Der verdrängte Völkermord an den Armeniern - seine Ursachen und Folgen

Teil 3: Die Folgen des Völkermords

Schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier wurden in den Jahren 1915/16 im damaligen Osmanischen Reich gezielt ermordet. Den Plan zur Vernichtung der armenischen Minderheit hatte das nationalistische Jungtürken-Regime bereits lange zuvor beschlossen. Rund die Hälfte der Opfer wurden an ihren Wohnorten ermordet, der andere Teil auf Deportationszügen zu Tode geschunden. Hitler war fasziniert von dem Genozid - weil schon bald niemand mehr davon sprach. Der türkische Staat will bis heute nicht an den Völkermord erinnert werden.

Der erste Teil befasste sich mit der aktuellen Debatte um die Anerkennung des Völkermords. Der zweite und dieser dritte Teil setzen sich mit den historische Ereignissen auseinander.

Lange Zeit waren die von Aram Andonian 1920 veröffentlichten und 1921 im Berliner Tehlerjan-Prozess vorgelegten Telegramme Talaat Paschas (Zitat: "Das Recht der Armenier, auf dem Gebiet der Türkei zu leben und zu arbeiten, wird gänzlich abgeschafft") die einzigen Dokumente, die eine Planung des Völkermords an den Armeniern zu beweisen schienen. In den vergangenen Jahren brachten Untersuchungskommissionen weitere Geheim-Dokumente an den Tag. Daraus geht hervor, dass die Entscheidung zum Genozid vom Zentralkomitee der Ittihad getroffen wurde. Die Ittihad-Partei stellte die Kader für die Vernichtung, deren technische Durchführung der sogenannten Sonderganisation übertragen wurde, einer SS-artigen Formation, die über Mordkommandos gebot, denen Gendarmen der Provinzpolizei, aber auch Strafhäftlinge angehörten, die der Staat mit der Lizenz zum Töten vorzeitig aus der Haft entlassen hatte.

Verschiedene Dokumente mit Hinweisen auf frühzeitige organisatorische Vorbereitungen zum Völkermord und Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass der Genozid an den Armeniern bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geplant war. Erst vor wenigen Jahren veröffentliche der US-armenische Wissenschaftler Vahakn N. Dadrian Dokumente aus den Unterlagen des britischen Foreign Office, die der Leiter der Geheimdienstabteilung II des Osmanischen Innenministeriums, Ahmed Essad, sichergestellt und den Briten übergeben hatte. Diese Dokumente enthalten einen 10-Punkte-Plan, den Organisationsplan für die Vernichtung der Armenier, dessen Entstehung von den Briten auf Dezember 1914 oder Januar 1915 datiert wurde.

Verantwortlich für diesen Plan zeichneten neben Innenminister Talaat unter anderem die ZK-Mitglieder Behaeddin Schakir und Mehmed Nazim. Verschiedene Indizien sprechen aber dafür, dass der Gedanke, die Armenier auszurotten, bereits früher gefasst wurde. War die Absicht zum Völkermord möglicherweise Anlass für den Kriegseintritt der Türkei an der Seite Deutschlands? Im Gegensatz zu Engländern und Franzosen, das wussten die Jungtürken, war den Deutschen an einem weiteren Zerfall des Osmanischen Reiches, dessen Erbe sie ja später anzutreten gedachten, nicht gelegen. Also würde der Kaiser, ein erklärter Freund der Osmanen und des Islam, ihnen in dieser Angelegenheit freie Hand lassen.

Was wussten die deutschen Verbündeten?

11. Januar 1916. Die militärischen Vorbereitungen für den deutschen Vorstoß an der Westfront laufen auf Hochtouren. Auch im Osten herrscht Krieg. Wichtigster Bündnispartner Deutschlands im Kampf gegen die Russen ist das Osmanische Reich. Deutsche Offiziere stehen zu Hunderten als Militärausbilder im türkischen Dienst. Als der damalige Abgeordnete der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und spätere Mitbegründer der KPD, Karl Liebknecht, - er hatte als einziger SPD-Abgeordneter 1914 im Reichstag gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt - eine Kleine Anfrage an die Regierung stellt, macht sich Unruhe unter den Reichstagsabgeordneten breit. Gegenstand von Liebknechts Anfrage: der Bündnispartner Türkei. Genauer: die Verfolgung der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich.

