Straßburg bestätigt Verbot türkischer Islamisten

Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Am 31. Juli hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden, das Verbot der islamistischen Refah- (Wohlfahrts-) Partei in der Türkei sei kein Verstoß gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 11, festgeschriebene Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit. Das Urteil folgte nur kurze Zeit, nachdem auch die Nachfolgepartei der Refah, die Fazilet- (Tugend-) Partei verboten wurde.

Die Refah war Anfang 1998 verboten worden. Ihr Vermögen wurde eingezogen und einige ihrer Parteifunktionäre, darunter auch ihr Vorsitzender Necmettin Erbakan, zu mehrjährigem Politikverbot verurteilt. Die Straßburger Richter meinten nun, dies sei gerechtfertigt gewesen, um die Demokratie zu schützen.

Als erstes muss man sich hier natürlich fragen: Welche Demokratie?

Die Refah war mit über vier Millionen Mitgliedern größte türkische Partei. Sie hatte in den Parlamentswahlen Ende 1995 klar die meisten Stimmen und Mandate gewonnen. Auf dieser Grundlage war Erbakan im darauffolgenden Jahr Ministerpräsident geworden.

In ihrer Regierungszeit schürte die Refah zwar religiöse Vorurteile und Rückständigkeiten. Sie ging damit aber nicht wesentlich über das hinaus, was bei den etablierten konservativen Parteien schon seit Jahrzehnten üblich ist. Sie hat z.B. nicht wie die deutsche CSU zum Widerstand gegen das Verfassungsgericht aufgerufen, um die zwangsweise Anbringung religiöser Symbole in Schulen zu verteidigen.

Weder in Ankara noch in Straßburg konnte der Refah nachgewiesen werden, gegen Gesetz oder Verfassung verstoßen zu haben. Erbakan hat keines seiner demagogischen Wahlversprechen eingehalten. Er brach weder die Beziehungen zur EU oder zu Israel ab, noch ließ er die amerikanischen Militärbasen in der Türkei schließen. Alles was die Staatsanwaltschaft in dem Verbotsverfahren anführen konnte, waren deshalb einige zusammengestückelte Auszüge aus Reden von Parteifunktionären, die teilweise schon Jahre zurücklagen oder deren Autoren umgehend aus der Partei ausgeschlossen worden waren.

Trotzdem inszenierte das Militär mit der Hilfe von Medien und Gewerkschaften ein massive Kampagne von Angst, Einschüchterung und Repression, die schließlich Mitte 1997 im "Kalten Putsch", dem Sturz Erbakans, gipfelte. Das türkische Verfassungsgericht vollendete diesen Putsch, indem es die Aktionen des Militärs sanktionierte und die Refah verbot.

Nun hat sich auch Straßburg dem Demokratieverständnis des türkischen Militärs angeschlossen. Dies obwohl dort sonst kaum eine Woche vergeht, in der die Türkei nicht wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird - die Fälle reichen von schwerer Folter bis zum "Verschwindenlassen" von Menschen und dem Niederbrennen ganzer Dörfer.

Einige deutsche Zeitungen haben das Urteil kritisiert. So heißt es im Tagesspiegel vom 1. August : "Das Verbot stützt sich nicht auf das Programm der Partei, sondern auf Taten und Reden einzelner Mitglieder. Das Gericht räumt auch ein, dass etwa das Bekenntnis zum Kopftuch an sich kein Verbotsgrund ist - folgt dann aber Ankara, dass darin das,uneingestandene Ziel‘ eines islamischen Gottesstaates sah. Bei diesen Spekulationen über die Motive einer Partei, die sich an der Regierung nichts Konkretes zu Schulden kommen ließ, bleiben die Grundrechte auf der Strecke."

Und die taz kommentiert: "Die Bedrohung der verfassungsmäßigen Grundordnung kann - legt man es darauf an - immer abgeleitet werden. Findet man nichts im Parteiprogramm, dann liegt das belastende Material auf der Straße: der Organisationsaufbau, die Rhetorik der Politiker und die Parteipropaganda."

Bei der Refah und ihren Nachfolgeorganisationen handelt es sich ohne Zweifel um rechte, reaktionäre Parteien. Dennoch ist die Unterstützung, die sie in der Bevölkerung genießen, Ausdruck einer wachsenden gesellschaftlichen Opposition gegen die herrschende Elite der Türkei. Unter Umständen, wo Sozialdemokraten, Konservative, Faschisten, Gewerkschaften und Militärs eng zusammenarbeiten, während der Lebensstandard der Bevölkerung regelrecht zusammenbricht, erscheinen die Islamisten als einzige politische Kraft, die nicht völlig in das politische System integriert ist.

Der Einfluss des Islamismus kann nur im offenen politischen Kampf, durch den Aufbau einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse zurückgedrängt werden. Ihre Unterdrückung mittels der Beseitigung elementarer demokratischer Rechte ist dagegen Wasser auf die Mühlen der Militärs und schafft gleichzeitig einen Präzedenzfall, um gegen jede oppositionelle Bewegung vorzugehen.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bedeutet nicht nur den Schulterschluss mit den türkischen Generälen. Es macht deutlich, wie hohl der Anspruch der EU ist, eine "demokratische Wertegemeinschaft" zu sein. Es ist ein Warnsignal für die zukünftige Entwicklung in Europa selbst. Sobald eine politische Bewegung an Einfluss gewinnt, die den europäischen Institutionen und Regierungen nicht genehm ist, treten auch sie die demokratischen Grundrechte mit Füßen.

Siehe auch:
Türkische Wirtschaftskrise entwickelt sich zur Staatskrise
(17. April 2001)
Politische und soziale Fragen in der türkischen Finanzkrise
( 28. Februar 2001)
Europäischer Gerichtshof lässt Beschwerde von PKK-Führer Öcalan gegen Todesurteil zu
( 19. Dezember 2000)
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