Der Zusammenbruch der Swissair

Enge Zusammenarbeit zwischen Banken, Geschäftsleitung und Regierung gegen die Beschäftigten

Am 2. Oktober stellte die größte schweizerische Fluggesellschaft Swissair aufgrund von Geldmangel überraschend ihren kompletten Flugbetrieb ein. Weltweit konnten 39.000 Passagiere ihre gebuchten Flüge nicht antreten, weil sie ersatzlos gestrichen und die Tickets von anderen Fluggesellschaften nicht anerkannt wurden.

Nach dem Amoklauf im Kanton Zug rückte die als beschaulich, stabil und zuverlässig geltende Schweiz innerhalb kürzester Zeit mit einer zweiten Schockmeldung erneut ins Zentrum der Weltöffentlichkeit.

Es kam zu einem regelrechten Chaos, als am Vormittag des 2. Oktober alle Europaflüge und ab Nachmittag auch alle restlichen Flüge der Fluggesellschaft ersatzlos annulliert wurden. Die Schalter der Swissair schlossen einfach, und niemand kümmerte sich mehr um die gestrandeten Passagiere, die weder weiterfliegen konnten, noch Geld für ein Hotelzimmer bekamen. Unzählige mussten auf dem nackten Fußboden schlafen, wenn sie nicht wie auf dem Züricher Flughafen, wo allein 4.000 Passagiere vergeblich auf ihren Weiterflug warteten, in Zivilschutzunterkünften untergebracht werden konnten.

"Das hätte ich nie für möglich gehalten" oder "Das ist eine Schande" hörte man an diesem Tag allerorten Passagiere ausrufen. Für viele ist mit der als "fliegende Bank" bekannten Swissair eine Welt zusammengebrochen. Etliche weinten vor laufenden Fernsehkameras, und ein junger Argentinier sagte: "Und ich dachte, ich sei hier in der Ersten Welt". Die Zeitungen sprachen von einer "nationalen Tragödie", einem "nicht wieder gutzumachenden Imageschaden" und einem Zusammenbruch, der in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte bisher unbekannt war. Der Aktienkurs der Swissair stürzte am Mittwoch von knapp 100 auf 1,27 Schweizer Franken (von ca. 135 auf 1,71 DM) ab und führte praktisch zum Totalverlust des Aktienkapitals. 1998 stand die Aktie noch bei 500 Franken.

In einem widersprüchlichen Wirrwarr aus Nebelkerzen und Katz-und-Maus-Spielen über den tatsächlichen Hergang der Pleite beschuldigten sich in den darauf folgenden Tagen Geschäftsführung, beteiligte Banken und Politiker gegenseitig, den Zusammenbruch nicht verhindert zu haben. "Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Banken und Geschäftsleitung" und auch die Krise in der Luftfahrt seit dem 11. September wurden angeführt und vor allem die Banken als die angeblich Hauptverantwortlichen in der Öffentlichkeit angeprangert.

Doch der Zusammenbruch der Swissair - einer der größten und renommiertesten Fluggesellschaften Europas - kam für diesen kleinen Kreis von Bankiers, Unternehmensführern und Politikern alles andere als unerwartet. Er war das Ergebnis einer bewusst herbeigeführten Entscheidung. Lediglich über deren tatsächliche Durchführung gab es unterschiedliche Auffassungen und zweitrangige Differenzen.

Die Krise der Swissair

Seit spätestens Ende letzten Jahres reifte in der Swissair eine Krise heran, die für das Geschäftsjahr 2000 erstmals in der 70jährigen Firmengeschichte zu einem bilanziellen Verlust führte, der sich auf 2,9 Milliarden Franken belief und die gesamten Kapitalrückstellungen aufzehrte. Im Verlaufe dieses Jahres explodierte der Schuldenberg. Hatte er Ende Dezember 2000 noch 6,8 Milliarden Franken betragen, stieg er bis zum 28. September auf über 15 Milliarden Franken.