Ob der Reichsregierung bekannt sei, dass im verbündeten türkischen Reich die armenische Bevölkerung während des Krieges zu Hundertausenden von ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden sei, will Liebknecht wissen. Und was die Reichsregierung gegen eine Wiederholung ähnlicher Gräuel in der Türkei zu tun gedenke.

Dem Abgeordneten Liebknecht antwortet ein Vertreter der Reichsregierung aus dem Auswärtigen Amt: Dem Herrn Reichskanzler sei bekannt, dass die Pforte vor einiger Zeit, "durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen" habe. Nähere Einzelheiten hierzu könnten nicht mitgeteilt werden.

Mit dieser ausweichenden Antwort gibt sich Karl Liebknecht nicht zufrieden. Seine Bitte, den zuvor gestellten Antrag ergänzen zu dürfen, sorgt unter den Reichstagsabgeordneten für Heiterkeit. Als Liebknecht von bezeugten Massakern an den türkischen Armeniern spricht, entzieht ihm der Reichstagspräsident brüsk das Wort. Begründung: Dies sei eine neue Anfrage, die er nicht zulassen könne.

Es war das erste und letzte Mal, dass die Verfolgung der Armenier in der Türkei in den Jahren 1915 und 1916 im deutschen Reichstag zur Sprache kam.

Schon den damaligen europäischen Augenzeugen war klar, dass es sich hier um einen gezielten Völkermord, um eine flächendeckende Ausrottung der Armenier im Osmanischen Reich handelte. Die Berichte deutscher Diplomaten über diese Vorgänge sind heute noch im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes nachzulesen. Kein anderer Staat besaß damals in der Türkei so zahlreiches diplomatisches Personal wie das Deutsche Reich. Fast in jeder Provinzhauptstadt gab es ein deutsches Konsulat.

Bereits im Juli 1915 erkannte deshalb der deutsche Botschafter, dass das, was die Türken beschönigend "Deportation" nannten, eine Tat war, die auf die Vernichtung - wie er es formulierte - der "armenischen Rasse" im Osmanischen Reich abzielte. Die Deutschen bzw. die deutsche Diplomatie wusste also besser als jeder andere Staat, was im Inneren der Türkei vor sich ging. Trotzdem schwieg das offizielle Deutschland. Wenn es überhaupt zu Protesten kam, dann kamen diese zu spät und fielen äußerst lau und zurückhaltend aus. Es gab weder wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegen die Türkei noch ernstzunehmende Drohgebärden. Und in Deutschland selbst erfuhr die Öffentlichkeit nichts von der Vernichtung der Armenier, da Militärzensur herrschte.

Warum sich das offizielle Deutschland so verhielt, ist relativ einfach zu beantworten. Bündnisinteresse ging vor Solidarität mit einem verfolgten Volk, "Realpolitik" im damaligen Verständnis Kaiserdeutschlands vor Menschenrechten oder Grundsätzen des internationalen Rechts wie der Haager Landkriegsordnung. Deutschlands herrschende Elite opferte skrupellos dem Bündnis mit den Jungtürken jegliche ethischen oder rechtlichen Grundsätze.

