Volksaufstand gegen Algeriens Militärregierung weitet sich aus

Seit über zwei Monaten breiten sich im gesamten Nordosten Algeriens Demonstrationen und Straßenschlachten aus. Nachdem sich die Unruhen erst auf die Kabylei, die Berber-Region, beschränkten, wird jetzt auch aus andern Landesteilen über Proteste und gewaltsame Konfrontationen berichtet, in denen sich Steine werfende Jugendliche und die Polizei gegenüberstehen. Demonstranten in arabischen Städten skandierten: "Nous sommes tous des Kabyles" ("Wir alle sind Kabylen"). Mindestens hundert Menschen wurden in dem Aufstand getötet, Tausende verwundet.

Schon seit Algerien 1962 die Unabhängigkeit erlangte, haben die Berber - eine Minderheit, die ein Drittel der Bevölkerung ausmacht - gegen die Weigerung der Regierung protestiert, ihnen das Recht auf ihre eigene Sprache zuzugestehen. Aber die aktuelle Bewegung hat einen viel breiteren sozialen Charakter angenommen. Wut über die grassierende Arbeitslosigkeit - offiziell sind dreißig Prozent, inoffiziell aber bis zu achtzig Prozent der Jugendlichen arbeitslos - wachsende Armut und verzweifelte Wohnungsnot, das sind die Themen, die in den Protesten aufgegriffen werden.

Als im April ein Student auf einer Polizeistation bei Tizi Ouzou umgebracht wurde, war dies der Funke, der die Jugendrevolte am Ort entzündete. In einer von den Berbern organisierten Demonstration marschierten am 3. Mai 20.000 Menschen friedlich durch Algier. An einem weiteren Marsch durch die Hauptstadt am 31. Mai beteiligten sich über 200.000 Menschen. Als die Unruhen und Proteste sich auf die ganze Kabylei ausweiteten, wurde eine weitere Demonstration für den 14. Juni in Algier angekündigt. Diesmal marschierten über eine Million durch die Straßen der Hauptstadt - die größte Mobilisierung der Bevölkerung in Algerien seit seiner Unabhängigkeit.

Laut einem Bericht der französischen Tageszeitung Le Monde stellte der Marsch "eine immense Prozession dar, die sich vom Platz des Ersten Mais zwölf Kilometer weit erstreckte und langsam der Meeresküste entlang bewegte.... Es sind junge Männer, fast ausschließlich Jungen, in ländlicher Erscheinung. Mädchen sind kaum darunter, wenige Erwachsene."

Die Führer der Demonstration versuchten, ihre Forderungen im Präsidentenpalast vorzubringen, aber Bereitschaftspolizei verstellte ihnen den Weg und beschoss sie mit Tränengas und Wasserwerfern. Vier Menschen wurden getötet, darunter zwei Journalisten, die von einem Bus überfahren wurden. Hunderte wurden verhaftet, und wie aus den Krankenhäusern berichtetet wurde, mussten über 400 verletzte Personen behandelt werden, von denen viele Schusswunden hatten. Zwei Tage später ließ die Regierung 335 der auf der Demonstration Verhafteten in einem "Akt des guten Willens", wie sie es nannte, wieder frei. Trotzdem berichtete ein Menschenrechtsanwalt, der in Le Monde zitiert wurde, dass 110 Menschen, die sich weder im Gefängnis noch in einem Krankenhaus befinden, immer noch vermisst werden. "Wir haben den Verdacht, dass sie in den Gebäuden der Polizei oder der Militärpolizei festgehalten werden", sagte er.

Außerdem wurde berichtet, dass Sicherheitskräfte sich unter die Menschenmenge mischten, um rassistische Feindseligkeiten gegen die demonstrierenden Berber zu schüren. Die Zeitung El Watan bezog sich auf "enorme Manipulationen durch die Behörden mit dem Ziel, die Bürgerbewegung zu diskreditieren und einen Teil der Bevölkerung - der zu einer friedlichen Demonstration gekommen war - gegen den andern aufzuhetzen".

Nach dieser Demonstration kündigte die Regierung ein Verbot aller weiteren Proteste in Algier an. Innerhalb einer Woche gab jedoch die Versammlung der Berber-Führer in Tizi Ouzou bekannt, dass die nächste, für den 5. Juli geplante Demonstration stattfinden werde.

Nun gibt es Dutzende Berichte von Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften, die in der ganzen Kabylei und darüber hinaus stattfinden. In Tebessa an der tunesischen Grenze gingen Jugendliche zum Angriff auf staatliche Gebäude über. Die Aufstände setzten sich in der Region um Bejaia fort, einer Großstadt in der Kabylei. Die miserablen Existenzbedingungen lösten auch in den Städten Guelma und Batna, wie auch in Annaba, der wichtigsten Hafenstadt, Unruhen aus.

Am Montag dieser Woche marschierten Zehntausende durch Tizi Ouzou, um an den Tod von Lunes Matoub, einem populären Berber-Sänger und bekannten Gegner des algerischen Regimes, zu erinnern. Angeblich hatten islamische Terroristen Matoub 1998 erschossen. Seine Witwe, seine Mutter und weitere Angehörige fordern jedoch eine Untersuchung der Umstände seines Todes. Es besteht der Verdacht, dass er von dem Regime ermordet wurde, besonders weil man heute weiß, dass militante islamische Gruppen von staatlichen Sicherheitskräften manipuliert oder infiltriert werden.

