Staatsaufrüstung in den neunziger Jahren

Wie die Befugnisse des Staates schrittweise erweitert wurden

In den letzten Jahren sind, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene eine Fülle neuer Eingriffsbefugnisse für die Sicherheitsbehörden geschaffen worden. Zusammengefasst hier ein - nicht vollständiger - Überblick über die wichtigsten Befugniserweiterungen der neunziger Jahre:

Dabei stehen zuvorderst Befugniserweiterungen im Polizeirecht:

Die Polizeigesetze der Länder haben inzwischen fast durchgehend die Höchstfristen für den polizeilichen Gewahrsam verlängert. Von herkömmlichen 48 Stunden wurde die Frist auf vier, zehn im Höchstfall sogar 14 Tage ausgedehnt (Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen). Keinerlei zeitliche Begrenzung gilt in Bremen.

  • Schon seit Jahren erlauben die in den Polizeigesetzen vorgesehen großen Lauschangriffe das heimliche Lauschen in oder aus Wohnungen. Auch Regelungen über heimliche Datenerhebungen außerhalb von Wohnungen finden sich mittlerweile in allen Polizeigesetzen.
  • Darüber hinaus wurde verbreitet die sogenannte Rasterfahndung eingeführt, die den automatisierten Datenabgleich mit vorhandenen Datenbeständen erlaubt sowie die Befugnis der Polizei, von öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen die Übermittlung von personenbezogenen Daten zu verlangen.
  • Aus dem Bereich der heimlichen Datenerhebungsmethoden ist die Einführung von Verdeckten Ermittlern in fast alle Polizeigesetze zu nennen, das sind Polizeibeamte, die Ausforschungsmaßnahmen unter einer auf Dauer angelegten Legende durchführen.
  • In mehreren Polizeigesetzen wurde daneben die sogenannte verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrolle ("Schleierfahndung") eingeführt. Sie erlaubt Identitätsfeststellungen gegen jeden Menschen in bestimmten Bereichen oder im gesamten Gebiet eines Bundeslandes, ohne dass gegen den Betroffenen irgendein Strafverdacht bestände oder dieser in irgendeiner Weise störte.
  • In einigen Polizeigesetzen wurden ferner sogenannte Aufenthaltsverbote festgelegt, die den betroffenen Menschen das Betreten oder Durchqueren von ganzen Stadtteilen für einen mehrmonatigen Zeitraum untersagen.
  • Zu nennen sind daneben Befugniserweiterungen im Bundespolizeirecht, zu denen etwa verdachts- und ereignisunabhängige Kontrollen in Zügen der deutschen Bahn (und anderen Verkehrsunternehmen) gehören. Neue Befugnisse enthält auch das neue BKA-Gesetz (Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten), das beispielsweise seit 1997 eine eigene Befugnis zum großen Lauschangriff enthält.

Auch im Bereich des - bundesweit geltenden - Strafprozeßrechts hat es in den 90er Jahren eine Reihe von eklatanten Befugniserweiterungen gegeben:

  • Zu nennen ist hier insbesondere das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) von 1992. An konkreten neuen Befugniserweiterungen finden sich darin etwa: die visuelle Observation mit technischen Mitteln und die Legalisierung des sogenannten kleinen Lauschangriffs, das heißt, die verdeckte Datenerhebung mit technischen Mitteln außerhalb von Wohnungen. Auch der Einsatz von Verdeckten Ermittlern wurde auf diese Weise in die Strafprozeßordnung eingeführt.
  • Durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 wurde nicht nur der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ausgeweitet, sondern auch das beschleunigte Verfahren eingeführt, das Verurteilungen von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder einer Maßregel zur Besserung und Sicherung ermöglicht. Die Rechte der Verteidigung und das Beweisrecht sind hier zum Teil erheblich eingeschränkt.
  • Mittels des Strafverfahrensänderungsgesetzes - DNA-Analyse ("Genetischer Fingerabdruck") wurde 1997 insbesondere die Befugnis der Ermittlungsbehörden festgesetzt, Beschuldigten abgenommene Blutproben oder sonstige Körperzellen molekulargenetisch zu untersuchen und mit Spurenmaterial zu vergleichen.
  • Den vorläufigen Höhepunkt der Befugniserweiterungen bildete 1998 die Einführung des rechtspolitisch heftig umstrittenen großen Lauschangriffs. Seitdem dürfen die Strafverfolgungsbehörden auch (Privat-)Wohnungen "verwanzen" oder mittels technischer Mittel von außerhalb Gespräche in Wohnräumen aufnehmen und speichern. Da jeder Lauschangriff zwangsläufig viele Unschuldige trifft, ist dadurch das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (GG, Art. 19, Abs. 2) in seinem Wesensgehalt angetastet.