Die von dem evangelischen Theologen Johannes Lepsius 1919 veröffentlichten diplomatischen Akten belegen, dass der deutsche Botschafter Wangenheim durch seine Konsulate über den Ablauf der Deportationen bestens unterrichtet war. Kaiser Wilhelm II. freilich machte unmissverständlich deutlich, dass er das Schicksal der Armenier als notwendige und unvermeidliche Begleiterscheinung des Krieges ansah. Schließlich hatten deutsche Militärberater die Umsiedlung der armenischen Bevölkerung selbst empfohlen und gefordert, obwohl sie den tödlichen Charakter dieser Maßnahme erkannten. Für den Bau der Berlin-Bagdadbahn wurden Tausende armenischer Zwangsarbeiter eingesetzt und anschließend ermordet. Die in der Türkei stationierten deutschen Spitzenoffiziere stimmten mehrheitlich in die jungtürkischen Hasstiraden gegen die Armenier ein und hießen offen den Genozid gut. Vereinzelt beteiligten sich deutsche Offiziere sogar an den Massakern. (1)

Von seinem Parteigenossen Scheubner-Richter, seinerzeit deutscher Konsul zu Erzrum und von den Massakern aufrichtig entsetzt, dürfte Adolf Hitler vom Genozid an den Armeniern erfahren haben. Fasziniert hat den Diktator vor allem, dass kein Mensch mehr von den Opfern sprach, wie Hitler 1939, kurz vor dem Überfall auf Polen, bekannte. Auch von Juden und Kommunisten sollte eines Tages niemand mehr sprechen.

1919 machte ausgerechnet die feudal-klerikale Sultansregierung den Führern des "Komitees Einheit und Fortschritt" den Prozess. Für einige wenige Angeklagte endeten die Verfahren vor den militärischen Sondergerichtshöfen mit dem Todesurteil. Doch Talaat, Enver, Nazim, Schakir, Bedri und andere waren bereits Ende Oktober 1918 an Bord eines deutschen Schiffes nach Sewastopol geflüchtet. Im Dezember 1918 ließ sich Talaat mit Wissen deutscher Behörden in Berlin nieder.

Die jungtürkischen Führer wurden schließlich von armenischen Nationalisten bestraft. Talaats Mörder, der Student Soromon Tehlerjan, wurde 1920 in einem aufsehenerregenden Prozess vor dem Berliner Landgericht freigesprochen, - trotz der Versuche des preußischen Justizministeriums und des deutschen Auswärtigen Amtes, das Verfahren so zu steuern, dass lediglich persönliche und medizinische Aspekte der Tat, nicht aber deren politischer Hintergrund erörtert wurden.

Verfolgung unter Atatürk

Eine wahrhaft demokratische Lösung der nationalen Frage, die die berechtigten Interessen aller Nationalitäten berücksichtigen würde, war nach dem ersten Weltkrieg die politische Schlüsselfrage im ehemaligen Osmanischen Reich.

1918 proklamierte US-Präsident Wilson in seinen "Vierzehn Punkten" das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Im Vertrag von Sèvres (10. August 1920), der den Versailler Vertrag in Bezug auf das zerfallene Osmanische Reich ergänzte, wurde den Armeniern ein eigener Staat in den Grenzen des einstigen Großarmenien und den Kurden Autonomie zugesichert. Tatsächlich diente der Vertrag von Sèvres aber dazu, das Osmanische Reich unter die Siegermächte des Weltkriegs aufzuteilen und ihnen die Kontrolle über die ergiebigen Erdölquellen der Region zu sichern. Syrien und Kilikien wurden Frankreich, der Irak und Palästina Großbritannien zugesprochen. Die Türkei wurde auf das anatolische Kernland reduziert. Sie musste Ostthrazien und die ägäischen Inseln an Griechenland, die Dodekanes und Rhodos an Italien abtreten. Die Meerengen wurden internationalisiert. Aus der Sicht der Großmächte diente auch der armenische Staat als Gegengewicht zur Türkei. Durch die Aufspaltung der Region in ohnmächtige Kleinstaaten, die je nach Bedarf gegeneinander aufgehetzt werden konnten, sollte ihr Einfluss gesichert werden.