Mit der Liberalisierung und Deregulierung der Flugmärkte, beginnend 1978 in den USA, wurden die Fluggesellschaften einem immer härteren Konkurrenzkampf ausgesetzt, um sie zu rein auf Profit orientierten Unternehmen umzubilden, die sich nicht mehr auf Staatsgelder und vom Staat garantierte Flugrouten stützen sollen. Damit wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die darauf abzielt, den Standard für Passagiere und Personal immer weiter herabzusetzen. Neuentstandene Billigfluganbieter wie EasyJet, Ryanair, Buzz oder Go zahlen ihren Belegschaften mittlerweile nur noch einen Bruchteil der früher üblichen Löhne, und die Passagiere müssen sich während der Flüge Verpflegung und Zeitungen selbst kaufen oder mitbringen.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden auch in Europa mit der Durchsetzung von Liberalisierung und Deregulierung einschneidende Veränderungen im Luftverkehr vorgenommen. Es entbrannte ein Wettkampf darum, mächtige Luftdrehkreuze - so genannte Hubs - zu schaffen, mit denen sich durch Verbindung von Interkontinental- und Zubringerflügen hohe Passagierzahlen erzielen lassen - die wichtigste Voraussetzung zum Überleben in dieser Branche.

Interkontinentale Allianzen wurden geschmiedet, und Flughäfen wie London Heathrow, Paris Charles de Gaulle oder Amsterdam und Frankfurt am Main massiv ausgebaut. Auch der Flughafen Zürich Kloten sollte zu einem der zehntgrößten Flughäfen Europas aufsteigen, weshalb allein in den letzten zwei Jahren über 2,3 Milliarden Franken in dessen Ausbau investiert wurden.

Integraler Bestandteil dieses Planes war die Ausdehnung der Swissair zur viertgrößten Fluglinie Europas. Wegen der geringen Bevölkerungszahl der Schweiz von etwa 7,1 Millionen Einwohnern und der weitgehend gefestigten konkurrierenden europäischen Flugallianzen versuchte sich die Swissair zum Kern einer eigenen Allianz, der so genannten Qualifier Group, zu machen. Sie erwarb Beteiligungen an der belgischen Sabena, der französischen AOM/Air Liberté, der portugiesischen TAP und anderen kleineren Gesellschaften, die aufgrund des Konkurrenzdrucks teilweise in ähnlichen finanziellen Problemen wie die Swissair steckten und immer noch stecken. Zeitweise konnte sie auch die amerikanische Fluggesellschaft Delta Airlines für eine Beteiligung gewinnen.

Aufgrund der allerdings weit hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Entwicklung der Passagierzahlen und der einsetzenden Rezession konnte das Unternehmen immer weniger seine ehrgeizigen Pläne finanzieren und häufte diesen gigantischen Schuldenberg an.

Seit Beginn des Jahres kam es deshalb zu intensiven Verhandlungen mit den maßgeblich kreditgebenden Banken, der United Bank of Switzerland (UBS) und der Credit Suisse First Boston (CS), über weitere Kredite und die Sanierung der Swissair. Zunächst gelang es Mario Corti, dem erst im Januar neu eingesetzten Chef der Swissair Group - der Holding, zu der die Swissair gehört -, weitere kostspielige Beteiligungsverpflichtungen an Sabena und TAP zu begrenzen und einige Unternehmensbeteiligungen aus dem flugverwandten Geschäft zu verkaufen. Gleichzeitig kündigte Corti an, bis zum Jahresende 1.300 Beschäftigte zu entlassen. Diese Pläne waren jedoch nicht weitreichend genug, um die Schuldenspirale zu stoppen, und die Krise in der Luftfahrt seit dem 11. September leitete den Anfang vom Ende ein.

