Zum ersten Todestag von Stefan Heym (1913-2001)

Am 16. Dezember 2001 starb im Alter von 88 Jahren Stefan Heym. Dieser Artikel würdigt das Leben und Werk des bedeutenden Schriftstellers.

Amerikanisches Exil und frühe DDR

Heym starb in Israel an Herzversagen. Er hatte die weite Reise nach Jerusalem unternommen, um an einem Heinrich-Heine-Kongress teilzunehmen. Dem rebellischen Geist von Heinrich Heine, Gegenstand seiner im amerikanischen Exil geschriebenen Magisterarbeit, hat sich der Autor Zeit seines Lebens eng verbunden gefühlt, auch wenn in den letzten Jahren ein Hauch von Resignation bei ihm festzustellen war.

Heym war eine der bemerkenswertesten literarischen Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts. Sein Leben war auf vielfältige Weise mit den historischen Ereignissen und Widersprüchen dieser Epoche verknüpft. Der unbeirrbare Demokrat und Aufklärer hatte sich bereits als Schüler der sozialistischen Bewegung angeschlossen, weil er nur in deren Perspektive eine Möglichkeit sah, seine Ideale und Überzeugungen zu verwirklichen.

Seine Romane und Erzählungen kreisen ebenso wie seine Essays um das Verhältnis zwischen Demokratie und Sozialismus. Sein ungelöstes Problem jedoch - und nicht nur seines - bleibt die Einschätzung des Stalinismus. Obwohl er versuchte, sich eine kritische Distanz zur herrschenden stalinistischen Bürokratie zu bewahren, und sein internationales Ansehen nutzte, um die schlimmsten Auswüchse anzuprangern, ließ er sich doch immer wieder von ihr vereinnahmen.

Seit den Tagen der Weimarer Republik, in der Nazizeit, in den USA, in der DDR und im vereinigten Deutschland hat sich Heym - nicht nur als Schriftsteller - immer wieder mutig eingemischt, sich zu seinen demokratischen Überzeugungen bekannt und sich trotz aller Drohungen und Anfeindungen als unversöhnlicher Feind der Borniertheit und Arroganz der Bürokratie erwiesen. Anders als viele seiner zu Dissidenten gewordenen Kollegen war er auch nicht bereit, zum Propagandisten der Rechten zu werden.

Geprägt durch die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung

Stefan Heym, eigentlich Helmut Flieg, wird 1913 in der sächsischen Stadt Chemnitz, die die Stalinisten später Karl-Marx-Stadt nannten, als Sohn des jüdischen Kaufmanns Leo Flieg geboren. Bereits als Gymnasiast beginnt er zu schreiben und wird wegen eines Antikriegsgedichtes von der Schule geworfen. In Berlin macht er das Abitur und schreibt erste Beiträge für Zeitschriften, u.a. für die Weltbühne.

1933 geht er als einer der jüngsten deutschen Autoren zunächst nach Prag ins Exil, wo er mit zahlreichen anderen linken Intellektuellen, u.a. Wieland Herzfelde und dessen Bruder John Heartfield zusammentrifft. Um seine Familie zu schützen, wählt er das Pseudonym Stefan Heym.

Von Prag aus geht er in die Vereinigten Staaten und schließt sein Studium in Chicago ab. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen im Exil ist Heym in der Lage, sich vollständig in den USA zu integrieren und seine schriftstellerische Arbeit in englischer Sprache fortzusetzen. Später übersetzt er viele seiner Bücher selbst in die jeweils andere Sprache.

1935 begeht Heyms Vater Selbstmord, nur wenige Familienmitglieder überleben den Nationalsozialismus, die meisten kommen in den Vernichtungslagern um. Es gelingt ihm, die Mutter nach Amerika zu holen und zu retten.

Es war das klägliche Ende der Weimarer Republik, das Heym gelehrt hat, keinerlei Vertrauen in die bürgerlichen Institutionen zu setzen und sich dem Sozialismus anzunähern. Die Arbeiterbewegung lernte er allerdings erst kennen, als die SPD uneingeschränkt auf der Seite der bürgerlichen Ordnung stand und die KPD unter stalinistischem Einfluss degeneriert war.

Welche Verantwortung die Kommunistische Internationale für die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse 1933 trug, war dem gerade zwanzigjährigen jungen Mann aus gutbürgerlich jüdischem Hause damals wohl kaum klar. Unter dem Einfluss Stalins hatte die deutsche Kommunistische Partei einen ultralinken Kurs verfolgt und eine gemeinsame Front mit der Sozialdemokratie gegen die faschistische Bedrohung kategorisch abgelehnt. Wie seine intellektuellen Freunde im Exil, die der Kommunistischen Partei nahe standen, sah Heym in der Sowjetunion immer noch die stärkste Bastion gegen den Nationalsozialismus.

Heym gibt 1937 bis 1939 in New York eine KP-nahe antifaschistische Exilzeitung Deutsches Volksecho heraus. In dieser Zeitung werden die Moskauer Prozesse verteidigt. Wieweit Heym sich allerdings mit dieser Auffassung identifizierte oder sie von seinen der KP nahe stehenden Freunden übernahm, sei dahingestellt. Ihm geht es damals vor allem um den Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur.

Er selbst nimmt für sich gegenüber der Kremlbürokratie eine gewisse Naivität in Anspruch. In seiner Autobiographie führt er ein Beispiel für diese Naivität und seine "Anfälle von Gutgläubigkeit" gegenüber dem Kreml an. 1945, nach dem Krieg, habe er das sowjetische Generalkonsulat in New York gebeten, ihm bei Recherchen über das Schicksal der von den Nazis verschleppten Sowjetbürger nach deren Rückkehr in die Sowjetunion behilflich zu sein. Dass diese Heimkehrer in der Regel ein grausamer Empfang als angebliche Kollaborateure der Nazis erwartete, davon habe er damals keine Ahnung gehabt. (1)

Im Übrigen orientieren sich seine politischen Ansichten eher an Roosevelts Politik des New Deal als an der UdSSR. Wie viele bürgerliche Intellektuelle unterstützte auch Heym die ab 1935 von Moskau propagierte Volksfrontpolitik. Kern dieser Politik war die Unterdrückung jeder sozialistischen Forderung im Namen der "Einheit" mit bürgerlichen Bündnispartnern. Was als Einheit des Volkes gegen den Faschismus ausgegeben wurde, lief in der Praxis auf die Unterordnung der breiten Masse der Bevölkerung unter schwache, politisch schwankende bürgerliche Parteien hinaus. In Spanien hatten die Stalinisten im Namen der Volksfront linke Oppositionelle und Anarchisten verfolgt und schließlich der Revolution das Grab geschaufelt, in Frankreich eine mächtige, militante Bewegung der Arbeiter in die Sackgasse geführt.