Als Reaktion auf den Vertrag von Sèvres erhielt die türkische Nationalbewegung einen mächtigen Aufschwung. Die Macht ging nun endgültig von der Sultansregierung in Istanbul auf die Nationalbewegung in Ankara über, die seit 1919 unter der Führung von General Mustafa Kemal ("Atatürk"), einem Mitglied des "Komitees für Einheit und Fortschritt", entstanden war. In einer zweijährigen militärischen Kampagne revidierte Kemal den Vertrag von Sèvres. Der armenische Staat wurde überrannt, die Griechen vom türkischen Festland vertrieben. Im Frieden von Lausanne (24. Juli 1923) wurde das Ergebnis international anerkannt. Von einem armenischen Staat war darin nicht mehr die Rede.

Als Mustafa Kemal sich 1919 anschickte, die Türkei zu einem laizistischen Staat nach europäischem Muster aufzubauen, leugnete er den Genozid an den Armeniern nicht und nannte auch die Verantwortlichen beim Namen. Doch als Vertreter der türkischen Militärkaste und der entstehenden Bourgeoisie erweis er sich als unfähig, das Problem der nationalen Minderheiten auf demokratische Weise zu lösen. Seine Zusammenarbeit mit den Mördern von Armeniern und kleinasiatischen Griechen, die unter seiner Regierung im Jahr 1921 nicht nur amnestiert wurden, sondern von denen viele in Schlüsselstellungen in Staat und Militär aufsteigen konnten, wirft einen langen Schatten auf die Verdienste des türkischen Staatsgründers. Kemal war es auch, der die Sondergerichtshöfe auflöste und die Verfahren gegen die Unionisten beendete.

Die personelle und organisatorische Kontinuität der Vernichtungsmaschinerie der Jungtürken, bzw. ihrer Akteure in Kemals Befreiungsarmee, bildet mit die größte historische Hypothek der heutigen Republik Türkei. Mit der Abschlachtung von Zehntausenden Armeniern im Transkaukasus, in Kilikien, in Smyrna und der Provinz Sivas vollendete Kemal nach der türkischen Okkupation der erst am 28. Mai 1918 proklamierten Armenischen Republik das Vernichtungswerk der Jungtürken. Im Vertrag von Kars vom 13. Oktober 1921 erzwang der türkische Staatsgründer von Sowjetrussland die Anerkennung seiner Eroberungen von armenischen Gebieten.

Im Kampf gegen die national-revolutionäre Regierung von Kemal, in dem die Kommandos der Hintschaken eine führende Rolle spielten (2), handelten die armenischen Nationalisten allerdings keineswegs nur in Selbstverteidigung, sondern auch direkt als imperialistische Hilfstruppe. So kämpfte eine Armenische Legion an der Seite der Briten und Franzosen in Palästina und Syrien. Nach der Schlacht von Marash, einem der ersten militärischen Erfolge der Kemalisten, wurden sie von den Franzosen im Stich gelassen und von der türkischen Armee massakriert. (3)

Sowjetarmenien

Mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 war ein völlig neuer Faktor in die armenischen Ereignisse eingetreten. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme hatten die Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht der Nationen im ehemaligen Zarenreich proklamiert und im Januar 1918 mit dem Rückzug der Truppen aus russisch Armenien und dem Aufbau einer armenischen Selbstverteidigungsmiliz begonnen.

Im April desselben Jahres erklärten sich Armenien, Georgien und Aserbaidschan für selbständig und schlossen sich zu einer "Unabhängigen Republik Transkaukasien" zusammen. Diese hielt sich nur vier Wochen, da sich die bürgerlichen Parteien an ihrer Spitze nicht auf eine gemeinsame außenpolitische Haltung einigen konnten. Aserbaidschan, dessen Bevölkerung mit der türkischen ethnisch verwandt ist, weigerte sich, gegen die Türkei zu kämpfen, und Georgien hoffte auf Deutschland als Schutzmacht. So blieb Armenien im Kampf mit der Türkei sich selbst überlassen. Auch das bolschewistische Russland, das im Frieden von Brest-Litowsk bedeutende Zugeständnisse an die mit Deutschland verbündete Türkei hatte machen müssen, konnte es nicht unterstützen. Bis zum Zusammenbruch der Mittelmächte im November 1918 lag die Macht in Transkaukasien faktisch bei den deutschen und türkischen Okkupationstruppen.

