Britische Labour-Party:

Parteiveteran Roy Hattersley ruft zum Aufstand gegen Premier Blair

Roy Hattersley, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der britischen Labour Partei, hat in mehreren Artikeln, die im Observer und dem Guardian erschienen, beißende Kritik an der Blair-Regierung geübt.

Hattersley gelangt zum Schluss, dass Premierminister Tony Blair ein Ignorant sei, dessen Verachtung für politische Geschichte und Prinzipien es der Regierung unmöglich machten, "einen beständigen Kurs zu halten". Es ist nicht das erste Mal, dass Hattersley die Blair-Führung scharf kritisiert. Im Verlauf der letzten vier Jahre protestierte er als einer von ganz wenigen in der Partei dagegen, dass jeder Sinn für Geschichte und Prinzipien ideologisch hinausgesäubert worden sei, aber nie zuvor hat er dies in so schrillen Tönen getan. In seinem Observer -Artikel vom Sonntag, dem 24. Juni, erklärte er, die Mitglieder der Labour Party müssten sich jetzt entscheiden, ob "unsere Loyalität einem Namen oder einer Idee gilt", und "ob wir uns nicht gegen den Putsch erheben, der die legitime Philosophie [der Partei] besiegt hat."

Seine Bemerkungen sind umso verblüffender, als Hattersley in seiner mehr als vier Jahrzehnte langen Karriere als Politiker meistens auf der Parteirechten gestanden hat. In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren war er ein Unterstützer von Hugh Gaitskill gewesen, dem Labour-Führer, der als erster den erfolglosen Versuch unternahm, die Verstaatlichung der Grundindustrie aus dem Parteiprogramm zu streichen. Zwanzig Jahre danach verkörperte Hattersley 1983 die rechte Hälfte des sogenannten "Dream Ticket" für die Labour-Führung, als er an der Seite des scheinbar linken Neil Kinnock für den stellvertretenden Parteivorsitz kandidierte. Der Sieg der beiden markierte den Beginn des Abrückens vom sozialreformistischen Parteiprogramm zugunsten der freien Marktwirtschaft.

Hattersley hat keine späte politische Bekehrung durchgemacht. Sein Aufruf an die Mitgliedschaft, sich zu erheben, ist durch seine lange politische Erfahrung motiviert, die ihn die Konsequenzen der Rechtswendung der Partei wahrnehmen lässt. Er fürchtet, dass die Labour Party, wenn sie diesen Kurs weiter verfolgt, ernsthaft Gefahr läuft, ihre historische Existenzberechtigung zu verlieren.

Mehr als ein Jahrhundert lang hat die britische herrschende Klasse den Status Quo durch eine Politik des Klassenkompromisses und des sozialen Reformismus aufrechterhalten, die ihre Verkörperung im Programm der Labour Party fand. Hattersley - der schon vor langer Zeit bestritt, dass die Labour Partei sozialistische Ziele verfolge, und sei es in noch so weit entfernter Zukunft - meint, dass die Partei sich eine Vision des "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" erhalten muss, wenn sie auch weiterhin noch die politische Unterstützung der Arbeiterklasse genießen will.

Hattersleys Artikel erscheinen gerade einen Monat nach den Parlamentswahlen, in denen Blair zwar eine zweite Amtszeit gewonnen hat, jedoch nur noch von 27 Prozent der Wahlberechtigten unterstützt wurde. Zum erstenmal überstieg die Zahl der Enthaltungen die Stimmenanzahl, die für die siegreiche Partei abgegeben wurde. Kurz gesagt, die Labour-Parlamentsmehrheit von 167 Sitzen verschleiert ihren Minderheitsstatus im größten Teil des Landes.

Seine Bemerkungen widerspiegeln das wachsende Unbehagen in Teilen des Establishments, dass die Blair-Regierung diesen Umstand zu wenig beachten, wenn nicht gar völlig außer acht lassen könnte. Sie fürchten, dass sie ihren parlamentarischen Vorsprung fälschlicherweise als tatsächliche politische Stärke auffassen, und aufgrund dessen versuchen könnte, Maßnahmen durchzusetzen, die letztlich ihr Überleben bedrohen würden.

Während der Parlamentswahlen wurde Blair in einem Interview der BBC-Sendung Newsnight zu seiner Haltung zur wachsenden Ungleichheit befragt, die sich unter der Labour-Regierung entwickelt hat. Der Premier weigerte sich, dies als schlecht zu bezeichnen; stattdessen machte er deutlich, dass er jede Umverteilungsmaßnahme, wie z.B. höhere Steuern für die Superreichen, vollkommen ablehne. Bei vielen Gelegenheiten sagte der Premier, Labours Ziel sei die Schaffung einer Leistungsgesellschaft, und nicht größere soziale Gleichheit.