Erneut ist nicht klar, wie weit sich der junge Heym über die politische Tragweite dieser Politik im Klaren war, als er 1937 im Deutschen Volksecho die Volksfront verherrlichte. Er schrieb:

"Diese Zeitung stellt sich in den Dienst der Volksfront. Das bedeutet: Sie nimmt Partei auf der Seite des Volkes. Sie will das Echo und der Ruf des Volkes sein. Sie will alle aufrufen, alle um sich scharen: Arbeiter, Bauern, Handwerker, Mittelständler, Intellektuelle, Deutsche in aller Welt, Deutsche in Amerika... In dieser Zeit, wo die Schicksale von kommenden Generationen geformt werden - in Fabriken und Schützengräben, in Warenhäusern und Wohlfahrtsämtern, auf den Straßen der Städte und den Feldern der Farmer, in dieser Zeit müssen wir Deutsche uns unserer Tradition und Aufgabe voll bewusst werden.... Einig, einig für Freiheit und Fortschritt, für Frieden, und das Recht auf unser Leben zu kämpfen - eine große Volksfront, in Deutschland, in Amerika - überall." (2)

Die Tatsache, dass es den Nationalsozialisten möglich gewesen war, die Macht zu erobern und der deutschen Arbeiterklasse mit ihren mächtigen Organisationen eine so ungeheuerliche Niederlage beizubringen, hatte eine zutiefst traumatische Wirkung auf den jungen Heym. Das Trauma dieser Niederlage hat ihn zeitlebens verfolgt und beschäftigt und war in vieler Hinsicht prägend für sein Leben und sein Werk.

Bruch mit Amerika

Bestätigt wurde dieses Trauma durch die Niederlage der amerikanischen Bergarbeiter in Pennsylvania 1949, die er hautnah miterlebt und später zum Gegenstand seines Romans Goldsborough (1953) macht. Er sieht sehr deutlich die Verantwortung der Gewerkschaftsbürokratie für das Scheitern der Streikbewegung, aber gleichzeitig verstärken die Rückständigkeit, Unwissenheit und Manipulierbarkeit der Arbeiter sein Misstrauen in ihre Fähigkeit, ihre Lage durch eine selbständige Politik zu ändern.

1942 erscheint Heyms erster Roman. Er schildert darin unter dem Titel Hostages (dt.: Der Fall Glasenapp, 1958) eine Geiselnahme im besetzten Prag. 1943 tritt er in die amerikanische Armee ein, weil er darin die einzige Möglichkeit sieht, selbst aktiv am Kampf zur Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes teilzunehmen.

Seine Begeisterung für die amerikanische Demokratie und seine Sympathie für die Sowjetunion lassen sich damals, als beide miteinander verbündet sind, problemlos verbinden. In dieser Haltung, die von vielen Emigranten und linken Intellektuellen geteilt wird, mischen sich Illusionen in die amerikanische Regierung unter Roosevelt und die stalinistische Bürokratie mit seiner Enttäuschung über die Unfähigkeit der deutschen und der internationalen Arbeiterklasse, das Naziregime zu besiegen.

Heym nimmt als Technical Sergeant Nr. 32 860 259 für publizistische Arbeit an der Landung in der Normandie teil und wird in der psychologischen Kriegsführung eingesetzt. Er verfasst Flugblätter und Zeitschriften, die hinter der Front abgeworfen werden, und macht Rundfunksendungen, die über Radio Luxemburg ausgestrahlt werden. Nach der deutschen Kapitulation arbeitet er in der amerikanischen Zone am Aufbau zahlreicher Zeitschriften mit.

Bereits in dieser Zeit empört er sich darüber, dass sich die Militärregierung zunehmend auf die alten nationalsozialistischen Eliten stützt und sich weigert, diese aus ihren Ämtern zu entfernen. So schreibt er einen Artikel für die Londoner Times mit dem provokanten Titel Hitler lebt weiter. In einem anderen greift er die Kirche an, weil sie weiterhin schützend ihre Hand über die alten Nazis hält. Immer wieder misst er die konkrete Politik der US-Regierung und ihrer Vertreter an den demokratischen Grundsätzen ihrer Geschichte und ihrer Verfassung und stellt fest, dass diese mehr und mehr mit Füßen getreten werden.

Seine Hoffnung auf ein demokratisches, antifaschistisches Deutschland, das sich unter dem Schutz der Siegermächte entwickeln sollte, schwindet zunehmend. Dies ist auch der Grund, weshalb er den frühest möglichen Zeitpunkt wahrnimmt, um die US-Armee zu verlassen. Er bleibt aber zunächst Reserveoffizier.

In die USA zurückgekehrt, schreibt er den Roman Crusaders, in dem er sich intensiv mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus auseinandersetzt, ein prägnantes Bild von der US-Armee zeichnet und zahlreiche Charaktere beschreibt, denen er während des Krieges und in der Nachkriegszeit begegnet ist. Das Buch erscheint 1950 zum ersten Mal in der DDR unter dem Titel Kreuzfahrer von heute. In München wird im gleichen Jahr eine westdeutsche Ausgabe unter dem Titel Der bittere Lorbeer herausgegeben . 1989 erschien eine Neubearbeitung des Autors. Heinrich Böll bezeichnete den Roman als "eines der besten und bedeutendsten Kriegsbücher". Der Roman wird ein Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er begründet den internationalen Ruhm des Autors.

Sein nächstes Buch Eyes of reason (dt. Die Augen der Vernunft, 1955) setzt sich mit der Revolution von 1948 in der Tschechoslowakei auseinander. Zusammen mit seiner amerikanischen Frau Gertrude hält er sich längere Zeit in der Tschechoslowakei auf, um für das Buch zu recherchieren. Da er die politische Entwicklung dort sehr optimistisch einschätzt, wählt er sich dieses Land zur neuen Heimat, als er in der McCarthy-Ära in den USA immer stärker unter Druck gerät. Aus Protest gegen den Koreakrieg gibt er seine militärischen Auszeichnungen und sein Offizierspatent zurück und verlässt das Land.

Aber viele seiner Freunde in Prag, die er zum Teil schon aus der Zeit seines ersten Asyls dort kannte, sind inzwischen ohne jede Macht und Einfluss, zum Teil stehen sie im Zusammenhang mit dem Slanksy-Prozess selbst unter Anklage. Das Asyl wird ihm verweigert. Er versucht es dann mit Polen, wo er sich ebenfalls einige Zeit aufhält und seine Fühler in die DDR ausstreckt. Aber auch dort reagiert die Bürokratie zunächst nicht auf das Asylgesuch des Bestsellerautors. Erst 1952 kann er in die DDR einreisen und erhält Asyl für sich und seine Familie.

Ambivalentes Verhältnis zum DDR-Regime

Aber man ist (und bleibt) misstrauisch gegenüber dem "Amerikaner". Die Defa möchte den Crusader -Roman verfilmen, sie beauftragt den Autor und seine Frau mit dem Drehbuch. Auf Anweisung von "oben" wird das Projekt jedoch gestoppt. Heyms Verhältnis zur Ostberliner Bürokratie ist von Beginn an ambivalent, obwohl er mehr als einmal seine Loyalität zu diesem Regime unter Beweis stellt, weil er in der DDR und mehr noch in der Besatzungsmacht, der Sowjetunion, die einzige, wenn auch mit Fehlern und Problemen behaftete Garantie für die Zukunft des Sozialismus sieht.