Es würde zu weit führen, im Rahmen dieses Artikels die komplizierten und verwickelten Ereignisse der Jahre 1918 bis 1921 in Transkaukasien nachzuvollziehen. Regierungen, innen- und außenpolitische Bündnisse und Grenzverlauf wechselten oft im Monats- oder Wochenrhythmus. In der Region prallten nicht nur türkische und britische Interessen aufeinander, sie wurde auch zum Schauplatz des Kampfs zwischen Roten und Weißen im russischen Bürgerkrieg. Dies wird in vielen historischen Darstellungen übersehen. Je nachdem durch welche nationalistische Brille der Autor das Geschehen betrachtet, greift er sich einzelne Ereignisse heraus, schreibt von " den Armeniern", " den Aserbaidschanern" usw. und übersieht dabei völlig, dass die Front oft mitten durch die einzelnen Nationalitäten hindurchlief.

So übernahm in Baku, dass aufgrund seiner Ölindustrie über eine starke, aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzte Arbeiterklasse verfügte, bereits 1918 eine Sowjetregierung die Macht. Sie wurde durch türkische Truppen gestürzt, denen es dank der Haltung der aserbaidschanischen und georgischen bürgerlichen Kräfte gelang, die Stadt zu erobern, wo sie prompt ein Massaker an armenischen Arbeitern anrichteten.

Als sich im April 1920 der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg abzeichnete, übernahm in Baku erneut eine Sowjetregierung die Macht und dehnte sie auf ganz Aserbaidschan aus. Die Folge war ein mehrmonatiger Krieg mit dem von den Daschnaken regierten Armenien um die Region Karabach. Auch zwischen dem menschewistischen Georgien und dem daschnakischen Armenien war es im Herbst 1918 zu einem Grenzkrieg gekommen, der erst auf britische Intervention hin beigelegt wurde.

Die Unfähigkeit der bürgerlichen Parteien, die Region von kolonialer Abhängigkeit und Unterdrückung zu befreien, wurde so immer deutlicher. Als die türkische Armee 1920 bis vor die Tore Jerewans vorrückte, traten die regierenden Daschnaken am 2. Dezember schließlich die Macht freiwillig an eine Sowjetregierung ab. Aber nur wenige Stunden später unerzeichnete eine daschnakische Delegation, die von derselben Regierung zu Friedensverhandlungen nach Alexandropol entsandt worden war, einen Vertrag mit der Türkei, der Armenien praktisch zu einer türkischen Provinz machen sollte. Sie zog eine Unterwerfung unter den Erzfeind Türkei einer Sowjetregierung vor.

Die Regierung in Moskau konnte allerdings die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass die türkischen Nationalisten gegen dieselben imperialistischen Mächte kämpften, die auch die Existenz der Sowjetunion bedrohten. Deshalb suchte sie eine Annäherung mit der Türkei, während sie gleichzeitig am Selbstbestimmungsrecht der Armenier festhielt. Im Sommer 1920 kamen die Verhandlungen zwischen Moskau und Ankara wegen der Armenienfrage wochenlang ins Stocken. "Bezüglich der Armenien-Frage gab es in Ankara und Moskau keine Übereinstimmung. [Der sowjetische Außenminister] Tschitscherin verlangte in Armenien, in Kurdistan, Lasien und Ostthrazien Volksentscheide, an denen auch die aus ihrer Heimat vertriebenen Bewohner teilnehmen sollten, beharrte also auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker." (5)

Die Lage änderte sich, als die Rote Armee an der Polenfront in die Defensive geriet. Nun musste sie an der Ostfront zu einer Übereinkunft mit der Türkei kommen. So kam es zu den Verträgen von Moskau (16. März 1921) und Kars (13. Oktober 1921), in denen die Moskauer Regierung die Türkei in den Grenzen von 1878 anerkannte.