In seinem ersten Observer -Artikel ließ Hattersley sich darüber aus, dass eine Leistungsgesellschaft nicht mit Sozialdemokratie zu vereinbaren sei. Während erstere "die Hindernisse beiseite schafft, die den Weg der Klugen und Fleißigen versperren... stellt doch der Begriff der gesellschaftlichen Mobilität, auf die sie sich gründet, für die meisten Großstadtkinder einen grausamen Witz dar. Eine Labour-Regierung sollte nicht über Fluchtwege aus Armut und Entbehrung sprechen.... Die Labour Party wurde gegründet, um die Gesellschaft so zu ändern, dass es keine Armut und Entbehrung mehr gibt, vor denen man flüchten muss. Eine Leistungsgesellschaft bietet nur wechselnde Formen der Ungleichheit an."

Völlig außer Stande, strategische Erwägungen anzustellen, erteilte die aktuelle Labour-Führung Hatterleys Bemerkungen eine schroffe Abfuhr. Der Parteivorsitzende Clive Solely bezeichnete seine Kritik als "völlig daneben" und "übertrieben".

Dies provozierte einen weiteren Kommentar von Hattersley, der im Guardian vom 27. Juni erschien. Unter der Überschrift "Ich weiß nicht, was schlimmer ist, Blairs Renegatentum oder seine Naivität", beschwerte sich Hattersley: "John Maynard Keynes hat erklärt, dass einfache gestrickte Menschen, die sich rühmen, über den Wolken schwebende Theorien abzulehnen, gewöhnlich unbewusste Anhänger von Ideen sind, die schon vor ihrer Geburt überholt und diskreditiert waren." Blair habe dies durch seine Unterstützung für die Philosophie des freien Marktes und durch sein Leugnen der sozialen Gerechtigkeit bestätigt, fuhr er fort.

Seit den Wahlen hat die Regierung Maßnahmen zur beschleunigten Privatisierung des Gesundheitswesens und der Bildung angekündigt. Die von der Königin vorgetragenen Regierungserklärung enthielt Pläne, wonach öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen mithilfe von privatem Kapital gebaut und verwaltet werden sollen. Solche Maßnahmen werden unvermeidlich zu Zusammenstößen mit Millionen schlecht bezahlten Arbeitern im öffentlichen Dienst führen, deren Arbeitsplätze und Bedingungen bedroht werden. Sie werden auch auf den Widerstand der großen Mehrheit der Bevölkerung stoßen, deren Gesundheit und Kindererziehung vollkommen von solchen staatlichen Einrichtungen abhängt. Dennoch setzt die Regierung ihren Kurs fort, ohne einen Dialog mit jenen aufzunehmen, die solche wichtigen öffentlichen Dienstleistungen bereitstellen. Sie versäumt es sogar, sich der vollen Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie zu versichern, deren Rolle bei der Durchsetzung einer solchen Politik gegen ihre Mitgliedern entscheidend sein wird.

Hattersley führte am 2. Juli in einem weiteren Guardian -Artikel mit der Überschrift "Blair, der Starrkopf" seine Befürchtungen weiter aus. Natürlich sei es nötig, "gewisse Arbeitsweisen im öffentlichen Dienst zu reorganisieren", und Privatkapital sollte auch im öffentlichen Sektor ermutigt werden, meinte er. Aber man müsse anerkennen, dass es unterschiedliche Wege und Mittel gebe, diese Ziele zu erreichen. Die Gefahr sei, dass sich die Regierung selbst durch die weitere Anwendung einer so provokativen Methode in eine unnötige Konfrontation mit den Gewerkschaften und den Arbeitern im öffentlichen Dienst hineinmanövriere, wodurch "ein Zusammenbruch im Winter schon sicher" sei.

Dies war eine Anspielung auf den "Winter der Unzufriedenheit" von 1978 - die Massenbewegung, die 1979 den Sturz der Labour-Regierung unter James Callaghan nach sich zog. In einem zwischen der Labour-Regierung und dem Gewerkschaftsdachverband TUC ausgehandelten "Sozialvertrag" waren damals strikte Lohnleitlinien festgelegt worden, wobei die Arbeiter als Gegenleistung eine bessere öffentliche Versorgung und niedrigere Preise erhalten sollten. Aber die Gewerkschaften erwiesen sich als unfähig, einen Ausbruch von Unzufriedenheit zu unterdrücken, als ihren Mitgliedern klar wurde, dass für sie keine solche Gegenleistung herausschauen würde, und dass sie den Sozialvertrag gleich dreimal bezahlten mussten - durch niedrige Löhne, steigende Preise und strikte Kontrollen der öffentlichen Ausgaben. Das Ergebnis waren Arbeitskämpfe, die Großbritannien lahm legten, als anderthalb Millionen Arbeiter im öffentlichen Dienst in den Ausstand traten. Das führte wenige Monate später zur Wahlniederlage der Regierung.