Ende September waren die Banken nicht mehr bereit, weitere Gelder in die Fluggesellschaft zu pumpen, ohne dass die Unternehmensleitung wesentlich einschneidendere Umstrukturierungen vornimmt. Als Hauptproblem betrachteten sie dabei die Angestellten der Swissair. Mit ihren weltweit 72.000 Beschäftigten, von denen 21.000 in der Schweiz arbeiten, hat die Swissair immer noch einen vergleichsweise hohen Personalbestand, der darüber hinaus zu den am besten bezahlten der Welt zählt. Die Financial Times Deutschland drückte dies mit den Worten aus: "Die alte Swissair lebte in Saus und Braus. Die Mitarbeiter genossen Privilegien, die bei der Konkurrenz undenkbar waren."

So wurde der Öffentlichkeit am 24. September ein radikaler Konzernumbau vorgestellt, demzufolge aus der Swissair und deren Tochtergesellschaft, der Regionalfluggesellschaft Crossair, an der die Swissair zu über 70 Prozent beteiligt war, eine neue Fluggesellschaft entstehen sollte - die Swiss Air Line.

Die Crossair gilt als das profitable Filetstück im Swissair-Konzern, weil deren Piloten mit 120.000 Franken jährlich weniger als die Hälfte dessen ihrer Kollegen bei der Swissair verdienen, die immer noch 250.000 Franken bekommen. Das Kabinenpersonal der Crossair muss sich mit etwa einem Drittel weniger als ihre Kollegen bei der Swissair begnügen. Zur weiteren Kostensenkung sollten jetzt die Entlassungen auf 10 Prozent der Belegschaft erhöht werden - etwa 7.000 Beschäftigte.

Die Leitung der neuen Linie sollte André Dosé übernehmen, der bisherige Chef der Crossair. Der 44jährige Dosé gilt als geeignet, die notwendigen Kürzungen durchzusetzen. Als Landwirtschaftspilot arbeitete er zunächst in den USA, wo er Baumwollfelder besprühte, und wurde 1986 Co-Pilot bei der Crossair. Ein Jahr später wurde er zum Flugkapitän befördert und 1990 in die Geschäftsleitung aufgenommen. Gefragt, wie er die Einschnitte durchsetzen wolle, antwortete er trocken: "Als Pilot können sie es sich nicht leisten, lange an einem Problem herumzukauen."

Nun beschleunigte sich die Krise der Swissair rasant. Schon am 26. September stand die Fluggesellschaft praktisch vor dem Bankrott, nachdem mehrere kleinere Banken ihre Kreditlinien zurückgeführt hatten und dem Unternehmen lediglich 100 bis 200 Millionen Franken an liquiden Mitteln verblieben. Nach etlichen Verhandlungen mit der UBS und der CS einigte man sich am 29. September darauf, dass die Banken Crossair für 260 Millionen Franken selbst übernehmen und Swissair gleichzeitig ein Überbrückungskredit von 250 Millionen Franken "zur Aufrechterhaltung des Flugbetriebes bis zum 3. Oktober" gewähren.

Wie sich inzwischen jedoch herausstellte, wurde die Unterzeichnung des Vertrages und die Überweisung des Kaufpreises derartig von den Banken hinausgezögert, dass das Geld "zu spät" eintraf und die Swissair ihren Flugbetrieb einstellen musste. Sie konnte mittlerweile nicht einmal mehr das Geld für Benzin und Flughafengebühren aufbringen und musste ihren Bankrott erklären.

Die Verantwortung der Politiker

Sofort wurde von Politikern und der Geschäftsleitung der Swissair eine Kampagne gegen die Banken vom Zaun gebrochen und UBS-Chef Marcel Ospel zum Buhmann der Nation erklärt. Die größte Zeitung Genfs, die "Tribune de Geneve", titelte am nächsten Tag "UBS - United Bandits of Switzerland". Auch in der Bevölkerung gab es zornige Reaktionen. Tausende lösten ihre Konten bei den beiden Banken auf und unterstützten Demonstrationen von Swissair-Angestellten mit großer Sympathie und Enthusiasmus.

