Die Grünen fordern schlagkräftige Berufsarmee

In der zur Zeit stattfindenden Debatte über die Wehrpflicht in Deutschland präsentieren sich die Grünen als die vehementesten Vertreter einer Berufsarmee und Wegbereiter des wiederkehrenden deutschen Militarismus.

Winfried Nachtwei, der für die Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestages sitzt, meint in einem in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Thesenpapier, die Bundeswehr benötige für ihre internationalen Kampfeinsätze (im Grünenjargon: "multilaterale Krisenbewältigung") "hochprofessionelle" und "schnell einsatzbereite Kräfte". Wehrpflichtige seien für die jetzigen Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr geeignet.

Zur Erinnerung: Noch im Wahlprogramm der Grünen für die letzte Bundestagswahl von 1998 hieß es, Ziel grüner Politik bleibe die "Entmilitarisierung der Politik - bis hin zur Abschaffung der Armee und zur Auflösung der Nato". Diese Position wurde allerdings vollständig vom Gesichtspunkt des einzelnen Individuums aus gesehen, für das dann die Wehrpflicht entfällt. Heute empfinden die grünen Spitzenpolitiker keinerlei Skrupel, ihre Forderungen nach Abschaffung der Wehrpflicht mit der Forderung nach dem Aufbau einer schlagkräftigen, schnell international einsetzbaren und zuverlässigen Berufsarmee zu verknüpfen.

Nachtwei frohlockt in seinem Thesenpapier: "Die Stimmung kippt! Lange standen die Grünen mit ihrer Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht gegen eine große Koalition ihrer Befürworter, die diese Wehrform regelrecht idealisierten, ja dogmatisierten. Nach der PDS und dem vor allem parteitaktisch begründeten Positionswechsel der FDP äußern inzwischen auch höchste (ehemalige) Militärs wie der Ex-Heeresinspekteur Willmann grundlegende Zweifel an der Wehrpflicht. Sie sprechen für eine wachsende Zahl aktiver Offiziere."

Als hätte die deutsche Geschichte die unselige Tradition des Militarismus vom preußischen Militär bis zum Faschismus nicht gekannt, bestärkt "eine wachsende Zahl aktiver Offiziere" grüne Politik.

Während die Grünen früher immer gegen die Militärausgaben argumentiert haben, indem sie nahe legten, dass die Gelder im sozialen Bereich oder im Umweltschutz fehlen würden, geht es Nachtwei nun beim Hinweis auf die Kosten um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr: "Wer an ihr [der Wehrpflicht] festhält, bewirkt eine Implosion des Wehretats oder bezweckt seine Explosion - mit entsprechenden Folgen für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr." Etwas weiter greift er die SPD an: "Die Grünen plädierten im Frühsommer 2000 mit einer Freiwilligenarmee von ca. 200.000 Soldaten für eine Reform aus einem Guss. Wären die Vorstellungen damals vom Kanzler und dem Kabinett übernommen worden, stünden für die Modernisierung der Bundeswehr wichtige Milliarden zur Verfügung."

Professor Reiner Huber von der Bundeswehruniversität in München bescheinigt den Grünen in einem Gutachten über die Bundeswehrkonzepte der verschiedenen Parteien, dass unter den gegebenen finanziellen Rahmenbedingungen das Konzept der grünen Bundestagsfraktion die einsatzfähigste und qualitativ beste Truppe hervorbringt.

Bei vielen seiner Argumente liegt Nachtwei auf einer Linie mit Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat: ",Dank' Wehrpflicht stehen von 293.000 Bundeswehrsoldaten (Februar 2002) insgesamt ca. 83.000 Grundwehrdienstleistende und ein Drittel Regiepersonal, also ca. 110.000 (37 Prozent), für Auslandseinsätze nicht zur Verfügung. Beim Heer als Hauptträger der Kriseneinsätze fallen sogar ca. 90.000 von 202.000 Soldaten (44 Prozent) aus. Die Wehrpflicht bindet neben Personal zugleich Finanzen, Liegenschaften und Gerät in Milliardenhöhe."

Allerdings will der oberste General nicht vollständig auf die Wehrpflicht verzichten. "Ohne Wehrpflichtige können weder die benötigten Mannschaftsdienstgrade für den Einsatz rekrutiert noch der notwendige Nachwuchs für die Regeneration der Zeit- und Berufssoldaten sichergestellt werden. Das enorme Potential an vielseitigen Kenntnissen und Fähigkeiten, das die jungen Männer in die Streitkräfte hineintragen, kann auf anderem Wege nicht gewonnen werden", erklärt er.

Wegbereiter des Militarismus

Der Großteil des grünen Papiers befasst sich jedoch mit einer zentralen Frage: Wie kann die Akzeptanz der deutschen Armee in der Gesellschaft erhöht werden? Oder mit anderen Worten: Was ist für die "Enttabuisierung des Militärischen" (Frankfurter Rundschau) notwendig?