Die heutigen Gewerkschaftsführer seien zu einer "ehrenhaften Übereinkunft" mit der Regierung bereit, versicherte Hattersley Blair in seinem Artikel vom 2. Juli, und der TUC-Generalsekretär John Monks nehme im allgemeinen eine positive Haltung bezüglich der Regierungsvorschläge für den öffentlichen Dienst ein. Aber die arrogante Herangehensweise von Labour lasse den Gewerkschaftsführern wenig Spielraum zum Manövrieren, weil "gerechtfertigte und wünschenswerte Ziele in der Öffentlichkeit auf starrköpfige, aggressive Weise verfolgt" würden, fuhr Hattersley fort. "Die Führer der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst können... ihre Mitglieder nicht dazu zwingen, auf Befehl des Premierministers ihr Leben zu reorganisieren."

Die weitverbreitete Opposition gegen Labours Politik hat bestimmte Gewerkschaftsbürokraten dazu gezwungen, harte Worte zu äußern, um ihre Mitglieder zu beruhigen. Zu Anfang des Monats erklärte Unison, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, sie überprüfe wegen Blairs Privatisierungsvorschlägen gegenwärtig ihre finanziellen Bindungen an die Labour Party. Aus dem gleichen Grund hat die Gewerkschaft der Feuerwehrleute bereits zugestimmt, ihre politischen Beiträge nicht mehr automatisch zum Nutzen der Labour Party einzusetzen. Am 9. Juli kündigte die GMB-Gewerkschaft an, sie werde ihren normalen Jahresbeitrag von 650.000 Pfund an die Labour Party um 250.000 Pfund reduzieren, um eine Plakatkampagne gegen den Einsatz von privaten Managements in Krankenhäusern zu finanzieren. Unison, die GMB und die Transport- und Allgemeine Gewerkschaft TGWU haben erklärt, dass sie im Hinblick auf die Privatisierungspläne von Labour beabsichtigten, "einen Trennungsstrich zu ziehen", und wollen eine gemeinsame Kampagne zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes lancieren.

Im großen und ganzen handelt es sich bei solchen Erklärungen um leeres Gerede. Die Politik von Blairs Labour Party unterscheidet sich kaum ein Jota von derjenigen des TUC. In allen Grundfragen haben die Gewerkschaften die Regierung voll unterstützt - bei der Kürzung der Sozialhilfe, der Begrenzung der öffentlichen Ausgaben und der Gesundheits- und Bildungs-"Reform". Der Zorn des TUC erhebt sich nur, wenn die Kürzungspolitik der Regierung den Interessen der Gewerkschaftsbürokratie ins Gehege kommt.

Dasselbe gilt für Hattersleys Attacke. In seinem jüngsten Kommentar im Observer vom 8. Juli schlägt Hattersley die Bildung einer Sammlungsbewegung vor - vielleicht unter dem Namen "Campaign for Real Labour" - um den Kampf gegen die Blairistischen "Kuckuckseier im Labour-Nest" zu führen. Diesem Vorschlag geht jedoch ein Bericht über seine eigene, vorbehaltlose Beteiligung am Ausschluss der Militant-Tendenz aus der Labour Party in den achtziger Jahren voraus. Diese hatte eine linke reformistische Politik befürwortet und sich "trotzkistisch" genannt hatte.

Hattersley beschreibt die damalige Hexenjagd als "Aufstand der Gemäßigten". Solche Bemerkungen dienen dazu, die politischen Grenzen seiner Opposition gegen Blair aufzuzeigen. Letzten Endes ist Blairs "New Labour" auch nur das Endergebnis eines Prozesses, den Hattersley mit auf den Weg brachte. Zuerst wurde jeder, der seine Treue zur alten reformistischen Labour-Politik aufrechterhielt, aus der Partei hinaus gedrängt oder isoliert und unterdrückt. Darauf ging die Parteiführung, ermutigt durch ihren Triumph über die Linke, dazu über, ein politisches Programm durchzusetzen, das sich auf eine Befürwortung der Politik des freien Marktes stützte, wie es früher typisch für die Konservativen war. 1997 erhielt die Partei dann mit Blair die Führung, die sie verdiente - einen Mann, der offen auf die Geschichte seiner Bewegung spuckte und nichts mehr mit ihrem früheren reformistischen Programm zu tun hatte.

Die klägliche Opposition des TUC und von Leuten wie Hattersley ist nur das letzte Zucken einer Leiche und wird nicht ausreichen, um die Glaubwürdigkeit der Labour Party als Instrument wieder herzustellen, durch das Arbeiter ihre sozialen und politischen Bedürfnisse artikulieren könnten. Dennoch widerspiegeln ihre Befürchtungen in verzerrter und unvollständiger Weise die immer tiefere Feindschaft, die wichtige Schichten der Arbeiterklasse der Blair-Regierung gegenüber hegen, und sind deshalb ein Anzeichen bevorstehender tieferer Konflikte.

Siehe auch:
Die Parlamentswahlen in Großbritannien - Vorboten eines radikalen politischen Umbruchs
(15. Juni 2001)
Unruhen im britischen Oldham
( 5. Juni 2001)
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