Die bolschewistische Nationalitätenpolitik

Die bolschewistische Nationalitätenpolitik unterschied sich grundlegend von der bürgerlichen Forderung nach Selbstbestimmung und ermöglichte tatsächlich eine demokratische Lösung des verzwickten Nationalitätenproblems. Lenin verteidigte das Selbstbestimmungsrecht, ohne deshalb zu einem aktiven Verfechter einer Lostrennung zu werden. Er vertrat es gewissermaßen als negative Forderung. Selbstbestimmung bedeutete, dass ein Zusammenschluss nur auf freiwilliger Basis und nicht durch Zwang stattfinden durfte, keineswegs aber die Ablehnung des Zusammenschlusses von Nationen, die auf sich gestellt ökonomisch nicht lebensfähig waren.

Der Historiker E.H. Carr, selbst kein Marxist, betont in seiner "Geschichte der russischen Revolution" die epochale Bedeutung der bolschewistischen Nationalitätenpolitik:

"Die bolschewistische Politik der nationalen Selbstbestimmung hatte sich von der Anerkennung des Rechts auf Lostrennung in einer bürgerlichen Gesellschaft entfaltet bis hin zur Anerkennung der Gleichheit der Nationen, zur Aufhebung der Ausbeutung einer Nation durch die andere in einer sozialistischen Gemeinschaft der Nationen. Das Bindeglied, das diese Entwicklung bis zur Vollendung führte, war Lenins Postulat eines freiwilligen Zusammenschlusses. Dadurch wurde die Union zum Ausdruck, und nicht zur Fessel des Willens der Nationen zur Selbstbestimmung. Das Postulat beruhte auf Lenins fester persönlicher Überzeugung, dass im Sozialismus das Element des Zwanges aus der Regierung verschwinden und durch die freiwillige Fügung in administrative Regelungen abgelöst werden würde. [...]

Zugunsten dieses Standpunkts könnte man anführen, dass die bürgerliche Theorie der Selbstbestimmung bereits 1919 in eine Sackgasse geraten war, aus der es kein Entrinnen gab [...] Die kapitalistische Ordnung in der Form, die eine Arbeitsteilung zwischen den fortgeschrittenen oder industrialisierten Nationen und den rückständigen oder kolonialen Nationen hervorgebracht hatte, ließ eine wirkliche Gleichheit zwischen den Nationen unerreichbar werden. Die Idee, die Nationen auf einer wirklich, nicht nur formal gleichberechtigten Ebene in einer sozialistischen Ordnung wieder zusammenzuschließen, war ein kühner und geistvoller Versuch, den toten Punkt zu überwinden. Die Bedeutung dieser Politik lag in den Maßnahmen, die getroffen wurden, um durch die Abschaffung des Unterschieds zwischen Industrie- und Agrarnationen Autorität zu gewinnen. Das sollte nicht unterschätzt werden." (4)

Nach dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen erlebte Sowjetarmenien in den zwanziger Jahren eine kulturelle Blütezeit. Diese Tatsache wird selbst von der Historikerin Tessa Hofmann anerkannt, deren Darstellung ansonsten stark durch die Sichtweise der armenischen Nationalisten gefärbt ist.