Offensichtlich realisieren die Grünen, dass in der Bevölkerung ein weit verbreitetes Gefühl existiert, das ihnen inzwischen völlig fremd geworden ist: Misstrauen und Feindschaft gegenüber dem Militär.

"Seit Jahren weisen [...] die Jahresberichte der Jugendoffiziere der Bundeswehr auf die geringe Akzeptanz der Wehrpflicht unter jungen Menschen hin. [...] Die ständig wachsenden KDV-Zahlen [Kriegsdienstverweigererzahlen] sind zum erheblichen Teil auch eine Antwort auf die mangelnde Plausibilität der Wehrpflicht. Seit 1989/90 hat sich die Zahl der Verweigerer mehr als verdoppelt. 2001 gingen mit 182.420 KDV-Anträgen so viele ein wie noch nie zuvor." Diese steigende individuelle Verweigerung des "Diensts an der Waffe" ist - neben der berechtigten Furcht, sich unversehens in Kriegen in fernen Ländern wiederzufinden - der noch politisch unartikulierte Ausdruck einer steigenden Opposition gegen die Außen- und Kriegspolitik der Bundesregierung.

Nachtwei bestätigt dies indirekt, wenn er schreibt: "Wo die Entscheidung Wehr- oder Zivildienst korreliert mit dem Bildungsabschluss und der politischen Orientierung, da ist die Integrationswirkung der Wehrpflicht von vornherein sehr partiell. Zugleich wird meist die andere Seite der Wehrpflicht ignoriert: die mehr als ein Drittel Kriegsdienstverweigerer, denen die weltanschaulich-grundsätzliche Absage an Militär abverlangt und eine politische Auseinandersetzung mit ihm erschwert wird. Die Folge davon ist, dass ein beträchtlicher Teil eines jeden Jahrgangs der Bundeswehr desinteressiert oder distanziert gegenübersteht. Die Integrationswirkung der Wehrpflicht ist ausgesprochen ambivalent."

Diesen gesellschaftlichen Druck - die "distanzierte" Haltung der Wehrpflichtigen nebst ihrer Angehörigen gegenüber der Bundeswehr - wollen die Befürworter einer Berufsarmee aus der Bundeswehr eliminieren.

Gleichzeitig zieht die Bundeswehr insbesondere bei den freiwillig länger Wehrdienstleistenden (FWDL) nicht selten die rückständigsten Elemente an: "Unbestreitbar ist, dass über Wehrpflichtige auch einiger Ungeist in die Bundeswehr gelangt", kommentiert Nachtwei die rechtsradikalen Verbrechen von Bundeswehrsoldaten. Ein Armee-interner Bericht gebe "die unter Soldaten verbreitete Einschätzung wieder, die,Wehrpflichtigen stellten keinen repräsentativen Durchschnitt der heutigen Jugend mehr dar'. Über die Rekrutierungspraxis der FWDL durch die Kreiswehrersatzämter heißt es,... sie kauften eher,den Bodensatz der Gesellschaft ein'."

Mit ähnlichen Argumenten hatte bereits vor zwei Jahren Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) die Aufrechterhaltung einer begrenzten Wehrpflicht begründet. Ohne Wehrpflicht würden sich nur noch die Rechten und diejenigen, die aufgrund mangelnder Leistungen in Wirtschaft und Forschung keine Change haben, als Soldaten melden. "Dann bekommen wir nur noch die Dummen und die Glatzen."

Während also das Verteidigungsministerium und die Militärführung eine begrenzte Wehrpflicht als Rekrutierungsfeld für eine Berufsarmee betrachten und die Grünen eine reine Berufsarmee anstreben, diente die allgemeine Wehrpflicht in der Vergangenheit dazu, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Kontrolle gegenüber der Armee aufrecht zu erhalten.

Die Französische Revolution hatte durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zur Verteidigung der Republik gegen die feudale Reaktion mit der bisherigen Kriegsführung Schluss gemacht. Das blutige Handwerk des Kriegs war bis dahin von Deklassierten und sozial Ausgestoßenen unter dem Kommando adliger Offiziere erledigt worden. Nach der Revolution war die Bevölkerung zu den Waffen gerufen worden. Eine Rückkehr zur Berufs- und Söldnerarmee wurde traditionell als rückschrittlich und politisch-reaktionär angesehen. Die sozialistische Arbeiterbewegung hat sich daher stets für die "Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr anstelle der stehenden Heere" ausgesprochen (Gothaer Programm der SPD von 1875, Punkt 3).

Auch die speziellen deutschen Erfahrungen werden von Nachtwei ignoriert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland im Versailler Vertrag die allgemeine Wehrpflicht verboten. Die Folge war vor allem das unkontrollierte Wiederaufbrechen des Militarismus und die Entwicklung der Armee als ein "Staat im Staate".

