SPD-Landesregierung droht türkischer Bevölkerung

Mangelnde Deutschkenntnisse als Ausweisungsgrund

Am Montag, den 9. April, erschien die in Düsseldorf herausgegebene Zeitung Rheinische Post mit der Schlagzeile: "NRW will Neuregelung des Ausländerrechts: SPD warnt Türken: Deutsch lernen oder weniger Geld." Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Friedrich Behrens (SPD) beklagte gegenüber der Zeitung die mangelnden Integrationsbemühungen der aus der Türkei eingewanderten Bevölkerung.

Die Türken würden sich zunehmend abkapseln und hätten mangelnde Deutschkenntnisse, so Behrens. Er drohte: "Den Türken müsste zur Pflicht gemacht werden, Deutsch zu lernen. Als Druckmittel könnte zumindest die Kürzung von sozialen Hilfen (Wohngeld oder ähnliches) erwogen werden." Im schlimmsten Fall müsse der, der nicht lernen will, mit Ausweisung rechnen, erklärte Behrens weiter.

Die Pflicht zum Deutsch-Kurs soll Teil eines Gesamtkonzepts zur Neuregelung des Ausländerrechts werden, das Behrens zusammen mit dem Arbeits- und Sozialminister von NRW, Harald Schartau (ebenfalls SPD) vorbereitet. Schartau war vor seiner Berufung ins Kabinett von NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) viele Jahre Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen. Am 24. April soll die SPD-Landtagsfraktion über den Entwurf beraten, bevor er nach Berlin weitergeleitet wird.

Ziel der Neuregelung soll die Ersetzung des auf Bundesebene bestehenden Ausländerrechts sein. Die Kernpunkte, die Presseberichten zufolge in dem Entwurf enthalten sein sollen, zielen allerdings eher auf Begrenzung und Ausgrenzung ab statt auf Integration der nach Deutschland gekommenen und weiterhin kommenden Menschen.

So soll nach der Vorstellung von Behrens und Schartau die Zuwanderung vor allem unter dem Aspekt geregelt werden: "Wer wird gebraucht?" Des weiteren enthält das Papier Vorschläge für Integration und Qualifizierung von Migranten in Deutschland, klare Regelungen für Aussiedler und die Forderung nach beschleunigten Asylverfahren. Das Grundrecht auf Asyl soll zwar auf dem Papier erhalten bleiben, in der Praxis aber noch stärker eingeschränkt werden, als es bereits jetzt der Fall ist.

Fast zeitgleich ging die Ausländerbeauftragte von Berlin, Barbara John (CDU), mit ähnlichen Vorwürfen an die Öffentlichkeit. 42 Prozent der 127.000 in Berlin lebenden Türken seien arbeitslos. Viel zu wenige würden ausreichend Deutsch sprechen und zu viele mit ihren Kindern nur in ihrer Muttersprache sprechen. Zusätzlich kam noch der Vorwurf, dass nach wie vor viele in Deutschland lebende Türken ihre Angehörigen in der Türkei mit regelmäßigen Geldüberweisungen unterstützten. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage in der Türkei und dem fast völligen Fehlen eines Sozialversicherungssystems ist dies wohl kaum zu verurteilen, sondern ein hoch anzurechnendes menschliches Solidarverhalten.

Diese Angriffe von Politikern der SPD und CDU auf einen großen Teil der in den letzten Jahrzehnten eingewanderten Bevölkerung aus der Türkei haben Proteste von Ausländerbeiräten und Vertretern der türkischen Botschaft hervorgerufen. Sie machen darauf aufmerksam, dass die 2,4 Millionen in Deutschland lebenden Türken einen nicht unerheblichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik beisteuern und auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen einen eigenständigen Integrationsbeitrag leisten, der nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und anerkannt wird.

Von Seiten der deutschen Behörden werde zwar ständig Integrationsbereitschaft gefordert, aber Angebote zur Integration wie ausreichende Deutsch-Kurse und Hilfen in der Schule oder bei Behörden sind kaum und nicht ausreichend vorhanden. Ebenso fehlen Plätze in Kindergärten und Kindertagesstätten sowie zusätzliche Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Schüler.

Der Leiter des Zentrums für Türkei-Studien in Essen, Faruk Sen, wies auf mangelnde Anstrengungen von Seiten des Staats und der Stadt zur Integration der in Berlin lebenden Türken hin. In Bezug auf die hohe Arbeitslosigkeit sagte er: "Wer 50 ist, hat es auch mit guten Sprachkenntnissen schwer." Auch in Nordrhein-Westfalen ist die Arbeitslosigkeit unter Türken überdurchschnittlich hoch. Sie beträgt 23 Prozent (bundesweit 19,4 Prozent).

