Studie zeigt Folgen der "Reform" des Sozialsystems

In Milwaukee wächst jedes dritte Kind in einer Familie auf die trotz Arbeit arm ist

Roland Kochs Vorbild Wisconsin von wachsender Armut geprägt

Der hessische Regierungschef Roland Koch brachte sich jüngst in die Schlagzeilen, als er nach seiner Rückkehr von einer USA-Reise den Umgang mit Sozialhilfeempfängern im Bundesstaat Wisconsin als Vorbild für Deutschland empfahl.

Gegenüber dem Magazin Focus klagte Koch, der dem rechten Flügel der CDU angehört, die bestehende Gesetzgebung sei "zu weich beim Zwang". Er kündigte eine Initiative im Bundesrat an, um mit Hilfe einer Experimentierklausel ein an Wisconsin orientiertes Modell für Hessen durchzusetzen. Durch Hilfs- und Zwangsmaßnahmen wolle er die Zahl der Sozialhilfeempfänger "wenigstens halbieren". Koch drohte den Sozialhilfeempfängern: "Wer arbeitsfähig ist und sich dem Beschäftigungsprogramm verweigert, sollte sich auf ein sehr bescheidenes Leben bis hin zur Wohnunterkunft einstellen."

Während Kochs Pläne bei Sozialorganisationen Kritik hervorriefen, stieß der SPD-Vizechef und Verteidigungsminister Rudolf Scharping wenige Tage später in das gleiche Horn und forderte, jungen Arbeitslosen, die bestimmte Beschäftigungsangebote nicht annehmen, jegliche finanzielle Unterstützung zu streichen. Die CDU wiederum nahm Kochs Vorschläge umgehend in ihre Programmatik auf.

Der folgende Artikel von Paul Scherrer, der bereits im vergangenen Jahr auf der World Socialist Web Site erschienen ist, beschäftigt sich mit der Realität des Wisconsin-Modells.

Im Distrikt Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin nimmt die Zahl der Familien rasant zu, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben. So lautet das Ergebnis einer Studie, die an der Universität von Wisconsin durchgeführt wurde. 95.000 Kinder in Milwaukee wachsen in Familien auf, deren Einkünfte unter der Armutsgrenze liegen. Weitere 54.000 Kinder leben in Familien, in denen die Einkünfte der Eltern wesentlich unter dem Durchschnitt liegen; ihre Zahl nimmt jedes Jahr zu. Ein Drittel der Kinder im Distrikt Milwaukee ist somit von Armut betroffen, obwohl zumindest ein Elternteil Arbeit hat.

Die Studie ergab, dass die Zahl der arbeitenden Alleinerziehenden, die in Armut leben, in den letzten sechs Jahren um 38 Prozent gestiegen ist - ein Ergebnis davon, dass die Bewilligung von Sozialhilfe im US-Bundesstaat Wisconsin drastisch eingeschränkt wurde. Ein Drittel der Alleinerziehenden und ihrer Kinder lebt in Armut, ein weiteres Drittel befindet sich dicht an der Armutsgrenze.

Die Studie, der diese Angaben entnommen sind, trägt den Titel Ökonomischer Status des Distrikts Milwaukee und wurde vom Institut für Beschäftigung und Ausbildung an der Universität von Wisconsin erstellt. Sie befasst sich mit der Lohnentwicklung und dem Lebensstandard von Beziehern niedriger Einkommen seit der "Sozialhilfereform".

Im Vergleich zu anderen Bundesstaaten der USA betreibt Wisconsin eine ausgesprochen restriktive Sozialpolitik. Mit Genehmigung der Clinton-Regierung hatte der Gouverneur von Wisconsin, der Republikaner Tommy Thompson, bereits vor den Kürzungen an den bundesweiten Sozialleistungen im Jahr 1996 national verbindliche Rechtsansprüche für sein Bundesland außer Kraft gesetzt. Daraufhin hatte Wisconsin die Sozialhilfezahlungen erheblich reduziert.