Obwohl sich Heym von Anfang an an der Bürokratie reibt, sie kritisiert und immer wieder schonungslos entlarvt, hält er an seinem Glauben an die Reformierbarkeit der Sowjetunion und an seiner Rolle des loyalen Oppositionellen in der DDR fest. Vermutlich hat er bereits in den USA Werke von Leo Trotzki gelesen (sie wurden von den DDR-Behörden aus seiner Bibliothek entfernt, als diese aus den USA nach Berlin nachgeschickt wurde), dennoch hat er in dessen Ideen wohl nie eine Alternative zum Stalinismus gesehen.

Mitglied der SED wird er nie. Er weigert sich auch beharrlich, deren offizieller Kunstdoktrin zu folgen und den "sozialistischen Realismus" so zu verstehen, wie ihn die Machthaber und ihre Speichellecker unter den Intellektuellen fordern. Die verlogene Verherrlichung der kleinbürgerlichen Beschränktheit der DDR als Paradies für die Arbeiterklasse lehnt er ab. Seine literarischen Vorbilder sind Balzac, Zola und Mark Twain. Ihm geht es darum, die Probleme im "Aufbau des Sozialismus", die Sorgen, Nöte und Widersprüche der Arbeiter und Intellektuellen in der DDR so darstellen, wie sie sind - nicht so, wie die Bürokratie sie gerne hätte:

"Wir können in dem, was wir sagen wollen und zu sagen verpflichtet sind, nur richtig entscheiden, wenn wir die Menschen richtig einschätzen, über die und für die wir schreiben", sagt er auf dem Schriftstellerkongress 1956. Dort kommt es zu einer heftigen Kontroverse zwischen ihm und dem systemtreuen Willy Bredel und Walter Ulbricht, die gemeinsam gegen Heym zu Felde ziehen. Heym hat jedoch den Mut, den Lügen und Unterstellungen, die Bredel und "der örtliche Stalin" öffentlich gegen ihn vorbringen, vor dem versammelten Kongress zu widersprechen. (3)

In den 50er Jahren, aber auch zu späteren Zeitpunkten versucht die Bürokratie zur Abwechslung immer wieder, Heym mit der Methode der Umarmung gefügig zu machen. Er erhält 1954 den Heinrich-Mann-Preis, 1959 den Nationalpreis zweiter Klasse. In seiner Autobiografie schreibt er nicht ohne Stolz, dass hohe Funktionäre (sogar Ulbricht und Honecker empfangen ihn mehrfach), die ihn in der Öffentlichkeit angriffen, ihm in Privatgesprächen versichert hätten, wie sehr sie ihn und seine Arbeit eigentlich schätzten.

1953 bis 1956 kann er in der Berliner Zeitung eine Kolumne mit dem Titel Offen gesagt veröffentlichen, in der er geschickt kleine und größere heiße Eisen aufgreift. Unter anderem tritt er dafür ein, bei Wahlen mehrere Kandidaten statt nur einen einzigen aufzustellen. Wenn man diese Beiträge heute liest, wird sehr deutlich, dass Heyms Einschätzung der stalinistischen Bürokratie, so kritisch er sie auch sieht, von Illusionen in deren Reformierbarkeit geprägt ist.

Im Jahr 1956, kurz nach dem ungarischen Aufstand, wird er zu seinem großen Erstaunen von Ulbricht eingeladen, doch in seiner Kolumne einmal die Einrichtung von Arbeiterräten zu propagieren. Heym schreibt dann tatsächlich einen Bericht über eine kurz darauf einberufene Konferenz zur Einrichtung von Arbeiterräten, an der zu seiner Verwunderung keine Arbeiter, sondern nur einige handverlesene Funktionäre teilnehmen. Weitere Folgen hatte diese Konferenz nicht.

"Es dauerte eine Weile, bis er das Spiel des Genossen Ulbricht begriff: der war ein Dialektiker. Der kannte sich selber und die Klasse, aus der er stammte, und der wusste, wenn er sich an die Spitze einer Bewegung stellte, dann war dieser Bewegung die Spitze abgebrochen. Und darauf war der Schriftsteller S. H. eingestiegen. Nützlicher Idiot - also doch?" schreibt er in seinen Erinnerungen selbstkritisch. (4)

Auseinandersetzung mit der DDR

17. Juni 1953

Heyms Buch über den 17. Juni 1953, Der Tag X, wie es ursprünglich heißen sollte, darf in der DDR nicht erscheinen, obwohl es vom Standpunkt der Verteidigung der DDR geschrieben ist und den Einsatz der sowjetischen Panzer gegen den Aufstand rechtfertigt. Die Bürokratie will offenbar jede noch so vorsichtige Infragestellung der offiziellen Lesart dieser Ereignisse abblocken. Für sie handelt es sich um einen von westlichen Agenten und rückständigen Elementen angezettelten konterrevolutionären Aufstand. Jede Andeutung, dass sie durch das aktive, wenn auch planlose Handeln der Arbeiterklasse herausgefordert wurde, erscheint ihr selbst Jahre später noch viel zu gefährlich. Außerdem fürchtet sie, nachdem sie dank der sowjetischen Panzer wieder sicher in Sattel sitzt, dass man sie an die falschen Versprechungen erinnern könnte, sie wolle von jetzt ab auf die Arbeiter hören und alles besser machen.

Das Buch, das erst 1974 nach einer gründlichen Umarbeitung in München unter dem Titel 5 Tage im Juni erscheint, gehört trotz der Änderungen zu den schwächsten Büchern Heyms, was sehr eng mit der Schwäche seiner politischen Einschätzung dieses Ereignisses zusammenhängt.

Zwar ist ihm die Schilderung der angesichts des Aufstands kopf- und ratlosen Parteifunktionäre gelungen, die plötzlich untergetaucht sind und erst wieder auftauchen, als die sowjetischen Panzer ihre Herrschaft gesichert haben. Das Milieu der Arbeiter und die Atmosphäre in den Betrieben aber wirken seltsam konstruiert, auch wenn er mit vielen selbst gesprochen, sich um authentische Berichte bemüht hat und in die Handlung immer wieder historische Dokumente, wie Berichte des Senders RIAS einfügt.

Die Charaktere der Arbeiter, die nicht begreifen wollen, dass sie "gegen sich selber streiken", weil ihnen angeblich doch die Fabriken gehören, bleiben ziemlich blutleer und marionettenhaft. Sie sind - nicht nur in diesem Roman von Heym - alles andere als revolutionär. Ihnen gehört das Mitleid, aber nicht die Sympathie und das Vertrauen des Autors. Diese gelten einer kleinen Gruppe aufrechter, idealistischer, sozialistischer Genossen und Gewerkschafter, die vergeblich versuchen, den Streik zu verhindern und sich für Reformen einsetzen.

Man spürt zwar das Bemühen des Autors, ein differenzierteres Bild des Aufstands zu zeichnen und sich von den Propagandadarstellungen im Westen wie im Osten zu distanzieren. Aber die Beschränktheit seiner Konzeption von einer "sozialistischen" Perspektive drückt sich darin aus, dass er schließlich in den Panzern der Sowjetbürokratie den Retter des Sozialismus in der DDR sieht.