Der Bundesrat und die darin vertretenen Parteien bewilligten am 3. Oktober einen Bundeskredit in Höhe von 250 Millionen Franken, mit dem der Flugbetrieb zumindest teilweise aufrechterhalten werden kann und stellten sich als die "Retter der Nation" dar.

Die im Verlauf der vergangenen Woche an die Öffentlichkeit getragene Debatte macht indes immer deutlicher, dass der Zusammenbruch der Swissair schon seit langem feststand und sich die Beteiligten in den Chefetagen nur noch nicht über das Wie und Wann einig waren, d.h. wie er am reibungslosesten zu bewerkstelligen sei.

Politiker, Bankiers und Geschäftsleitung waren sich darüber im Klaren, dass die für eine tatsächliche "Sanierung" der Swissair notwendigen drastischen Gehaltskürzungen und Entlassungen nicht ohne größeren Widerstand und eine politische Krise in der Schweiz durchgesetzt werden können.

Gleich am 3. Oktober gab das Verwaltungsratsmitglied der UBS, Peter Kurer, auf einer Pressekonferenz zu: Es "wäre die Swissair in diesem Herbst ohnehin nicht mehr zu retten gewesen". Die "moribunde Swissair bzw. die Verantwortung für die absehbaren Entlassungen einer Gesellschaft, die man seit Jahren in- und auswendig" kenne, habe man nicht übernehmen wollen.

Gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung räumte der für die Finanzen zuständige Bundesrat Kaspar Villiger ein, dass man zwar "seitens des Bundesrates die Eigendynamik einer solchen Liquiditätskrise und damit das Tempo, in welchem sich die Lage zuspitzen könnte, unterschätzt" habe. Man habe "von der drohenden Stilllegung gewusst, diese aber nicht so rasch erwartet". Dem widersprach allerdings Swissair-Chef Corti und gab an, er habe den Bundesrat mindestens noch vor seiner eigens einberufenen Krisensitzung am Montag, dem 1. Oktober, über zusätzlichen Finanzbedarf in Höhe von 500 Million Franken informiert. Fest steht, der Bundesrat entschied in dieser Sitzung nicht mehr helfend einzugreifen und gab den Banken damit das entscheidende Signal.

Mit dieser Radikalkur braucht wahrscheinlich nicht einmal mehr der sonst für die Entlassungen angefallene Sozialplan von 600 Millionen Franken gezahlt werden, weil die Swissair nun offiziell bankrott ist und somit jeglichen Ansprüchen von vornherein ein Riegel vorgeschoben ist.

Spitzenvertreter der Regierungsparteien machten deutlich, dass es ihnen vor allem darum gegangen sei, den "Imageschaden für das Land" so begrenzt wie möglich zu halten. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund begrüßte den Kreditbeschluss und forderte lediglich, dass sich der Bund das Darlehen nicht zurückerstatten lassen, sondern sich selbst an der neuen Airline beteiligen solle.

Mit der Entscheidung, die Swissair fallen zu lassen, wurde bewusst dem bisherigen relativ hohen sozialen Niveau in der Schweiz - und nicht nur der Swissair-Beschäftigten - der Kampf angesagt. Die herrschenden Kreise in der Schweiz sind zu dem Schluss gekommen, dass auch sie sich der bereits seit langem in den USA und nun auch in Europa mit Nachdruck durchgeführten Politik von Sozialangriffen und Lohnabbau verschreiben sollten.

Die Neue Zürcher Zeitung bemerkte dazu am 7. Oktober sehr treffend: "Es ist wohl so, dass mit dem Untergang der Swissair ein weiteres, wichtiges und gutes Stück ‚Sonderfall Schweiz‘ - den es nach wie vor gibt - unwiederbringlich verloren gehen wird."

Siehe auch:
Amoklauf von Zug erschüttert die Schweiz
(5. Oktober 2001)
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