Faschistische Überfälle in Moskau

In den Abendstunden des 30. Oktober überfielen ungefähr 300 mit Holzknüppeln und Eisenstangen bewaffnete Skinheads den im Süden Moskaus gelegenen Markt "Zarizyno" und verprügelten Dutzende Händler, die vor allem aus den südlichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion stammen. Danach bestiegen etwa hundert von ihnen in der gleichnamigen U-Bahnstation die Metro und schlugen dabei auf Passanten und Fahrgäste ein. Eine Station weiter gingen sie in der Nähe des Hotels "Sewastopol" auf dort untergebrachte Flüchtlinge aus Afghanistan los und verletzten einige von ihnen lebensgefährlich.

In der Folge dieses pogromartigen Überfalls starben ein 35- und ein 37-jähriger Aserbaidschaner und später ein 18-jähriger Tadschike, der am 5. November seinen Kopfverletzungen erlag. Mehr als zwanzig weitere Opfer mussten mit zum Teil schweren Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert werden.

Politiker, Polizei und Medien versuchten diese Anschläge sofort als Rowdytum von Fußballfans herunterzuspielen, weil auch Russen verprügelt wurden. Der Leiter der Städtischen Verwaltung für Innere Angelegenheiten (GUWD), Generalmajor Wladimir Pronin, erklärte am nächsten Tag, dass es sich bei den Jugendlichen um fanatische Anhänger der Moskauer Fußballmannschaft "Spartak" handle, die nach dem verlorenen Spiel gegen die Petersburger Mannschaft "Zenit" vom vorangegangenen Sonnabend "ihre Emotionen" nicht hätten "ausleben" können.

Aus Augenzeugenberichten und selbst aus Polizeiangaben geht dagegen eindeutig hervor, dass es sich um Rechtsradikale handelte. Viele Beteiligte hatten kahlgeschorene Köpfe und trugen Aufnäher der rechtsradikalen "Russischen Nationalen Einheit" (RNE).

Viele Augenzeugen schließen aus dem massiven, zielgerichteten und bewaffneten Auftreten der Angreifer, dass der Überfall im voraus geplant war.

"Was ich gesehen habe, sah nicht wie ein spontaner Akt aus", sagte die 27-jährige Walera gegenüber dem Russia Journal mit der ausdrücklichen Bitte, ihren Nachnahmen nicht zu nennen. "Die Angreifer kamen in Uniformen. Jemand hat das wahrscheinlich organisiert, mir scheint zumindest, dass das von jemandem vorher sehr gut geplant war. Wie kann es sein, dass sie innerhalb von drei Minuten ein solches Chaos anrichten, Glas zerschlagen und Leute zu Boden treten konnten? Glauben Sie mir, das war nicht nur ein Mob."

Anna Mashuga, die Vorsitzende der Antifaschistischen Jugendbewegung, erklärte, dass sie zwar nicht wisse, ob dieser Überfall organisiert war, "aber diese Leute machen normalerweise nichts von selbst. Sie haben gut organisierte Gruppen".

Laut inoffiziellen Angaben der GUWD gibt es in Moskau etwa 2000 aktive und organisierte Rechtsradikale, die mit weiteren 25.000 Rechten in loser Verbindung stehen. In letzter Zeit haben sich rechtsradikale Überfälle gehäuft. Die jüngsten Anschläge sind nur der vorläufige Höhepunkt.

So überfielen am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers, etwa 150 Skinheads im Moskauer Südbezirk "Jassenowo" einen Lebensmittelmarkt, auf dem vor allem Händler aus dem Kaukasus arbeiten. Damals wurden zehn Personen verletzt. Am selben Tag wurde im Zentrum Moskaus ein tschetschenischer Jugendlicher erstochen und im Mai in der U-Bahn ein afrikanischer Student. Am 3. November, nur vier Tage nach den letzten Überfällen, konnte nur knapp ein weiterer Überfall von 150 Skinheads auf einen anderen Markt verhindert werden.