In einem Interview mit der Zeitschrift Atlantic Monthly antwortet er im März 1964 auf die Frage, weshalb er aus Amerika fortgegangen sei und sich in der DDR niedergelassen habe. Darin verdeutlicht er noch einmal seine Haltung zur DDR und den Ereignissen von 1953:

"Dann kam der 17. Juni 1953 in Berlin: Arbeiter streikten gegen die Arbeiterregierung, Arbeiterpanzer rollten durch Arbeiterstraßen. Ich stürzte mich eng an die Menschen, empfing Hunderte Briefe, besuchte Betriebe, lebte anonym in Flüchtlingsbaracken, war in Berührung mit Leuten aller Schichten vom Staatschef bis zu Werft- und Bauarbeitern, Studenten, Bauern, Geistlichen.

Und ich begann zu sehen, dass es Konflikte gab - neue Konflikte - über die bei den Klassikern des Marxismus nichts steht: außer vielleicht ein paar Andeutungen bei Lenin und seltsamerweise auch beim frühen Stalin: Andeutungen, mehr nicht. Diese Konflikte gründeten sich nicht mehr auf den alten Antagonismus Bourgeoisie - Arbeiterklasse: obwohl man in einem geteilten Land wie Deutschland - zwei Drittel kapitalistisch, ein Drittel sozialistisch - Zusammenstöße auf der Grundlage der alten Klassengegensätze nicht ausschließen kann. Die Hauptsache war jedoch, dass in dem sozialistischen Drittel der Erde sich etwas von Grund auf bewegt hatte, das Unterste war zuoberst gekehrt worden, aber die neuen Gebirge waren noch keineswegs zur Ruhe gekommen." (5)

Chruschtschows Enthüllungen

Nach dem 20. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows Enthüllungen über Stalin ist ihm klar, dass es mit der Verurteilung von dessen "Personenkult" nicht weit her ist. Er selbst sieht sich allerdings nicht gezwungen, seine Einstellungen zu widerrufen, weil er in Stalin "nie einen Gott" gesehen habe.

Aber obwohl er die Verbrechen der stalinistischen Bürokratie verabscheut, glaubt er nach wie vor an "den Kommunismus" in der Sowjetunion. "Und machten der Schmutz und das Blut, die an diesem Kommunismus klebten, den Kapitalismus, den abzulösen er bestimmt war, soviel menschenfreundlicher?", schreibt er später in seiner Autobiografie. (6)

Den Kontakt zu Wieland Herzfelde, mit dem er seit den Prager Tagen befreundet war, bricht er vollständig ab, nachdem er erfahren hat, dass dieser den Schriftsteller Ernst Ottwald, einen gemeinsamen Freund aus Prager Tagen, in Moskau denunziert hatte. Ottwald war den Säuberungen zum Opfer gefallen.

"Die Enthüllungen des 20. Parteitages der KPdSU warfen ein grelles Licht in einige der Abgründe, doch selbst Chruschtschows Rede stellte eher neue Fragen, als dass sie Antworten gab", heißt es in dem bereits zitierten Interview mit Atlantic Monthly, in dem er versucht, seine Auffassung von der Rolle als Schriftsteller in der DDR zu umreißen.

"Diese neuen Konflikte zu beobachten und an ihnen teilzunehmen, die neuen Fragen zu definieren und Antworten darauf zu suchen - und all dies in Erzählungsform, in menschlichen Charakteren auszudrücken, ist, glaube ich, eine erregende Aufgabe für jeden Schriftsteller, der etwas wert sein will. Er wird es möglicherweise nicht leicht haben, seine Ergebnisse können zu den offiziellen Anforderungen in Widerspruch geraten, er mag sogar auf einen neuralgischen Punkt stoßen - doch das ändert nichts an der Pflicht des Schriftstellers, noch macht es seine Aufgabe weniger faszinierend.

Ich weiß, dass bis jetzt relativ wenig davon sich in Romanen, Dramen und Gedichten widerspiegelt; und dieses Wenige auch erst in den letzten paar Jahren. Ich glaube nicht, dass daran die - stalinsche und nachstalinsche - Zensur allein schuld ist. Während die Menschen schon jahrelang von den unerforschten Konflikten erschüttert wurden, sind deren Umrisse, Bestandteile und Wurzeln erst kürzlich in den Brennpunkt der Beobachtung gerückt, und wir wissen immer noch recht wenig darüber.

Wie ist das mit der Disziplin, der Parteidisziplin und der Disziplin im allgemeinen? Wie ist es mit der Demokratie im Sozialismus? So viele Fragen, so viele Gärungsstoffe, die das Herz des Schriftstellers schneller schlagen lassen." (7)

Historische Themen

Aber er tut sich schwer damit, die DDR-Gegenwart zum Thema zu machen. Das liegt nicht nur an seiner oppositionellen Haltung und den Problemen der Zensur, die für ihn als Schriftsteller daraus resultieren. Es liegt auch an seiner Unklarheit über den Charakter des Regimes, unter dem er lebt. Auf die Frage nach der "Demokratie im Sozialismus" findet er keine befriedigende Antwort, weil er nach wie vor die Vorstellung hat, dass es sich bei der Sowjetunion und den von ihr abhängigen Regimes um den "real existierenden Sozialismus" handelt.

Nachdem 5 Tage im Juni nicht erscheinen kann, wendet er sich überwiegend historischen Themen zu: "In meinen Romanen und Erzählungen habe ich versucht, einige Aspekte dieser Zeit und ihrer Menschen zu erfassen. Selbst da, wo ich in die Geschichte griff, tat ich es, um dort die Wurzeln unserer Zeit und unserer Konflikte zu finden und vielleicht auch Antworten auf Fragen von heute." (8)

Ob in der Geschichte oder Gegenwart, die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Sozialismus und die oppositionelle Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft, das Dreiecksverhältnis zwischen Bürokratie, Intelligenz und Kulturschaffenden bleiben seine wichtigsten Themen.

Er schreibt eine historische Erzählung über Daniel Defoe: Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe (1974), danach einen ebenso spannenden wie nachdenklichen Roman über einen Helden der gescheiterten demokratischen Revolution in Deutschland von 1848/49, der später im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fällt (Lenz, 1964). Daran schließt sich ein biographischer Roman über Ferdinand Lassalle an.

Alle diese Werke können zunächst nur auf Englisch in London oder Deutsch in der Bundesrepublik erscheinen. Die Bürokratie spürt sehr wohl, dass der Autor sie auch im historischen Gewand aufs Korn nimmt. Empört wehrt sich Heym gegen die Behauptung Erich Honeckers auf dem 11. Plenum 1966, "Werktätige haben in Briefen gegen Stefan Heym Stellung genommen, weil er zu den ständigen Kritikern der Verhältnisse in der DDR gehört". Er lässt sich durch solche Lügen nicht einschüchtern.

Sein Roman Die Architekten, in dem er sich wieder der DDR-Gegenwart zuwendet, kann erst nach dem Ende der DDR im Jahr 2000 erscheinen, obwohl er bereits Mitte der sechziger Jahre fertiggestellt wurde. In diesem Werk zeigt sich seine besondere Stärke in der Darstellung der Rolle der Intellektuellen in der DDR. (9) Es gelingt ihm präzise, differenziert und lebendig, ihre Gewohnheiten, ihre Verhaltensweisen, ihre Skrupel wie ihre Skrupellosigkeit, ihr "Gummigewissen", ihre freiwillige oder vermeintlich notgedrungene Anpassung, ihr tragisches Scheitern oder ihren Erfolg durch rücksichtslose Wahrnehmung ihrer Privilegien gegenüber der großen Masse der Bevölkerung in allen Schattierungen zu schildern.