Das Sozialprogramm von Wisconsin mit dem Titel "Wisconsin Works", abgekürzt W-2, geht weit über die Kürzungen hinaus, die durch die nationalen Richtlinien festgelegt wurden, obwohl auch diese die Sozialprogramme in den gesamten Vereinigten Staaten aushöhlen. Die nationalen Richtlinien schreiben beispielsweise vor, dass 30 Prozent der Sozialhilfeempfänger arbeiten müssen. Ausnahmen sind lediglich für Personen zulässig, die Kinder im Alter von weniger als einem Jahr haben. Das Winsconsiner Programm W-2 dagegen verpflichtet alle Personen zur Arbeit, sobald ihre Kinder zwölf Wochen alt sind.

Die nationalen Richtlinien erlauben den Bundesstaaten auch, dass sie einer Person 24 Monate lang Sozialhilfe gewähren, bevor sie zur Arbeit verpflichtet wird. Die Gesetze in Wisconsin verpflichten die Empfänger hingegen zur sofortigen Aufnahme einer Arbeit. Wisconsin erlaubt auch nicht, dass Sozialhilfeempfänger stattdessen zur Schule gehen, so dass Tausende das College oder andere Ausbildungsstätten verlassen mussten.

"Der Zweck der Sozialhilfereform bestand nie darin, das Leben der Sozialhilfeempfänger zu verbessern", sagt John Pawasarat, der Leiter des Beschäftigungs- und Ausbildungsinstituts. "Es ging nie um das materielle Wohlergehen der Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen waren. Oft wurde es so dargestellt, als ob es eine Verbesserung sei, wenn man eine Arbeitsstelle habe. Aber das eigentliche Ziel der Sozialhilfereform bestand darin, dass die Leute keine Sozialhilfe mehr beziehen, und das wurde erreicht."

Wisconsin war einer der Bundesstaaten, in denen die Zahl der Sozialhilfeempfänger am stärksten zurückging. Seit 1993 ist sie um 89 Prozent gesunken; damit liegt Wisconsin an zweiter Stelle hinter Wyoming, das einen Rückgang um 91 Prozent verzeichnet.

In Milwaukee, einer Industriestadt am Michigansee, erhalten jetzt weniger als 5.000 Familien Sozialhilfe. In den Jahren vor den Kürzungen bezogen zwischen 35.000 und 40.000 Familien Unterstützungsgelder.

Die Befürworter der Sozialhilfereform behaupten, dass das Ende der "Abhängigkeit" ehemaligen Sozialhilfeempfängern erlaube, sich selbst zu versorgen und ihren Lebensstandard zu heben. In Wirklichkeit nahmen Tausende Menschen, denen die Sozialhilfe gestrichen wurde, schlecht bezahlte Arbeit an. Zum Teil erhalten sie dazu geringe Unterstützungsleistungen, haben aber auch höhere Ausgaben für Transport, Kinderbetreuung und anderes.

"Größtenteils sind diese Familien zu working poor families geworden", sagt Pawasarat, d. h. die Familien leben unter der Armutsgrenze, obwohl mindestens eine Person im Haushalt erwerbstätig ist. Die Regierung des Bundesstaats hat wiederholte Anfragen nach Einkommensstatistiken ehemaliger Sozialhilfeempfänger nicht beantwortet. "Das liegt daran, dass sie die Ergebnisse kennen. Es sind die gleichen Ergebnisse, zu denen wir gekommen sind", kommentiert Pawasarat. "Etwa ein Drittel arbeitet nicht. Ein Drittel arbeitet und entkommt der Armut trotzdem nicht. Und ein Drittel arbeitet und lebt geringfügig oberhalb der Armutsgrenze. Dies sind die Ergebnisse von Untersuchungen im ganzen Land."

Tatsächlich zeigt eine frühere Studie über Einkommensentwicklung, dass nur 17 Prozent der ehemaligen Sozialhilfeempfänger einen Lohn erhalten, der sie über die Armutsgrenze hebt. Weitere 22 Prozent liegen mit ihrem Einkommen unter der Armutsgrenze, verdienen aber mehr als in einem ganzjährigen Vollzeitjob zum Mindestlohn. Und weitere 22 Prozent verdienen weniger als den Mindestlohn.