Sie schreibt, dass "die sowjetarmenische Führung unter der Ministerpräsidentschaft Mjasnikjans seit 1921 damit begonnen (hatte), das Land zum geistigen und kulturellen armenischen Zentrum auf- und auszubauen. Der materiellen Not zum Trotz entstanden Verlagshäuser, Theater, eine Oper (1933), ein landesweites Bibliotheksnetz, Museen, Einrichtungen der Volksbildung und Forschungsstätten wie das Institut der Künste und Wissenschaften Armeniens (1925), das 1943 zur Akademie der Wissenschaften erhoben wurde. Um die Jahrhundertwende noch ein Provinznest mit 30.000 Einwohnern, wurde die Hauptstadt Jerewan von 1926 bis zum Kriegsbeginn 1941 nach Plänen des bekannten Architekten Alexander Tamanjan völlig neu gestaltet, mit ringförmigen Umgehungsstraßen, breiten, radial auf runde Zentralplätze führenden Boulevards, sowie harmonischen Wohn- und Repräsentationsbauten im Stil armenischer Neoklassik. Die enthusiastische Aufbruchsstimmung der 1920er Jahre war so groß, dass zahlreiche Intellektuelle der Diaspora nach Armenien übersiedelten, wo Festgehälter sowie Renten für anerkannte Autoren und Künstler einen zusätzlichen Anreiz boten. Wenn auch durch geschichtliche Erfahrung zum Skeptizismus und ausgeprägten Individualismus neigend und somit alles andere als für die Sowjetideologie prädestiniert, begannen viele Armenier, an die Chance einer kulturellen Renaissance auf armenischem Boden zu glauben." (6)

Die Auswirkungen des Stalinismus

Wenn von dieser Stimmung heute nichts mehr zu spüren ist und die Armenienfrage wieder im Raum steht, so ist dies nicht der bolschewistischen Nationalitätenpolitik, sondern deren völliger Perversion unter der Herrschaft Stalins zuzuschreiben. Sicher haben territoriale Konflikte - wie die Auseinandersetzungen um Karabach und Nachitschewan - Wurzeln, die bis Anfang der zwanziger Jahre zurückreichen. Aber dies allein kann nicht erklären, weshalb der Streit um diese Gebiete nach der Auflösung der Sowjetunion wieder zu blutigen Konflikten ausartete.

Beide Gebiete waren während des Bürgerkriegs heftig umkämpft. Im Sommer 1920 wurden sie von der Roten Armee besetzt, was sowohl von der Regierung in Jerewan als auch von der lokalen Bevölkerung, die darin einen Schutz gegen türkische Massaker erblickten, begrüßt wurde. 1921 beschloss das Büro des Transkaukasischen Komitees der Sowjetunion unter Josef Stalin, sie Aserbaidschan zu unterstellen. Dies, obwohl Nachitschewan ein (allerdings nicht mehrheitlich armenisch besiedeltes) vormals armenisches Gebiet war und Karabach fast ausschließlich von Armeniern bewohnt wurde. Karabach, das auch der Volkskommissar des Äußeren, Georgij Tschitscherin im April 1920 ein "uraltes armenisches Gebiet" nannte, wurde nur in seinem Zentrum zu einem Autonomen Gebiet erklärt. Es wurde so zu einer armenischen Insel innerhalb Aserbeidschans, die keine gemeinsame Grenze mit Sowjetarmenien besaß.

Dieser Beschluss führte schon damals, auch innerhalb bolschewistischer Kreise, zu erheblichen Spannungen. Druck von Seiten der Türkei hatte bei seinem Zustandekommen eine Rolle gespielt. Nicht unerheblich dürfte aber auch gewesen sein, dass die transkaukasischen Angelegenheiten in den Händen Stalins lagen, mit dem Lenin wegen seiner mangelnden Sensibilität gegenüber den unterdrückten Nationen damals in heftigen Konflikt geriet und schließlich offen brach.

Ein großer Teil von Lenins Ende 1922 verfasstem "Testament" ist dieser Frage gewidmet. Lenin wirft Stalin darin großrussische Arroganz und administratives Verhalten vor und betont die Notwendigkeit, "durch sein Verhalten oder durch seine Zugeständnisse gegenüber dem Nichtrussen so oder anders das Misstrauen, den Argwohn zu beseitigen, jene Kränkungen aufzuwiegen, die ihm in der geschichtlichen Vergangenheit von der Regierung der ‚Großmacht'nation zugefügt worden sind." (7)

Hätte die Sowjetunion an Lenins Politik festgehalten, dann wären die damals entstandenen Spannungen nach und nach in den Hintergrund getreten. Fragen, wie die administrative Zugehörigkeit Karabachs oder Nachitschewans hätten mit der Überwindung der nationalen und sozialen Gegensätze kaum noch eine Rolle gespielt. Die Usurpation der Sowjetmacht durch die Stalinsche Bürokratie nach Lenins Tod und deren Rückkehr zu totalitären, großrussischen Herrschaftsmethoden hatte die entgegengesetzte Wirkung: Die Konflikte schwelten unter der Oberfläche weiter, um nach der Auflösung der Sowjetunion offen auszubrechen.