Seine Fabel über die Architekten ist eine Metapher für den Versuch des Aufbaus einer neuen Gesellschaft unter den Bedingungen der Diktatur nicht des Proletariats, sondern der Bürokratie über das Proletariat. Die theoretischen Debatten über Fragen der Architektur, die in dem Roman wiederholt vorkommen, sind stets auch Metaphern über den Charakter der sozialistischen Gesellschaft. Aber auch in diesem Roman erwartet der positive Held, der Architekt Tieck, eine Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche der DDR in Form einer Reform von oben.

Gegenüber den Arbeitermassenbewegungen gegen die Bürokratie 1953 und 1956 hat Heym ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits begrüßt er sie und hofft, dass es durch ihren Druck auf die Bürokratie zu politischen Reformen kommt. Andererseits befürchtet er ihre Vereinnahmung durch den imperialistischen Westen und rechtfertigt daher letztlich ihre Niederschlagung durch russische Panzer. Er setzt darauf, dass die Reform von oben kommen muss. Er sieht seine Rolle darin, den politisch Verantwortlichen mit Hilfe seiner Werke und politischen Stellungnahmen Vernunft beizubringen. Auch 1968, nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei, ist der Kapitalismus keine Alternative für ihn, obwohl seine Illusionen in die Reformierbarkeit der Bürokratie tief erschüttert werden.

Seine Vorstellung von Demokratie und Sozialismus hat er in seinem Roman Schwarzenberg (1984) dokumentiert. In einer Mischung aus realen historischen Ereignissen und Dokumenten entwirft er dort die Utopie des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft in engem Rahmen. Er stützt sich dabei auf die Ereignisse in der kleinen Amtshauptmannschaft Schwarzenberg, die nach Ende des 2. Weltkrieges von den Siegern vergessen und nicht besetzt wurde. 42 Tage lang blieb die "Republik" sich selbst überlassen. In dieser Zeit nahmen Frauen und Männer in 21 Städten und Dörfern ihr Schicksal selbst in die Hand: Sie begannen damit, gründlich aufzuräumen mit der Nazivergangenheit.

Die Kritik wird lauter

Heym weigert sich trotz der goldenen Brücken, die die Bürokratie ihm gelegentlich baut, seine kritische Haltung gegenüber dem Regime aufzugeben. Seine Einstellung wird vielmehr immer unversöhnlicher. Er darf schließlich nichts mehr in der DDR publizieren. Sein 1979 vollendeter Roman Collin, in dem er versucht, mit dem Stalinismus abzurechnen, kann ebenfalls nur in München erscheinen.

Collin ist eine glänzend geschriebene, bittere Satire auf die DDR-Gesellschaft mit deutlichen Anspielungen auf "real existierende" Protagonisten wie Erich Mielke, aber auch auf Intellektuelle und ihre zwiespältige Rolle, wie ihn selbst.

In diesem Buch schließen der Schriftsteller Collin und Urack, sein Gegenspieler und ehemaliger Kampfgenosse aus dem spanischen Bürgerkrieg, die beide wegen Herzproblemen im Krankenhaus liegen, beim gemeinsamen Urinieren eine Wette ab, wer als erster stirbt. Der Schriftsteller, dem eine junge Ärztin hilft, seine Vergangenheit und seine Verstrickungen in das Regime aufzuarbeiten, scheint zunächst die besseren Karten zu haben. Er kann noch zu Papier bringen, was ihn bedrückt, aber er stirbt, bevor sein Buch erscheinen kann. Retten kann das Manuskript zwar das mephistophelische alter ego von Collin, der Kritiker Pollack, der es vorzieht, seine Fäden im Hintergrund zu ziehen, und seine subversiven Einsichten nur auf Waldspaziergängen mit seinem Pudel äußert oder seinem geheimen Tagebuch anvertraut.

Urack, der nach einem schweren Infarkt kaum noch Überlebenschancen zu haben scheint, wird währenddessen in einem Spezialkrankenhaus für höchste Funktionäre noch lange am Leben gehalten und lässt sich schon wieder Akten bringen. Ein Symbol für das zähe Weiterleben der Bürokratie.

Collin steht zugleich für das Dilemma des Schriftstellers, der sich mitschuldig an der Zementierung der stalinistischen Unterdrückung fühlt und darum kämpft, trotz aller widrigen Umstände wenigstens einen Teil der Wahrheit aufzudecken.

In einem Vortrag, den er Ende der sechziger Jahre in Australien über die Rolle des Schriftstellers im "Sozialismus" hält, erklärt Heym, es sei eben nicht das " letzte Gefecht ", das in den "sozialistischen" Ländern ausgefochten werde. Vielmehr seien dort neue Widersprüche aufgetaucht, "die ihrerseits wieder im Werk des Schriftstellers sich widerspiegelten. Mit Folgen oft, die des Schriftstellers Situation noch mehr erschwerten: denn während er, generell gesprochen, im Kapitalismus mit seinem Gewissen im Reinen ist, wenn er das System, in dem er lebt, negiert, gerät sein sozialistischer Kollege, der tagtäglich den abgrundtiefen Unterschied beobachtet zwischen dem real existierenden Sozialismus und der sozialistischen Idee, in übelste ethische Probleme: schadet er der Sache, die auch die seine ist, mehr als er ihr nützt, wenn er diese neuen Widersprüche in ihrer ganzen Stupidität und Brutalität darstellt? Wird man ihn richtig verstehen in seinem Lande, wird man die richtigen Schlüsse ziehen aus seinen Worten oder wird man sagen, er spiele dem Gegner draußen in die Hände; gar nicht zu reden von den Konsequenzen, die seine offene Sprache haben kann für ihn selber und seine Familie und all seine Freunde und Bekannten. Manchmal frage ich mich..., was wohl geschehen wäre, wenn sich ein Zola erhoben hätte im Sozialismus und sein j´accuse geschleudert hätte gegen die Prozesse der Stalinperiode." (10)

Er sagt dies im vollen Bewusstsein, dass im Publikum Spitzel und Zuträger der DDR-Bürokratie sitzen. Hier wie schon viele Male zuvor verteidigt er die Unabhängigkeit der Schriftsteller und Künstler gegen Unterdrückung durch die stalinistischen Apparate. Seine Lage in der DDR wird nicht besser dadurch. Immer stärker gerät er unter Druck. 1969 wird ihm der Prozess gemacht wegen der Veröffentlichung des Romans Lassalle in der Bundesrepublik. Er wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Erst 1974, als sich die DDR unter dem Zeichen der "neuen Ostpolitik" der Brandt-Regierung engere Beziehungen zur Bundesrepublik anstrebt, wird das Buch auch in der DDR verlegt.

Auch Der König David Bericht (1972) darf, obwohl die Handlung in biblischer Zeit spielt, zunächst nicht in der DDR erscheinen. Allzu deutlich beschreibt Heym darin die "Hofberichterstattung", die an die Stelle der Wahrheit gesetzt wird. Auch in diesem historischen Roman, der sich auf das alte Testament stützt, thematisiert er das Dilemma des Intellektuellen zwischen Macht und Wahrheit. Erst zu Heyms sechzigsten Geburtstag erteilt Honecker die Genehmigung, das schon lange fertiggestellte Buch zu veröffentlichen.