In der gegenwärtigen Debatte wird oft übersehen oder bewusst verschwiegen, dass in den fünfziger und sechziger Jahren ausländische Arbeiter angeworben wurden. Angesichts des Arbeitskräftemangels in der frühen Bundesrepublik führten Großbetriebe systematische Anwerbekampagnen durch, zuerst in Italien, später in Jugoslawien und der Türkei. 1961 unterzeichnete Deutschland das erste Anwerbeabkommen mit Ankara.

Ein Grund für die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter der ausländischen Bevölkerung liegt darin, dass ein großer Teil der angeworbenen türkischen Arbeiter schwerste Arbeit in Schichtbetrieben der Auto- und Stahlindustrie und im Bergbau geleistet haben. Sowohl die Schichtarbeit als auch die oft zu leistenden Überstunden machten eine regelmäßige Teilnahme an Sprachkursen fast unmöglich.

Schon damals gab es kein flächendeckendes und auf die Bedürfnisse der Einwanderer abgestimmtes Angebot an Sprachkursen oder anderen Eingliederungshilfen. Die von Regierungsseite damit befassten Einrichtungen gingen davon aus, dass die Arbeiter nur auf Zeit kommen würden; eine wirkliche Integration war nicht erwünscht.

Die ursprünglich auf zwei Jahre begrenzten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse wurden vor allem auf Druck der deutschen Unternehmen verlängert, die schnell bemerkt hatten, dass es überhaupt nicht ihren Interessen entsprach, alle zwei Jahre eingearbeitete türkische Arbeitskräfte, mit denen sie sehr zufrieden waren, wieder nach Hause zu schicken, um neue anzulernen, für die sich dann die Sprach- und Eingewöhnungsprobleme jedes Mal neu stellen würden.

Auch rechtlich wurden die Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Türkei durch eine Neuregelung des Kindergeldes, die am 1. Juni 1963 in Kraft trat, mit Arbeitern aus anderen Anwerbeländern, die Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren, gleichgestellt. Das Abkommen über soziale Sicherheit zwischen der Bundesrepublik und der Türkei vom 30. April 1964 schrieb diesen Rechtsanspruch fest und stellte die türkischen Arbeitnehmer auch in anderen wesentlichen Punkten mit den deutschen gleich.

Eine Neufassung der deutsch-türkischen Anwerbevereinbarung trat am 30. September 1964 in Kraft. Die von der türkischen Seite als diskriminierend bezeichneten Punkte waren nicht enthalten; die Beschränkung des Aufenthalts auf zwei Jahre fiel ersatzlos weg. Damit war der entscheidende erste Schritt zur (zumindest möglichen) Niederlassung und De-facto-Einwanderung von Arbeitsmigranten aus der Türkei getan. Die wirtschaftlichen Interessen der deutschen Unternehmer hatten hierfür die Grundlage geschaffen.

Von 1956 bis 1973 reisten insgesamt rund 5,1 Millionen Menschen aus den Anwerbestaaten legal zur Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik ein. Aus der Türkei kamen in den Jahren 1961 bis 1973 rund 866.000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Von der Gesamtzahl der in der Bundesrepublik jeweils beschäftigten Ausländer und Ausländerinnen stellte bis 1970 Italien den höchsten Anteil, danach Jugoslawien und seit Anfang 1972 die Türkei.

Von den Hauptanwerbeländern entsandte die Türkei 1961 bis 1973 den höchsten Anteil an qualifizierten Arbeitskräften. Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit zählte hierzu diejenigen Migranten, die auf eine Arbeitsstelle für angelernte Arbeiter oder Facharbeiter in der Bundesrepublik vermittelt wurden. Von allen 1961 bis 1973 staatlich angeworbenen Arbeitskräften aus der Türkei, einschließlich der Massenanwerbungen der frühen siebziger Jahre, machten diese qualifizierten Arbeiter einen Anteil von 30 Prozent aus. In absoluten Zahlen waren dies rund 197.000 Menschen, weit mehr als aus jedem anderen Anwerbeland. (Quelle: 50 Jahre Bundesrepublik, 50 Jahre Einwanderung; Kapitel: Fremde Heimat - Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei)

Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre waren ausländische Arbeiter meist überproportional von Entlassungen und Arbeitslosigkeit betroffen. In der Stahlindustrie und im Bergbau wurden seit dieser Zeit Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichtet, ebenso in der Autoindustrie und vielen anderen Bereichen. Vor allem Arbeitsplätze mit Anlerntätigkeiten wurden im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung und der Verlagerung von arbeitsintensiven Tätigkeiten in Länder mit Niedriglöhnen wegrationalisiert und ausgegliedert.