Nachtwei geht mit keiner Silbe auf diese Erfahrungen ein. Stattdessen schlägt er die Stärkung der "Inneren Führung der Bundeswehr" vor. Den Verteidigern der Wehrpflicht, die auf die mangelhafte Bildung der Soldaten in den Berufsarmeen Frankreichs, Großbritanniens oder den USA hinweisen, entgegnet er: "Übergangen wird aber, dass die meisten anderen verbündeten Armeen, insbesondere die französische, britische und amerikanische - und erst recht solche des ehemaligen Ostblocks - eine ganz andere Militärkultur haben und so etwas wie die Innere Führung nicht kennen."

An dieser Stelle reibt sich jeder, der auch nur im entferntesten historische Erfahrungen gelten lässt, verwundert die Augen. Nachtwei leugnet nicht nur die lange Tradition des aggressiven preußischen und deutschen Militarismus und seiner Berufssoldatenkaste, sondern blendet selbst ein kritisches Hinterfragen der von ihnen vorgeschlagenen "Inneren Führung" aus.

Das Konzept der "Inneren Führung" ist von Wolf Graf Baudissin entwickelt worden. Er übernahm 1951 das Referat "Inneres Gefüge" im damals sogenannten "Amt Blank", dem Vorläufer des Bundesverteidigungsministeriums. Das Konzept der "Inneren Führung" mit dem Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" galt für den Umbau der deutschen Streitkräfte, nach deren Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg als unverzichtbar.

Baudissin, 1907 als Sohn des preußischen Regierungspräsidenten Theodor Graf von Baudissin geboren, gehörte dem meißnischen Uradel an. Bereits mit 17 Jahren trat er als Fahnenjunker in die (Berufs-)Armee ein. Nach einer Unterbrechung des Militärdienstes für eine landwirtschaftliche Ausbildung, die er 1930 als geprüfter Landwirt an der Technischen Hochschule München abschloss, kehrte er 1930 in den aktiven Dienst in der Reichswehr zurück. Er genoss jahrelang die Waffen- und Kriegsschulausbildung in der Armee, ab 1933 bereits als Leutnant unter den Nazis. An der Kriegsakademie in Berlin absolviert er die Generalstabsausbildung (1938), wird anschließend zum Hauptmann befördert (1939) und zwei Jahre später zum Generalstab des Afrikakorps versetzt, wo er in Kriegsgefangenschaft fällt.

Dieser Mann - das Paradebeispiel des Preußischen Offiziers und Junkers - zeichnet für die "Innere Führung" verantwortlich, in der "Soldatisches Führen, überliefertes deutsches Führungsdenken und soldatische Tugenden mit den Grundsätzen der Inneren Führung" verbunden werden. (Bundesministerium der Verteidigung, Heeresdienstvorschrift (HDv) 100/100 - Truppenführung, Bonn 1987)

Ausgehend von diesen Standpunkten war das Konzept der "Inneren Führung" und des "Staatsbürgers in Uniform" immer damit verbunden, soldatische Traditionen in die Bevölkerung zu tragen und die Armee zur "Schule der Nation" zu machen.

Abschließend gibt Winfried Nachtwei den Generälen noch einige Ratschläge. "Damit die Bundeswehr ihre Bewerber auswählen kann und nicht auf Minderqualifizierte und Möchtegern-Rambos angewiesen ist, muss der Dienst in der Bundeswehr attraktiv und auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig sein. Das ist auch, aber längst nicht nur eine Frage von Besoldung und Aufstiegsmöglichkeiten. Eine entscheidende Rolle spielen das Arbeitsklima, die Innenwerbung durch zufriedene Mitarbeiter [Soldaten; DH] sowie die Verwendbarkeit von beim Militär erworbenen Qualifikationen im Zivilberuf."

Die Kampagne der Grünen für eine schlagkräftige und effiziente Berufsarmee ist eine Reaktion auf die wachsende soziale und politische Polarisierung nicht nur in Deutschland, sondern der gesamten Welt. Weil sie inzwischen für den kleinen Teil der in den 90er Jahren sozial emporgekommenen kleinbürgerlichen Schichten stehen, reagieren die Grünen instinktiv auf die Bedrohung ihrer privilegierten Stellung durch die heraufziehenden gesellschaftlichen Erschütterungen, indem sie nach dem starken Staat rufen - im Ausland repräsentiert durch die Bundeswehr.

Das nächste Stadium dieser Debatte ist bereits vorgezeichnet: Der Einsatz der Bundeswehr im Innern, gegen den inneren Feind. Erste Stimmen in dieser Richtung sind bereits zu vernehmen. In einem umfassenden Strategiepapier forderte der ehemalige Vorsitzende der CDU, Wolfgang Schäuble, die Bundeswehr auch für die "innere Sicherheit" einzusetzen. Zuvor hatte schon Generalinspekteur Harald Kujat im Anschluss an die Terroranschläge vom 11.September vergangenen Jahres laut über einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren nachgedacht. Die Grünen werden auch in dieser Frage den Einsatz des starken Staats zur Aufrechterhaltung von "Ruhe und Ordnung" befürworten.

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