei vier- oder fünftausend liegen oder vielleicht auch niemals genau ermittelt werden könne, weil ja "bekannt" sei, dass die Serben viele Leichen "eingeäschert" hätten.

Die NATO sagte, die Zahl von 10.000 Toten sei niemals die "Schätzung der Allianz" gewesen, während deren Sprecher Mark Laity erklärte: "Die NATO hat niemals gesagt, alle Vermissten seien tot. Die Zahl, die wir annahmen, lautete 10.000. Wenn sie falsch ist, bin ich bereit, dafür gerade zu stehen, wenn Tausende noch leben, von denen wir glaubten, sie seien ermordet."

Die NATO hatte ihre 76 Tage dauernde Bombardierung Jugoslawiens mit der Begründung gerechtfertigt, sie müsse einer massenhaften humanitären Katastrophe vorbeugen. Was die Westmächte nun zynisch als "Zahlenspiele" abtun, haben sie selbst vor dem Konflikt ausgiebig betrieben. Übertriebene Zahlen serbischer Gräueltaten gegen ethnische Albaner wurden veröffentlicht, und der Bürgerkrieg im Kosovo mit dem Nazi-Holocaust gleichgesetzt.

Diese Propaganda wird durch die jetzt bestätigten Zahlen der Opfer widerlegt.

In der amerikanischen und britischen Presse wurde so gut wie nichts über die Erklärung des Kriegsverbrechertribunals berichtet. Die meisten großen Zeitungen waren daran interessiert, die Nachricht unter den Teppich zu kehren, weil sie die angeblichen Ziele der NATO unkritisch unterstützt und ihre Völkermordvorwürfe gegen Serbien wiedergekäut hatten.

Nur der britische Guardian hielt es für nötig, seine Unterstützung für die NATO-Bombardierung im Lichte der anfänglichen Erkenntnisse des Haager Tribunals zu rechtfertigen. In einem Artikel vom 18. August heißt es, dass "Kommentatoren gestern betonten, dass die neuen Details nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass die wichtigsten Anklagepunkte des Tribunals gegen den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic und vier andere serbische Politiker ethnische Säuberung des Kosovo und zwangsweise Vertreibung Hunderttausender von Menschen lauten."

Der Leitartikel derselben Ausgabe informierte die Leser: "Der Krieg der NATO gegen Jugoslawien hat in diesem Land zu mehr Kontroversen geführt, als jede andere außenpolitische Krise seit einem halben Jahrhundert. ... Der Guardian hat an dieser Debatte teilgenommen und die Entscheidung der Regierung unterstützt, zu intervenieren."

Der Rest des Artikels bemüht sich dann, zu begründen, warum die Zeitung damit recht gehabt habe. Es wird behauptet, sie habe alle Aspekte des Kriegs "sorgfältig durchleuchtet", und im nächsten Atemzug zugegeben, dass Großbritannien und die USA die Ungenauigkeit ihrer Bombenangriffe verschleiert hätten. Was die "Behauptungen über übertriebene Massaker" angeht, so der Guardian weiter, müsse man den Verantwortlichen "Fehlurteile und Manipulation" vorwerfen. "Keine Regierung konnte genau wissen, was im Kosovo passierte, während die Luftschläge stattfanden. Aber anstatt eine gewisse Vorsicht gegenüber den Berichten traumatisierter Flüchtlinge über Grausamkeiten walten zu lassen, wiederholten die NATO-Regierungen diese, um die Unterstützung für die Bombardierungen zu erhalten."

Der Leitartikel schließt: "Die Summe dieser Kritikpunkte ändert aber nichts an der zentralen Frage. War eine Intervention notwendig?" Die Antwort der Zeitung lautet: "Verbrechen in großem Stil sind im Kosovo begangen worden. Deswegen sind wir für eine Intervention von außen eingetreten. Und trotz aller damit verbundenen Fehler und Lügen glauben wir immer noch, dass das richtig war."

Der Guardian stellt keine tiefergehenden Fragen über die revidierten Opferzahlen. Er fragt zum Beispiel nicht, wie viele der dreitausend exhumierten Leichen vor den NATO-Bombardierungen getötet wurden, wie viele Serben oder Albaner es waren oder wie viele Leichen eindeutige Zeichen von Folter oder Hinrichtungen aufwiesen. Die UNO hat keine Absicht, solche Informationen zu enthüllen, und der Guardian hat keine Absicht, sie zu verlangen.

Der Guardian spielte gemeinsam mit seiner Schwesterzeitung, dem Sonntagsblatt Observer, in der Kosovo-Kampagne eine Schlüsselrolle - selbst im Kontext der beinahe einstimmigen Unterstützung der Medien für die NATO. Diese beiden Zeitungen werden weithin als Organe der liberalen britischen Intelligenz angesehen und galten früher als Forum für abweichende Ansichten - auch für die Kritik an den militärischen Aktivitäten der Großmächte. Aber wie so viele frühere Reformisten, Liberale und Pazifisten sind der Guardian und der Observer immer weiter nach rechts gedriftet.

Ihr Rolle als "Falken" bei der Verteidigung der NATO-Bombardierung Serbiens half der Blair-Regierung dabei, den Krieg zu rechtfertigen und die relativ kleine Zahl liberaler Intellektueller und Künstler einzuschüchtern, die eine oppositionelle Haltung beibehielten.

Der Observer kritisierte im März letzten Jahres die Kriegsgegner mit den Worten: "Es gibt keine Alternative. ... Wir müssen in der Welt leben, wie sie ist, und nicht in einem Utopia." Der Guardian -Journalist Jonathan Freedland schrieb am 25. März: "Die alte Linke muss die Welt sehen, wie sie sich heute entwickelt. Der Spruch der Lords vom Mittwoch über Pinochet weist auf eine neuartige internationale Rechtsauffassung hin, die es Staatsoberhäuptern nicht mehr erlaubt, wahllos zu töten und zu verstümmeln, selbst nicht in ihrem eigenen, souveränen Land. Der Nachthimmel über Belgrad sagt das gleiche. Beide machen sie die Welt zu einem ungemütlicheren Platz für Diktatoren - und sicherer für die Schwachen und Machtlosen."

Ganze Artikel wurden der Verurteilung derer gewidmet, die gegen den Krieg waren und die NATO-Propaganda entlarvten, wie der Schriftsteller Harold Pinter und der Journalist John Pilger.

Angesichts einer solch verachtungswürdigen Bilanz glaubte der Guardian offenbar, die jüngsten Eingeständnisse des Haager Tribunal nicht einfach ignorieren zu können. Stattdessen fühlte er sich veranlasst, die durchsichtige Begründung der NATO für die Bombardierung Serbiens in einem pathetischen Versuch der Selbstrechtfertigung zu wiederholen. Man kann nur hoffen, dass diejenigen, die dem Anspruch der Zeitung auf redaktionelle Integrität naiverweise aufsaßen, aus dieser bedauerlichen Episode die notwendigen Konsequenzen ziehen werden.

Siehe auch:
Artikel zum Kosovo-Krieg
Loading