Sogar von Heyms Märchen dürfen nur zwei in der DDR erscheinen, weil der Verleger fürchtet, die Bürokratie könne bestimmte Figuren auf sich beziehen.

Scharf, witzig und voll beißender Ironie ist auch Heyms Schilderung des bürokratischen Typus über viele historische Epochen - vom Palästina des Herodes, über das Deutschland Martin Luthers bis zur DDR im Ahasver. Dieser Roman erinnert stark an Bulgakows Meister und Margerita.

Im Westen, wo die meisten seiner Bücher zuerst veröffentlicht werden, wird Heym zum meistgelesenen DDR-Autor. Bis auf den Roman 5 Tage im Juni (1974) erscheinen seine Bücher in der Regel zuerst in der englischen Fassung in London. Er genießt nach wie vor internationales Ansehen. Das erschwert es der DDR-Bürokratie zusätzlich, seine Werke vollständig zu unterdrücken. So belässt sie es dabei, ihn abwechselnd totzuschweigen und ihn dann wieder als großen Schriftsteller zu preisen, aber das Erscheinen seiner Bücher in der DDR zu verbieten.

Der Politiker Heym

1976 fällt Heym verschärft in Ungnade, da er zu den Initiatoren und Unterzeichnern eines offenen Briefes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann gehört. (11) Danach sieht er sich gezwungen, Einladungen in den Westen abzulehnen: "Solange die Frage nicht geklärt ist, ob die Wiedereinreisevisa der Deutschen Demokratischen Republik auch für Dichter und Schriftsteller Gültigkeit haben, ziehe ich es vor, innerhalb der Grenzen unseres Landes zu bleiben." (12)

In seiner Kritik am Regime bemüht sich Heym jetzt um eine gewisse Zurückhaltung. Er begründet dies damit, dass er nicht gezwungen werden will, das Land zu verlassen, wie viele seiner Kollegen. Er kann sich nicht vorstellen, im Westen ("auf der anderen Seite der Barrikade") zu leben. Er hofft unbeirrt, dass es irgendwann gelingen könnte, den Freiraum der Künstler und Schriftsteller im Osten zu erweitern, um ihnen zu ermöglichen, eine unabhängige Rolle im Aufbau des Sozialismus zu spielen. Die Veränderungen in der Sowjetunion unter Gorbatschow, "Glasnost" und "Perestroika", interpretiert er später als beginnende Hinwendung zu Demokratie und wirklichem Sozialismus und verkennt, dass dessen Reformen die Restauration des Kapitalismus einleiten.

Auch seine Analyse, weshalb die Bürokratie eine Freiheit von Kunst und Literatur nicht zulassen kann, greift zu kurz. So plastisch er seine eigenen Erfahrungen mit der Bürokratie darstellt und so präzise er die grotesken Auswirkungen ihrer Herrschaft zu schildern vermag, von einer marxistischen historischen Analyse und Perspektive ist er weit entfernt. Für ihn bleiben die Sowjetunion und die im Zuge des Sieges der Roten Armee über die Hitlertruppen entstandenen deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas trotz allem unvollkommener "Sozialismus". "Der Sozialismus... ist unser Baby", erklärt er in einem Interview in Australien. "Wenn das arme Wurm schielt, O-Beine hat und Grind auf dem Kopf, so bringt man es deshalb doch nicht um, sondern man versucht, es zu heilen." (13)

Bis zuletzt hofft er, dass es sich um schlimme Anlauf- oder Übergangsprobleme beim Aufbau des Sozialismus handelt und dass die jeweils Verantwortlichen oder zumindest ihre Nachfolger es letztlich doch ernst meinen mit dessen Verwirklichung.

Während er Trotzki, den Gründer und führenden Kopf der Linken Opposition gegen den Stalinismus durchaus als positive historische Gestalt respektiert, bleiben ihm seine Gedanken doch fremd: dass die Kremlbürokratie und ihre Diadochen in Osteuropa ein konterrevolutionäres Krebsgeschwür im Arbeiterstaat darstellen, dessen Überwindung den Aufbau einer neuen Internationale auf marxistischer Grundlage erfordert. Darin liegt eine gewisse Tragik weniger des Schriftstellers als des Politikers Heym.

Das Ende der DDR

Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall, spricht Heym zur Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Er ist voller Hoffnung, dass es jetzt endlich gelingt, in der DDR eine wirklich sozialistische Gesellschaft aufzubauen:

"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit...

Einer schrieb mir - und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.

Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes." (14)

Er unterschreibt den Aufruf Für unser Land, in dem er sich zusammen mit anderen DDR-Intellektuellen wie Christa Wolf, aber auch Egon Krenz, der für kurze Zeit Honecker ablösen sollte, für eine "erneuerte, verbesserte DDR" einsetzt. Zeitweilig ist er auch als möglicher DDR-Präsident im Gespräch.

Aber nur wenig später ist er bitter enttäuscht von den Massen, in die er soviel Hoffnung gesetzt hat. Aus dem "Volk", das einer verheißungsvollen revolutionären Zukunft zuzustreben schien, ist ihm unversehens "eine Horde von Wütigen" geworden, "die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg platziert, wühlten; welche geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie's ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und psychologischer Tücke Begrüßungsgeld geheißen war, von den Strategen des Kalten Krieges". (15)

Eine Vereinigung beider deutscher Staaten in Form des Anschlusses der DDR kommt für ihn nicht in Frage. Die DDR will er reformieren, ja revolutionieren, aber nicht aufgeben, er hält ihre Existenz für unverzichtbar als "Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmidt-Bölkow-Blohm-BASF-Höchst-Deutsche-Bank Republik" (16).

Seine Vorstellung eines vereinigten Deutschlands hatte er bereits 1984 umrissen. Ihm schwebte damals eine deutsche Konföderation vor, in der die sozialen Errungenschaften in der DDR hätten erhalten werden können. In einem Interview mit der Zeitung Freitag umschreibt er diese Vorstellung so: "In der Form demokratisch, und wirtschaftlich gesehen eine Kombination von sozialistischen und kapitalistischen Elementen. Im einzelnen hätte man sich darüber natürlich unterhalten müssen." (17)

Bald entwickelt er sich zu einem scharfen Kritiker des Vereinigungsprozesses, den er als große Enttäuschung erlebt. Er geißelt die Verschleuderung des staatlichen Eigentums durch die Treuhand. In dem Essayband Auf Sand gebaut (1990) fasst er seine Kritik an der Wiedervereinigung zusammen.

Zeitweilig ist Heym in dieser Zeit der Resignation nahe, als auch die westliche Presse ihn nicht mehr als "Dissidenten" hochhält, sondern versucht, sein Werk als ästhetisch unbefriedigend und "trivial" abzutun. Im Spiegel, der einst nicht müde wurde, ihn als "Ostexperten" zu zitieren, bezeichnet man ihn jetzt in Leserbriefen als "Sudel-Stefan" und hält ihm seine Privilegien in der DDR und seine angebliche Nähe zum SED-Regime vor. Biermann verleumdet ihn als "tapferfeigen Freiheitsfreund".