Ende 1991 bis Mai 1994 entbrannte ein blutiger Krieg zwischen Aserbaidschan und den nominell 120.000 Armeniern Karabachs, der auf beiden Seiten ethnisch bedingte Ausschreitungen zur Folge hatte. In Aserbaidschan hatte es bereits 1988 anti-armenische Pogrome gegeben. Umgekehrt flohen im Verlauf des Krieges aus Karabach und dem Korridor zu Armenien bis zu eine Million Aseris. Seither existiert Karabach als eigenständiger armenischer Staat, der bisher allerdings international nicht anerkannt wurde. Aserbeidschan hat über die Republik Armenien eine totale Energie- und Transportblockade verhängt, der sich die Türkei sofort anschloss, und unter der das verarmte und ausgeblutete Land bis heute leidet.

Aus der Tragödie des armenischen Volkes - von den Pogromen Ende des 19. bis zum Karabach-Konflikt Ende des 20. Jahrhunderts - ergibt sich als zentrale Lehre: die Unmöglichkeit, die nationale Frage auf bürgerlicher Grundlage zu lösen. Eine wirkliche Lösung der nationalen Frage im Transkauksaus kann nur auf demokratischem Weg und auf der Grundlage einer völkerübergreifenden Föderation geschehen. Eine solche Lösung erfordert die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten gegen die bürgerlichen Nationalisten jeder Couleur.

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Anmerkungen

1) Eine aktive Mitwirkung wird von verschiedenen Quellen bezeugt: "Die Deportationspläne für die Armenier stammten von Colmar Freiherr von der Goltz, der seit 1883 als Militärausbilder und Organisator im Osmanischen Reich tätig war, wo er als türkischer Feldmarschall nur,Goltz-Pascha‘ hieß. Er mag sich auf den deutschen Publizisten Paul Rohrbach gestützt haben, der schon 1913 eine Deportation der Armenier vorgeschlagen hatte, um die sogenannte armenische Frage zu lösen." 1913 sollen unter General Liman von Sanders etwa 800 deutsche Offiziere nach Istanbul gekommen sein, um die Türkei militärisch aufzurüsten. Von diesen sollen "einige" an der "Planung und Durchführung" der "Deportationen" teilgenommen haben. General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs des osmanischen Feldheeres in Istanbul, schrieb Anfang 1919: "Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte." Das Auswärtige Amt ließ 1921 auf dem Grab des ermordeten Talaat Pascha einen Kranz mit der Widmung niederlegen: "Einem großen Staatsmann und treuen Freund". (Fikret Aslan, Kemal Bozy u.a., Graue Wölfe heulen wieder, Münster 1997)

2) Vergl. dazu u.a. Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996, Anmerkung 15, S. 506 ff.

3) Baku: Congress of the Peoples of the East, New Park Publications London 1977, Fußnote 31, S. 191 f.

4) Das Zitat stammt aus der mehrbändigen englischsprachigen Ausgabe, hier zitiert nach Vierte Internationale, Jg.19, Nr 1, S. 131.

5) Yves Ternon, Tabu Armenien, Verlag Ullstein Franfurt/Berlin 1981, S. 234

6) Tessa Hofmann, Annäherung an Armenien, C.H.Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1997, S. 122

7) Lenin Werke Band 36, Dietz Verlag Berlin 1962, S. 593

Siehe auch:
Teil 1: "Geschichtsterrorismus" mit Methode
(30. Mai 2001)
Teil 2: Die nationale Frage im Osmanischen Reich und der Völkermord an den Armeniern
( 31. Mai 2001)
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