Aus den Zahlen ergibt sich weiterhin, dass vier von zehn ehemaligen Sozialhilfeempfängern überhaupt kein Einkommen mehr haben.

"Insgesamt betrachtet sind Kinder viel schlechter dran als vor sechs Jahren", sagt Joyce Mallow, Leiterin der Organisation Smart Start, die sich um die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kleinkindern bemüht. "Die Familien sind raus aus der Sozialhilfe, und obwohl eine Person arbeitet, verdienen sie nicht genug, um für ihre Kinder zu sorgen."

Ein Resultat dieser Entwicklung ist die Zunahme von Obdachlosigkeit, berichtet Mallow. "Obdachlosigkeit wird zu einem wirklichen Problem. Im letzten Jahr gab es 12.000 Zwangsräumungen, und wir beobachten einen deutlichen Anstieg der Zahl von Frauen und Kindern, die Obdachlosenasyle aufsuchen. Weil der Winter in Wisconsin sehr hart ist, gibt es zusätzlich zu den regulären Obdachlosenasylen noch ein Netzwerk von Notunterkünften, die in kalten Nächten diejenigen aufnehmen, die in den Asylen keinen Platz mehr gefunden haben. In den letzten zwei Jahren hatten diese Notunterkünfte das ganze Jahr über geöffnet."

Neben der drastischen Verringerung der Sozialhilfezahlungen gibt es Zehntausende Familien, die ihnen rechtlich zustehende staatliche Unterstützungsleistungen wie Lebensmittelmarken, Krankenversicherung und Kinderbetreuung nicht erhalten.

Wisconsin hat die Verwaltung der Sozialhilfeprogramme privatisiert. In Milwaukee betreiben insgesamt fünf verschiedene Träger das Programm W-2, darunter befinden sich auch kommerzielle Unternehmen. Im Rahmen ihrer sogenannten "weichen" Politik geben die Sachbearbeiter den Menschen, denen die Sozialhilfe gestrichen wurde, keinen Hinweis darauf, dass sie möglicherweise Anspruch auf andere Unterstützungsleistungen haben - außer sie werden gezielt darauf angesprochen.

"Es gibt eine Bürokratie, die es schwer macht, etwas zu beantragen", sagt Mallow. "Wenn man eine Arbeit hat, kann man schließlich nicht den ganzen Tag auf einem Sozialamt zubringen, um Formulare auszufüllen, und dann jeden Monat wiederkehren, um sein Einkommen zu belegen. Wenn eine Person nicht zum Bezug von Sozialhilfe berechtigt ist, so gehen die Ämter davon aus, dass sie auch keinen Anspruch auf Lebensmittelmarken und Kinderbetreuung hat, selbst wenn dies der Fall ist."

Seit das Programm W-2 eingeführt wurde, hat die Zahl der Kinder, die Lebensmittelmarken erhalten, um 23.000 abgenommen. Die Zahl der Kinder, deren Krankenversicherung vom Staat finanziert wird, ist um 16.000 gesunken.

Nur 25 Prozent der Berechtigten erhalten tatsächlich staatlich finanzierte Kinderbetreuung. Nach Angaben von Pawasarat gibt es viele Fälle, in denen Familien die Unterstützungsleistungen nicht erhalten, die ihnen versprochen worden waren.

"Die Vorgaben wurden so gestaltet, dass Kindern nur ein Platz in einer Tagesbetreuung zusteht", sagt Pawasarat. "Für viele Menschen in schlecht bezahlter Arbeit ist das ungünstig. Viele arbeiten abends, an den Wochenenden oder in Teilzeit. Unter den neuen Bestimmungen können Sie keinen Verwandten, Nachbarn oder Teenager aus dem Viertel mit der Kinderbetreuung beauftragen...

Die Belohnungen, die denen versprochen wurde, die aus der Sozialhilfe herausgehen, sind nicht verfügbar. Im Großen und Ganzen werden die versprochenen Programme - Lebensmittelmarken, Krankenversicherung und Kinderbetreuung - nicht genutzt."