Andrej Sacharow und das Schicksal liberaler und demokratischer Ideen im postsowjetischen Russland

Am 21. Mai wäre der Wissenschaftler Andrej Sacharow, der zunächst als Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe und später als Dissident und liberaler Kritiker des stalinistischen Regimes bekannt wurde, achtzig Jahre alt geworden. Diesem Anlass widmeten sich zahlreiche Artikel in der russischen Presse.

Allgemeiner Tenor war der Tonfall des Triumphes. Typisch war beispielsweise folgende Formulierung der Zeitung Iswestija: "Sacharow überwand Raum und Zeit", "Sacharow ging als Sieger aus seiner Begegnung mit der Geschichte hervor", er und Alexander Solschenizyn seien "zwei Freie in versklavten Zeiten" gewesen.

Diese Begeisterungsstürme lassen sich erklären. Das neue kapitalistische Russland hat sämtliche alten Werte und Autoritäten aufgehoben, ohne etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Die meisten populären Berühmtheiten - Politiker, Schriftsteller, Stars der Unterhaltungsbranche - haben sich gleich mehrfach in Misskredit gebracht und die Erwartungen des Durchschnittsbürgers enttäuscht. In dieser Atmosphäre allgemeiner Enttäuschung, angesichts des Mangels an Autoritäten und Orientierungen, versucht die Regierung von oben eine Reihe von Kultfiguren zu schaffen, die als Modelle für Moral und Ethik dienen sollen.

Der Wissenschaftler Sacharow erwies sich als recht geeignet für diesen erlauchten Kreis neuer "Heiliger". Seine tiefe Überzeugung, dass allein die Vorherrschaft des Privateigentums Demokratie und Menschenrechte sichern könne, hat ihn zu einer Art Propheten des kapitalistischen Russland werden lassen. Glücklicherweise verließ er die Bühne rechtzeitig, so dass ihn niemand mehr für die Folgen verantwortlich machen kann.

Die reichen Blüten der Bewunderung, welche die neue herrschende Elite heute über Sacharows Grab ausschüttet, lassen jedoch auch Spuren von Ambivalenz erkennen. Die heutigen russischen Politiker und Medienbarone wünschen keine gründliche Diskussion über die wirklichen Gedanken des sowjetischen Dissidenten, über seine ideologische Evolution und über die Folgen des politischen Programms, für das Sacharow in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre öffentlich eingetreten war.

Der Jubel über Sacharow bezieht sich daher in erster Linie auf ihn als bewundernswerten Menschen, nicht als Persönlichkeit des öffentlichen und politischen Lebens. Typisch sind in dieser Hinsicht die Worte von Alexander Ginsburg, der in der Zeit der sechziger bis achtziger Jahre ebenfalls ein bekannter Dissident war: "Wenn Sacharow heute noch am Leben wäre, dann würde unser Leben nicht wesentlich anders aussehen... Er wies uns keinen politischen, sondern einen ethischen Weg."

Die Nüchternheit dieser Äußerung wird von anderen noch übertroffen. Der Kommentator Leonid Radsichowski schreibt: "Sacharow bleibt natürlich eine historische Figur, doch aus irgend einem Grunde ist er in der russischen Öffentlichkeit nicht zu einem ‚brandheißen‘ Propheten geworden; sein Name wurde nicht zu einem heroischen und mythologischen nationalen Symbol."

Eine wichtige Beobachtung: Sacharow ist nicht zum Volkshelden geworden; er war und bleibt eine Kultfigur der "offiziellen" russischen Intelligenz und von deren Eliten. Darüber hinaus äußern selbst seine glühendsten Verehrer gewisse Vorbehalte.

Welche Inhalte von Sacharows "Vermächtnis" wecken heute Befremden und Widerspruch? In erster Linie sind es bestimmte grundlegende Ziele Sacharows, die mit seinen Appellen an das menschliche Gewissen, mit seinem Fortschrittsglauben und mit seiner Überzeugung verbunden sind, dass die Gesellschaft im Interesse ihrer Mehrheit verändert werden könne.

Obwohl seine konkreten politischen Perspektiven und Vorschläge von Mitte der siebziger Jahre an zunehmend reaktionären Charakter annahmen und er die Ideen der kapitalistischen Restauration verbreitete, blieb Sacharow bis zu seinem Tode frei von dem Zynismus und der überheblichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Menschheit, wie sie für die Postmodernisten typisch sind.

In seiner Autobiographie, die er im reifen Alter verfasste, schrieb Sacharow: "Ich bin kein Berufspolitiker, und vielleicht mache ich mir deshalb ständig Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen meinem Handeln und seinen Endergebnissen. Ich denke, dass hinsichtlich dieser komplexen und widersprüchlichen Probleme eigentlich nur moralische Kriterien in Verbindung mit geistiger Offenheit eine Art Richtschnur abgeben können."

Andererseits hegte Sacharow nicht von Anfang an liberale und demokratische Illusionen über den Kapitalismus. In einem Papier von 1968 unter dem Titel "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit", in dem er sein Credo umriss, bezeichnete er "die Anschauungen des Autors als zutiefst sozialistisch".