Ähnliche gravierende Gesetzesänderungen gab es in den 90er Jahren auch im Recht der Geheimdienste:

  • So hat der bayerische Gesetzgeber im Jahr 1994 die Aufgabe zur Überwachung der Organisierten Kriminalität in das Bayerische Verfassungsschutzgesetz eingefügt. "Damit ist ein bundesdeutscher Geheimdienst erstmalig auch für einen Bereich zuständig, in dem es nicht um die Überwachung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen geht, sondern um die Befassung mit ‚normaler‘ Kriminalität. Der bayerische Verfassungsschutz darf seitdem den Strafverfolgungsbehörden Erkenntnisse übermitteln, die er im Wege seiner Aufgabenerfüllung erlangt. Insofern wurde dem Bayerischen Verfassungsschutz eine strafverfolgende Tätigkeit übertragen ..." (Fredrik Roggan, Auf legalem Weg in einen Polizeistatt, S.19)
  • Auch die Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes (BND) sind in jüngster Vergangenheit erheblich erweitert worden. Mit dem bereits genannten Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 erhielt er die Befugnis zur strategischen Rasterfahndung, das heißt zur kontinuierlichen Kontrolle des internationalen und nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehrs (Telefonate, Telefaxe etc.). Die hierbei gewonnen Erkenntnisse gibt der BND im "aus seiner Sicht" erforderlichen Umfang an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weiter. Auch er wird damit in den Dienst der Strafverfolgungsbehörden gestellt.

Weitere Befugnisse wurden der staatlichen Exekutivgewalt außerhalb der genannten Rechtsbereiche im Telekommunikationsgesetz von 1996 eingeräumt. Dieses verpflichtet die privaten Betreiber von Telekommunikationsdiensten beispielsweise zur Führung elektronischer Kundendateien, die u.a. Polizei, Staatsanwaltschaften und Geheimdiensten zur informationellen Selbstbedienung offenstehen. Dazwischen geschaltet ist die neu errichtete Regulierungsbehörde. "Das Abrufverfahren muss so gestaltet sein, dass weder das Telekommunikationsunternehmen noch gar der Kunde von der Datenübermittlung erfahren. Handy-Besitzer müssen also nicht nur damit rechnen, abgehört zu werden, sondern unterwerfen sich der Möglichkeit staatlicher Totalerfassung bis hin zur Erstellung von Bewegungsbildern anhand der Funkzellen-Protokolldaten." (Martin Kutscha)

Fazit:

Feststellbar bei all diesen Befugniserweiterungen ist nicht nur eine schrittweise Übernahme geheimdienstlicher Methoden durch die Polizei, deren Kontrolle durch Gerichte und Öffentlichkeit so wesentlich erschwert wird. Die neu geschaffenen Einsatzmöglichkeiten der Geheimdienste bei der Kriminalitätsbekämpfung bedeuten darüber hinaus eine nachhaltige Abkehr vom Trennungsgebot zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf der einen sowie Geheimdiensten auf der anderen Seite. Das Trennungsgebot zwischen Polizei- und Geheimdienstbehörden stammt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit (1949). Damit wollten die Alliierten in der neu gegründeten BRD das Wiedererstehen eines allmächtigen Unterdrückungsapparats nach Art der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhindern. Jahrelang galt dieses Gebot - zumindest in der Theorie - als unantastbar. Seine offenkundige Aufweichung und Ersetzung zugunsten des Kooperationsprinzips zwischen Polizei/Strafbehörden und Geheimdiensten, wie sie auch im neuen G-10-Gesetz zum Ausdruck kommt, führt nicht nur zwangsläufig zu einem weiteren Verlust an Rechtsstaatlichkeit. Zugleich wird damit die Grundlage für einen umfassenden staatlichen Überwachungs- und Unterdrückungsapparat geschaffen, dessen Ausbau mit der Verschärfung der sozialen Spannungen weiter forciert werden wird.

Siehe auch:
Teil 1: Auf dem Weg in einen Polizeistaat?
(9. Februar 2001)
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