1992 gipfelt diese Hetze in dem brutalen tätlichen Angriff eines ehemaligen DDR-Bürgers auf ihn, als er in einem Kölner Restaurant mit seinem Freund Klaus Poche am Tisch sitzt. Poche berichtet, bei Heym seien "Urängste hochgekommen,... er wollte so schnell wie möglich Deutschland verlassen." Dann habe er sinngemäß zu dem Angreifer gesagt: "Im Krieg gegen die Faschisten hätte ich auch Ihren Vater vors Gewehr kriegen können. Das wäre schlimm gewesen. Aber dann hätte ich jetzt mit Ihnen keinen Ärger." Der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher unterstellt ihm daraufhin, er habe den Angreifer provoziert. (18)

Aber sein alter Kampfgeist erwacht, je mehr sich in der neuen Bundesrepublik die sozialen Gegensätze verschärfen und im Osten in riesiges Heer von Arbeitslosen entsteht. Gestärkt fühlt er sich durch die internationale Anerkennung, die ihm nach wie vor zuteil wird.

Er kritisiert in Filz. Gedanken über das neueste Deutschland (München 1992) die Wendehälse aus SED und Stasi ebenso scharf wie die westlichen Kapitalisten und Treuhandschmarotzer, die sich der noch vorhandenen Werte der DDR und der Subventionen bemächtigen. Besonders widerlich sind ihm ehemalige treue Diener der SED-Bürokratie, die jetzt jede Gelegenheit wahrnehmen, sich unter Ausnutzung ihrer alten Verbindungen zum Westen auf Kosten der Masse der Bevölkerung schamlos zu bereichern.

Er wird Mitglied im Komitee für Gerechtigkeit in Ostdeutschland und hofft vergeblich, dass sich daraus eine neue Partei gründen ließe, die den Ostdeutschen eine Stimme geben könnte.

Aus der gleichen Haltung heraus nähert er sich der PDS, der Erbin der SED-Bürokratie, ohne ihr allerdings beizutreten. 1994 entschließt er sich, für sie zum Deutschen Bundestag zu kandidieren. Als Gründe für seine Kandidatur nennt er u.a. seine Befürchtung, in Deutschland könne wie in Jugoslawien ein Bürgerkrieg drohen, wenn Neonazis ihre Zerstörungen fortsetzten oder das Land zur Anarchie der Weimarer Republik zurückkehre. Er glaubt, die PDS unterscheide sich wesentlich von der alten SED, die für den Tod von Tausenden Demokraten und Sozialisten verantwortlich gewesen sei. Mit seiner Kandidatur wolle er dazu beitragen, einen Sozialismus zu schaffen, der den Namen verdiene.

Es gelingt ihm, den SPD-Politiker und späteren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse in dessen Wahlkreis Prenzlauer Berg in Berlin zu schlagen. Er wird gewählt und darf als Alterspräsident des Bundestags traditionsgemäß die Eröffnungsrede halten. Es wird eine politisch versöhnliche Rede, die trotzdem von den Regierungsparteien mit eisigem Schweigen bedacht wird. Sie erscheint auf Anordnung der Regierung Kohl nicht einmal als offizielle Bundestagsdrucksache.

"Arbeits- und Obdachlosigkeit, Pest und Hunger, Krieg und Gewalttat, Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes begleiten uns täglich", heißt es darin. "Dagegen sind auch die besten Armeen machtlos. Hier braucht es zivile Lösungen, politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle. Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten. Entschulden wir Sie. Und nicht die Flüchtlinge, die zu uns drängen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.

Toleranz und Achtung gegenüber jedem Einzelnen und Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten. Eine politische Kultur, mit der unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein geeintes freies friedliches Europa... Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenem Lande. West - Ost. Oben - Unten. Reich - Arm. Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht, weil ein jeder als erstes Ausschau hielt nach den materiellen Vorteilen, die die Sache ihm bringen würde. Den einen Märkte, Immobilien, billigere Arbeitskräfte, den andern bescheidener - harte Mark und ein grenzenloses Angebot an Gütern und Reisen." (19)

Kurz vor der Rede versucht man offenbar noch sehr gezielt, ihn als Stasizuträger zu diffamieren, was er allerdings rasch entkräften kann. Stefan Heym gehörte selbst zu dem wohl am lückenlosesten ausspionierten Individuen der DDR. Dies ist in seiner vielbändigen Akte gut dokumentiert. Von Inoffiziellen Mitarbeitern wie "Frieda" (Putzfrau der Familie Heym) wurde die Stasi über alle seine Bewegungen, Kontakte und Zusammenkünfte informiert. Jeder Winkel seines Hauses wurde in seiner Abwesenheit fotografiert.

"Als wir unsere Akten einsehen konnten, zu denen jetzt schon wieder neue Bände dazugekommen sind, waren kartonweise auch Fotos dabei", berichtete er später. "Die haben alles im Haus fotografiert, jede Tasse im Schrank, jeden Buchrücken und natürlich die Menschen, die hierher kamen oder zu meinem Geburtstagsfest in einem Restaurant. Man lebte in einer ganz merkwürdigen Öffentlichkeit, einer polizeilichen Öffentlichkeit." (20)

In Der Winter unseres Missvergnügens beschreibt Heym diese Bespitzelung mit den Worten: "Wir hatten gelebt wie unter Glas, aufgespießten Käfern gleich, und jedes Zappeln der Beinchen war mit Interesse bemerkt und ausführlich kommentiert worden." (21)

Zunehmend fühlt Heym sich im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr wohl. Er fürchtet, dass ein neues Drittes Reich drohe. Schon seit Längerem hat er sich entschlossen, sein Privatarchiv an die Universitätsbibliothek von Cambridge in England zu geben, weil er es in Deutschland nicht mehr sicher glaubt und darauf vertraut, dass es in England keiner Zensur unterworfen sei.

Bereits 1995 gibt er das Bundestagsmandat wieder zurück, angeblich weil er keine andere Möglichkeit sieht, gegen die gerade beschlossene Diätenerhöhung der Abgeordneten zu protestieren. Thierse schreibt jedoch in einer SPD-Pressemitteilung, der eigentliche Grund für Heyms Rücktritt sei, dass die PDS ihn daran gehindert habe, an der Enquetekommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR teilzunehmen, die für ihn "eine sehr lange und eine sehr interessante Fußnote der Geschichte" war.(22)

Letzte Romane

Nach dem Zwischenspiel als Politiker wendet sich Heym wieder seiner Arbeit als Schriftsteller zu. Es erscheinen noch zwei Bücher von ihm, Pargfrider und ein Roman über Karl Radek. Beides sind historische Romane, deren Helden nicht zu den Gewinnern gehören. Beide sind keine positiven Helden und eignen sich daher für den Schriftsteller, um den Fragen nachzuspüren, die ihn immer bewegt haben.

Radek ist eine zwar fiktive, aber sorgfältig recherchierte und packend geschriebene Biographie einer der schillerndsten Gestalten der Zweiten und Dritten Internationale, die Heym bewusst als "Roman" bezeichnet. Die Charakteristik des in Galizien geborenen polnischen Juden Lolek Sobelsohn, alias Karl Radek, kommt der historischen Figur vermutlich sehr nahe. Die Lebensgeschichte des 1937 in den Moskauer Prozessen verurteilten und im Gulag umgekommenen Revolutionärs führt den Leser an entscheidende historische Wendepunkte der Geschichte.