Dieses interessante Dokument interpretiert die bekannte Idee der Konvergenz in dem Sinne, dass die soziale Basis der Sowjetunion erhalten bleiben, ihr gesellschaftliches Leben allerdings von Grund auf demokratisiert werden müsse. Hier hält der Autor einen von allen Spuren des Stalinismus gereinigten Sozialismus für das historisch überlegene Gesellschaftsmodell. Erst später verschob er die Gewichte so, dass die diametral entgegengesetzte Auffassung entstand. Die heute vorherrschende Ideologie in Russland ist natürlich wenig geneigt, diesen Aspekt von Sacharows geistigem Werdegang zu würdigen.

Eine weitere für ihn typische Überzeugung war sein unablässiges Eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung und für Menschenrechte. Dieses Thema ist bei den offiziellen Politikern seit geraumer Zeit nicht mehr gefragt. Der Kreml betreibt, insbesondere seit Putin das Amt des Regierungschefs übernahm und den zweiten Tschetschenienkrieg begann, die gezielte Unterdrückung der Ansätze zu demokratischen Gepflogenheiten und zu Bürgerrechten, die Anfang der neunziger Jahre in Russland entstanden waren.

Auch möchte das russische Establishment nicht daran erinnert werden, dass Sacharow Ende der achtziger Jahre am Entwurf einer neuen Verfassung gearbeitet hatte. Unter anderem hatte diese die juristische Gleichberechtigung sämtlicher nationaler Gebietsteile der Sowjetunion vorgesehen. Als Boris Jelzin in den frühen neunziger Jahren die regionalen Eliten aufrief, "Nehmt Euch so viel Souveränität, wie Ihr verkraften könnt", stützte er sich noch auf diese und ähnliche Vorstellungen. Die Folgen dieser destruktiven Politik äußerten sich in zahlreichen ethnischen und regionalen Konflikten auf dem gesamten Gebiet der ehemaligen Union, und ihre unschuldigen Opfer zählen heute nach Hunderttausenden.

In dieser Frage hat der Kreml eine Wendung um 180 Grad vollzogen. Er begegnet mittlerweile dem Virus des Separatismus mit einer Stärkung des zentralen Militär- und Polizeiapparats und belebt eben jene Traditionen wieder, die zuvor mit dem gesamten Erbe des Stalinismus untergegangen schienen.

Mit anderen Worten, der Versuch, Sacharow in einen "Propheten" und eine "Ikone" zu verwandeln, bezieht sich nur auf den Privatmenschen, nicht aber auf den gesellschaftlichen und politischen Führer.

Es gibt noch eine weitere Frage, der die russischen Massenmedien ausweichen. Sie betrifft Sacharows Vermächtnis. Hat er etwas hinterlassen, das der Entstehung einer neuen Generation geistig unabhängiger und verantwortungsbewusster Bürger dienen könnte, die Verantwortung für das Schicksal der Gesellschaft übernehmen? Die Zustände im postsowjetischen Russland lassen erkennen, dass eine solche Generation nicht einmal im Ansatz vorhanden ist.

Die Soziologin der Zeitschrift Expert, T. Gurova, meint, dass die Ideen der Demokratie, der Verteidigung von Bürgerrechten und Freiheiten in der Dissidentenbewegung aus Sowjetzeiten wurzeln; ihre Vertreter sind hauptsächlich "Personen aus der parteiungebundenen oder nur lose parteigebundenen Intelligenz", die im Großen und Ganzen über 45 Jahre alt sind. "In diesen Kreisen wird der Begriff der Freiheit gleichgesetzt mit den Begriffen der freien Meinungsäußerung, der Gewissens- und Assoziationsfreiheit, mit dem Recht auf Auswanderung", usw.

Doch nicht diese Leute entscheiden über das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben im heutigen Russland. An den Hebeln von Macht und Einfluss sitzen Leute, die in den vergangenen zehn Jahren sehr erfolgreich waren, "doch diesen Erfolg verdankten sie nicht dem mystischen Ideal der Demokratie, sondern ihrem eigenen Willen und ihrer Tatkraft". Ihre Wurzeln liegen, fährt die Expert -Autorin fort, "in den ungezügelten Gesetzesüberschreitungen ihrer Partner, in der Dummheit der regionalen Gouverneure, in der Brutalität und im Erfindungsreichtum ihrer Kollegen, in der Größe des Marktes, in der Gleichgültigkeit der Staatsmacht - in allem, was unser Alltagsleben ausmacht."

Möglicherweise sind dies die einzigen objektiven gesellschaftlichen Folgen, anhand derer wir die Bedeutung A. Sacharows und ähnlicher Figuren bewerten müssen. Vielleicht war seine subjektive Zielsetzung in Ordnung. Persönlich hat er sich nicht, wie die überwiegende Mehrheit der Kremlpolitiker seit den neunziger Jahren, mit Lügen, Blutvergießen und Korruption besudelt. Doch seine politischen Ideen sind darum nicht weniger reaktionär. Aus der großen historischen Perspektive stand sein politisches Programm nicht für einen Ausweg der Sowjetunion aus der Sackgasse, in die sie geraten war, sondern für das genaue Gegenteil: für ihr immer tieferes Versinken in einer tödlichen Krise, für den gesellschaftlichen Verfall.

Es sollte uns nicht überraschen, dass seine Ideen in der neuen, postsowjetischen Generation keinen positiven Widerhall finden. Der Geburtstag des Wissenschaftlers Sacharow, dessen Tod nun zwölf Jahre zurückliegt, bietet Anlass, diese bezeichnende Tatsache zu überdenken und uns die Frage zu stellen, welche gesellschaftliche Perspektive zu einer wirklichen Erneuerung unseres Landes führen kann.

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