Politiker und Polizei leugnen in der Regel den politischen Hintergrund solcher Überfälle, stellen sie als rein kriminelle Taten dar und begründen damit eine weitere Aufrüstung des Staatsapparats.

Obwohl Polizeisprecher erklärt haben, sie wüssten alle Namen der Angreifer vom Markt "Zarizyno", sind bisher lediglich 25 verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Verdächtigen Verfahren wegen "Mord" und "Rowdytum" nach den Paragraphen 105 und 213 des Strafgesetzbuches eingeleitet. Der Paragraph "Anstachelung zu nationalistischer Zwietracht" soll dagegen nicht zur Anwendung kommen.

Der Vorsitzende der Dumafraktion der Partei "Einheit", Wladimir Pechtin, reagierte mit der Forderung nach einer Erhöhung der Ausgaben für die Sicherheitsstrukturen und stieß damit auf breite Zustimmung. Ähnlich reagierte Präsident Wladimir Putin, der sich erst am fünften Tag nach den Anschlägen zu Wort meldete. Er beauftragte den Innenminister, Maßnahmen zu ergreifen, damit es nicht mehr zu solchen "negativen extremistischen Vorfällen" komme.

Verantwortung der offiziellen Politik

Tatsächlich hat die offizielle Politik systematisch den Boden für die Ausschreitungen der Rechten bereitet, die größten gewalttätigen Übergriffe dieser Art seit den Pogromen der Zarenzeit, die sich damals hauptsächlich gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war es zu einer regelrechten Blüte von faschistischen und nationalistischen Organisationen verschiedenster Couleur gekommen, die recht unverhüllt von führenden Politikern und Staatsorganen ermutigt und angefeuert wurden.

Beispielsweise durfte die berüchtigte Partei "Russische Nationale Einheit" (RNE) Alexander Barkaschows, die größte offen faschistische Organisation in Russland, mit Tolerierung der Moskauer Stadtverwaltung jahrelang im Telezkij-Park im Osten der Stadt und in der Nähe des berühmten historischen Ismailowskij-Parks feste Trainingsbasen unterhalten, in denen Tausende von Skinheads und Neonazis kampftechnisch ausgebildet wurden. Offiziell hatten sie einen Vertrag zur "Bewachung der Parkanlagen".

Hochstehende Politiker und Staatsbeamte bezeichnen Angehörige nichtrussischer Nationalitäten regelmäßig mit Schimpfwörtern, die seit dem Untergang des Zarenreiches als vergessen galten. Ukrainer, Juden, Kaukasier, Tataren, Asiaten und Angehörige der zentralasiatischen Völker werden nach alter großrussischer Manier zum allgemeinen Gespött gemacht und - wie im Fall der Tschetschenen - für die gesellschaftliche Krise verantwortlich gemacht.

Gerade die Bewohner der russischen Regionen des Nordkaukasus - Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien oder Kabardino-Balkarien - und der ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Aserbaidschan, Armenien oder Usbekistan gehören zu den größten Verlierern des Zusammenbruchs der Sowjetwirtschaft. Arbeitslosenraten von bis zu 80 Prozent haben sie in eine bis dahin längst überwunden geglaubte bittere Armut gestürzt und zur Rückkehr zur mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft gezwunen, wo jeder das zum Leben notwendige selbst anbaut - wenn das entsprechende Stück Land zur Verfügung steht.

Nicht wenige aus diesen Regionen sehen ihre letzte Hoffnung darin, in große russische Städte zu gehen, wo die Tätigkeit als Obst- und Gemüsehändler zumindest Arbeit und ein halbwegs gesichertes Einkommen verspricht. Vor allem Moskau ist zu einem Magneten geworden. Dort werden mittlerweile über 80 Prozent aller russischen Finanztransaktionen abgewickelt und das Lebensniveau ist mit großem Abstand am höchsten.