Weil die politischen Parteien, die traditionell die Kabylei repräsentierten - die Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) und die Front Sozialistischer Kräfte (FFS) - vollkommen diskreditiert sind, riefen die Gemeindeführer und -Ältesten, die in den sogenannten Comités de villages (Dorfkomitees) vertreten sind, und die Lunes-Matoub-Stiftung zu diesen Demonstrationen auf. Le Monde erklärte, die Ältesten hätten versucht, die Jugendlichen zurückzuhalten, dabei jedoch wenig Erfolg gehabt. Die Protestierenden skandierten: " Ulac smah! " (Berbersprache: "Kein Verzeihen!"), "Staatsmacht und Generäle - Mörder", "Bouteflika - Mörder" und "Nieder mit den Generälen". Die Demonstration ging friedlich zu Ende, aber nach ihrem Abschluss kam es zu einer Konfrontation zwischen Jugendlichen und der Polizei.

Als Antwort wollte die Regierung noch viel drakonischere Gegenmaßnahmen ergreifen, aber angesichts der Volksbewegung herrscht wachsende Nervosität. Zuerst zirkulierten Gerüchte, Präsident Bouteflika werde zurücktreten, seine Hintermänner im Militär hätten entschieden, ihn zum Sündenbock zu machen. Aber dann, eine Woche nach der Massenkundgebung in Algier, trat Bouteflika zum erstenmal wieder an die Öffentlichkeit, räumte ein, dass es eine Krise gebe, erklärte jedoch, er werde nicht zurücktreten, und rief zum Dialog auf. Während er Frankreich nicht ausdrücklich erwähnte, suggerierte er, dass eine ausländische Macht die Protestierenden manipuliert habe.

Der Massenbewegung fehlt eine Perspektive zur Verteidigung demokratischer Rechte

Der aktuellen Massenbewegung fehlt jegliche Perspektive, wie der Kampf gegen die Regierung zur Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte zum Erfolg geführt werden kann.

In den späten achtziger Jahren wurde die weit verbreitete Opposition gegen das Militärregime der FLN (Nationale Befreiungsfront), die sich in einer Reihe von Unruhen und Demonstrationen ausdrückte, von islamisch fundamentalistischen Tendenzen angeführt. Als die FIS (Islamische Heilsfront) bei den Parlamentswahlen von 1991 eine Mehrheit gewann, organisierte das Militär einen Putsch und erklärte die FIS für illegal. Dies löste einen Bürgerkrieg aus, in dem über 100.000 Menschen starben und viele aus dem Land flohen. Nachdem Bouteflika 1999 durch Wahlbetrug an die Macht gekommen war, rief er - mit Unterstützung des Westens - eine Amnestie für die islamischen Guerillagruppen aus. Obwohl der Konflikt dadurch nicht gelöst wurde, beschränkt er sich heute auf ländliche Gegenden und ist stark zurückgegangen. Der islamische Fundamentalismus hat besonders in den Städten und der Berber-Region nicht mehr viel Unterstützung und konnte von den aktuellen Protesten kaum profitieren.

Bouteflika und der ihn unterstützende Teil der Armee waren mit dem Anspruch angetreten, eine "Liberalisierung" der Wirtschaft durchzusetzen und staatliche Unternehmen für die Privatisierung zu öffnen. Seit 1998 haben sich algerische Exporteinnahmen aus Öl und Gas fast verdoppelt und die Außenhandelsverschuldung wurde beträchtlich reduziert, was Algerien zu einem attraktiven Investitionsstandort machte. Unter dem Druck der Militärs, die durch die Privatisierung viel verlieren würden, wie auch der Gewerkschaftsbürokratie, stellte Bouteflika jedoch zwei der drei Minister kalt, die für die marktwirtschaftlichen Maßnahmen eintraten.

Stattdessen wurde ein auf drei Jahre angelegtes Wirtschaftspaket verabschiedet, in dessen Rahmen die Einnahmen aus dem Gasverkauf - Algerien ist der zweitgrößte Erdgasexporteur der Welt - angeblich genutzt werden sollen, um die Armut und die Arbeitslosigkeit zu überwinden, die durch den Zusammenbruch anderer Wirtschaftsteile entstanden sind. Diese Maßnahme dient vor allem dazu, das Gesicht zu wahren. Wirtschaftsexperten haben darauf hingewiesen, dass das Paket noch nicht einmal präzise finanzielle Voraussagen enthält.

Westliche Politiker, die angesichts des Widerstands der algerischen Generäle die Geduld verlieren, hoffen nun, die Massenbewegung nutzen zu können, um das Druck Regime unter Druck zu setzen und eine stärkere Liberalisierung der Wirtschaft zu erreichen. Liberalisierungsmaßnahmen sollen dabei als Antwort auf die Armut und die Missachtung demokratischer Rechte ausgegeben werden.

Die Washington Post zitiert einen westlichen Diplomaten, der erklärte, Bouteflika hoffe wohl, dass "diese jungen Menschen weiter Druck ausüben, damit er die Dinge ändern kann. Es könnte ihm helfen, seine Reformen durchzubringen." Der französische Außenminister Hubert Vedrine bezog sich auf die "zutiefst legitimen Hoffnungen" der algerischen Bevölkerung auf "politische, wirtschaftliche und soziale Modernisierung", und die Europäische Union veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die algerischen Führer drängt, eine "entschiedene politische Initiative zu ergreifen, um die Krise zu überwinden".

Noch jedes Mal, wenn soziale und politische Unzufriedenheit in das Fahrwasser eines solchen Wirtschaftsprogramms gelenkt wurden, hat ausschließlich eine reiche Elite davon profitiert, während die große Mehrheit der Bevölkerung nur in noch schlimmere Not gestoßen wurde.

Siehe auch:
Rücktritt des Premierministers enthüllt wachsende Spaltungen in den herrschenden Kreisen Algeriens
(7. September 2000)
Wahlen in Algerien
( 27. April 1999)
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