Im Stahlbereich und im Bergbau wurden vor allem Arbeiter aus der Türkei mit Rückkehrprogrammen, die einvernehmlich zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat ausgehandelt worden waren, zur Aufgabe ihres Arbeitsplatzes und ihres Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik gedrängt. Bekannt wurden diese Maßnahmen vor allem von den Stahlwerken Peine Salzgitter und den Mannesmann Röhrenwerken in Duisburg 1983/84.

Unter diesen Bedingungen wurde der Behördenton gegenüber ausländischen Arbeitern deutlich aggressiver. Zusammen mit einer mehr und mehr nationalistischen Politik nahmen in den achtziger und neunziger Jahren Ausländerfeindlichkeit und offener Rassismus sichtbar zu. Die Ursache für eine gewisse Abkapselung von Teilen der türkischen oder auch anderen Einwanderern ist also vor allem in dem feindlichen politischen Klima zu suchen, das Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland entgegen schlägt.

Auch die Drohung führender Politiker von SPD und CDU gegenüber einem großen Teil der türkischen Bevölkerung, sie müssten deutsch lernen oder gehen, ist Teil dieser reaktionären und bankrotten Politik und zielt darauf ab, neue Angriffe vorzubereiten. Gab es schon zur Anfangszeit der gewünschten Einwanderung aufgrund des hohen Arbeitskräftebedarfs kein ausreichendes Angebot an Sprachkursen und anderen Hilfen, so hat sich die Situation in den letzten Jahren aufgrund des harten Sparkurses auf bundes-, landes- und kommunaler Ebene noch weiter verschärft.

Beispielhaft sei hier nur die Stadt Duisburg angeführt, die von SPD und Grünen regiert wird und einen hohen Anteil aus der Türkei stammender Bevölkerung hat. Laut dem neuesten Sparpaket muss die Volkshochschule in Duisburg bis 2002 über 900.000 DM einsparen. Dadurch sind auch Kurse wie "Deutsch für Ausländer" und zur politischen Weiterbildung gefährdet. Das Interesse an diesen Kursen ist hoch. Durchschnittlich melden sich zwischen 12.000 und 13.500 Teilnehmer für diese Kurse pro Semester an.

Der Vorsitzende des Bundesausländerbeirats Memet Kilic hat als Reaktion auf die jetzt losgetretene Debatte deutsche Politiker aufgefordert, Türkisch zu lernen. Türkisch sei in Deutschland die am zweithäufigsten gesprochene Muttersprache. Er vermutet, dass die Diskussion über mangelnde Deutschkenntnisse von Zuwanderern und die Einführung von Pflichtkursen von der Zuwanderungskommission unter Leitung von Rita Süßmuth (CDU) angestoßen wurde, um Einwanderer abzuschrecken und auf kommende Zwangsmaßnahmen vorzubereiten.

Diese von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) einberufene Kommission soll bis Anfang Juli ihre Vorschläge für eine begrenzte Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland vorlegen. Hintergrund sind die Forderungen der Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften vor allem im Bereich der Informationstechnologie, aber auch vielen anderen Bereichen. Trotz des offensichtlichen Bedarfs an Zuwanderung scheinen die Vorschläge, die die Kommission zur Diskussion vorlegen wird, vor allem von Ab- und Ausgrenzung geprägt.

Nur unter bestimmten Bedingungen, die noch nicht öffentlich bekannt wurden, sollen Ausländer mit befristeten Aufenthaltsbewilligungen die Möglichkeit erhalten, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Selbst der Zuzug von hochqualifizierten Arbeitskräften soll nur nach einem komplizierten Punktesystem möglich sein. Auch wenn immer wieder betont wird, dass das Asylrecht - soweit es noch existiert - nicht angetastet werden soll, so deutet doch der Plan verschiedener Aufenthaltskategorien darauf hin, dass die Aufnahme von Zuflucht suchenden Menschen gegen die Aufnahme derer, "die gebraucht werden", aufgerechnet werden soll.

Ähnlich wie die von Bundeskanzler Gerhard Schröder losgetretene Kampagne gegen die angeblichen Drückeberger unter den Arbeitslosen dient auch die Kampagne gegen die mangelnde Integrationswilligkeit von Ausländern dazu, angesichts zunehmender Wirtschaftsprobleme drastische Kürzungen im sozialen Bereich vorzubereiten. Gleichzeitig muss man diese populistischen Anschuldigungen auch als einen Versuch verstehen, Teile der arbeitenden Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen, um einen gemeinsamen Widerstand gegen die unsoziale Politik von Bundes- und Landesregierung bereits im Keim zu ersticken.

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