Innenpolitisch wurde vor allem ihnen, die sich durch ihre dunklere Haut- und Haarfarbe von den Russen unterscheiden, der Krieg erklärt. Sie werden als "Schwarze" bezeichnet, sind praktisch rechtlos und gelten als Sündenbock für jedes Ungemach. Die schon zu Sowjetzeiten bestehende Zuzugsbegrenzung nach Moskau wurde insbesondere für diese Bevölkerungsgruppe von der Moskauer Stadtverwaltung unter Bürgermeister Juri Luschkow umfassend verschärft. Diskussionen über eine weitere Diskriminierung von Kaukasiern fanden bis unmittelbar vor den jüngsten Überfällen statt.

Offiziell darf man sich als Nicht-Moskauer nur drei Tage ohne Registrierung in der Stadt aufhalten und muss auf Verlangen eine Rückfahrkarte vorzeigen können. Eine Registrierung bekommt man nur, wenn man in einem Hotel wohnt oder eine eigene Wohnung hat.

Bei der Polizei wurden die "Schwarzen" damit zu den Hauptopfern von Willkür und Unterdrückung. Man kann beinahe auf jeder U-Bahnstation und auf den großen Straßen der Stadt Polizisten beobachten, die gezielt "Schwarze" kontrollieren und sich das geringste Vergehen hoch bezahlen lassen. Wer nicht bezahlen kann, wird auf die Polizeiwache mitgenommen, wo er von seinen Angehörigen freigekauft werden muss. Nicht selten werden die Opfer in den Hinterzimmern der Polizeiwachen brutal zusammen geschlagen.

Nach der Finanzkrise vom August 1998, die zu einer dramatischen Verelendung breiter Teile der Bevölkerung führte, und Wladimir Putins Aufstieg an die Spitze des Staates hat sich die Lage dramatisch verschärft. Im Namen der "Diktatur des Gesetzes" vollzog das Kremlregime einen breit angelegten innenpolitischen Rechtsschwenk. Polizeistaatsmethoden wurden zum neuen Herrschaftsprinzip erhoben und demonstrativ die großrussische nationale Karte ausgespielt.

Eine wichtige Rolle spielte dabei der zweite Tschetschenienkrieg. Die verheerenden Bombenanschläge in Moskau und anderen Städten Russlands, bei denen über 300 Menschen ums Leben kamen, wurden benutzt, um eine Atmosphäre von Angst und Einschüchterung zu entfachen. Die Anschläge sind bis heute nicht aufgeklärt. Obwohl einige Spuren zum russischen Geheimdienst führen, wurden von offizieller Seite sofort "tschetschenische Terroristen" verantwortlich gemacht und damit der Einmarsch in Tschetschenien gerechtfertigt. Im Straßenjargon verkündete Putin damals seine neue politische Doktrin - den "Kampf gegen den Terrorismus": "Wir werden die Terroristen auch auf dem Klo rösten, wenn sie sich dort verstecken."

Parallel dazu kam es zu einer starken Beschneidung der Pressefreiheit. Im Namen des "Kampfes gegen die Oligarchen", die sich wie Wladimir Gussinski oder Boris Beresowski mächtige Medienimperien aufgebaut hatten, wurden die Medien mehr und mehr unter die Kontrolle der Regierung gebracht. Dieses Vorgehen wurde von massiven Einschüchterungskampagnen - wie im Falle der Journalisten Andrej Babitzki oder Anna Politkowskaja - begleitet, die mit vernichtenden Berichten über das Vorgehen der russischen Armee in Tschetschenien an die Öffentlichkeit getreten waren.

Präsident Putin hat die Reaktion der US-Regierung auf die Ereignisse vom 11. September als Bestätigung seines Kurses aufgefasst. Schon wenige Stunden nach den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon erklärte er, dass "er die Amerikaner schon seit zwei Jahren vor den Gefahren des internationalen Terrorismus gewarnt" habe. Sie hätten "aber nicht auf uns gehört". Eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die tschetschenischen "Terroristen" wurde sogleich auf die Tagesordnung gesetzt.

Auf diesem Boden sind die ultrarechten, rassistischen Tendenzen gediehen, die jetzt zugeschlagen haben.

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