Radek nimmt teil an den Beratungen der sozialdemokratischen Opposition in Zimmerwald während des Ersten Weltkriegs, er fährt mit Lenin im plombierten Zug durch Deutschland. Er nimmt mit Adolf Joffe und Leo Trotzki an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk teil. Er ist 1918/19 in Deutschland, als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden, und auch 1923, als die revolutionäre Situation in Deutschland durch die zögerliche und unentschlossene Politik von KPD-Führung und Kommintern verpasst wird. Er spricht mit dem todkranken Lenin, wird Mitglied der Linken Opposition, kapituliert aber nach Trotzkis Ausweisung vor Stalin, schreibt die widerlichsten Elogen auf den Diktator und seine Politik und verteufelt Trotzki, dessen Anhänger er noch bis vor kurzem gewesen war.

Heym deutet dies allerdings so, dass Radek bewusst übertrieben habe, um der Nachwelt zu zeigen, was für ein Schurke Stalin war. Und wenn Radek im Prozess schließlich selbst die Regie übernimmt und Stalins stümperhaftes Drehbuch durch sein eigenes ersetzt, um der Welt die Absurdität dieser Veranstaltung vor Augen zu führen, obwohl er sich selbst dadurch das sichere Todesurteil spricht, dann drückt sich darin wohl auch ein Stück Resignation und ein gewisser Zynismus des Autors angesichts des "Scheiterns des Sozialismus" aus, das 1989 in aller Welt lauthals verkündet wird.

Radek ist der Roman einer tragisch gescheiterten, isoliert gebliebenen Revolution. Die historische Rolle Trotzkis, des Gründers der Linken Opposition und der Vierten Internationale, bleibt unscharf, daher dominiert in diesem Buch eine pessimistische Stimmung. Mit Radek - wie mit vielen seiner Helden - identifiziert sich Heym offensichtlich zumindest teilweise. Wie Radek hat auch sein Autor nichts weiter erreicht, als dem Regime, das er nie ganz verurteilt, aber auch nie ganz akzeptiert hat, den kritischen Spiegel vorzuhalten.

Diese pessimistische Haltung drückt sich bereits in der sehr distanzierten Darstellung der Oktoberrevolution aus, die durch die Brille Radeks, des mitten im Kampfgetümmel seltsam außerhalb stehenden Beobachters, gesehen wird. Auch die starke Überbetonung der Bedeutung der finanziellen und politischen Manöver eines Parvus (Alexander Helphand) für das Gelingen der Revolution deutet auf das ambivalente Verhältnis hin, das der Autor zu diesem historischen Eingreifen der Massen in die Geschichte und der Rolle der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki hat.

Pargfrider, ebenfalls eine historische Gestalt, ein bedeutender jüdischer Tuchhändler, dem die gesellschaftliche Anerkennung verweigert wird, spielt in der nachnapoleonischen Zeit . "Was ist von den großen Ideen geblieben, mit denen dieses Jahrhundert antrat, was aus dem Menschheitswohl, das es zu bringen versprach?", sagt Pargfrider einmal über die französische Revolution und Napoleon.

Diese großen Ideen, vor allem die des Sozialismus, die Oktoberrevolution und ihr historisches Schicksal, die das zwanzigste Jahrhundert prägten, haben den Schriftsteller Stefan Heym nie losgelassen, auch wenn die Hoffnung auf ihre Verwirklichung immer schwächer wurde. In seinem letzten Vortrag in Jerusalem schildert er seinem Publikum den Dichter Heinrich Heine, der auch sein Leben lang gekämpft habe, ohne zu siegen, aber auch ohne aufzugeben, und der seinen Schmerz hinter Witz und Ironie versteckte, eine Haltung, die auch für Leben und Werk von Stefan Heym charakteristisch war, der sich an den Widersprüchen seiner Zeit abgearbeitet hat:

"Wenn mich einer fragte: In welcher Zeit hättest du gerne gelebt? würde ich ihm antworten: In unserer. Denn noch nie, glaube ich, gab es eine Zeit mit so raschen, so tief einschneidenden Veränderungen, mit so enormen Widersprüchen, so fürchterlichen Verstrickungen und Verteufelungen des Menschen, nie aber auch eine Zeit, in der der Mensch so sehr über sich hinauswächst und mit solcher Kühnheit eine neue, kaum erahnte Welt schafft: eine Zeit also, wie ein Schriftsteller für seine Zwecke sie sich nicht schöner wünschen könnte, selbst auf die Gefahr hin, dass er in ihre Strudel gerät... Durch die Darstellung von Gefühlen und Schicksalen habe ich mich bemüht, den Menschen etwas zu geben, ihnen vielleicht auch ein wenig vorwärts zu helfen und so zur Veränderung unserer Welt beizutragen. Dabei war mir natürlich klar, dass der Einfluss des Wortes beschränkt ist, dass er sich oft auch nur indirekt auswirkt, und dass der einzelne überhaupt nur wirken kann in Wechselbeziehung zur Gruppe, zum Kollektiv, zum Ganzen. Der Rufer in der Wüste wirkt immer leicht komisch, er muss sich schon dorthin bemühen, wo die anderen sind, aber manchmal ist es auch notwendig zu rufen, wenn es scheint, als ob nichts als Wüste um einen herum ist." (23)

Anmerkungen:

1) Nachruf, München, 1988 S. 414

2) Deutsches Volksecho stellt sich vor, ( 20. Februar 1937) zitiert in S. Heym: Stalin verlässt den Raum - Politische Publizistik, S. 10.

3) Nachruf, S. 597ff

4) ebd. S. 606

5) Stalin verlässt den Raum - Politische Publizistik, Leipzig 1990, S. 56f

6) Nachruf , S. 602

7) Stalin verlässt den Raum, S. 57f

8) Stalin verlässt den Raum S. 5

9) vergl. http://www.wsws.org/de/2001/jan2001/heym-j30.shtml

10) Nachruf, S. 770

11) Darin heißt es: "Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter - das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens 18. Brumaire, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken." Unterzeichnet haben auch Sarah Kirsch, Christa Wolf, Erich Arendt, Jurek Becker, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf. (Klaus Wagenbach u.a. (Hg.): Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin 1979, S. 303)

12) Nachruf, S. 802

13) ebd , S. 773

14) Rede auf der Demonstration am 4. November. In: Stefan Heym: Einmischung. Gespräche, Reden, Essays. Ed. Inge Heym und Heinfried Henniger. München: 1990 S. 288

15) Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 1990

16) Die Zeit, 13. Okt. 1989

17) Freitag, 8.Oktober 1999

18) Reinhard K. Zachau: Stefan Heym und die deutsche Einheit. Eine Fußnote der Geschichte ?: www.goethe.de/os/hon/aut/dehey.htm

19) 1994 Rede zur Eröffnung des Bundestags

20) Das Interview mit Stefan und Inge Heym erschien im Spiegel online, 18. Dezember 2001

21) Stefan Heym: Der Winter unseres Missvergnügens, Goldmann Taschenbuch, 1996, S.14

22) vergl . Zachau a.a. O

23) Heym: Stalin verlässt den Raum, a.a.O., S. 5f

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