Note: Ungenügend

Die PISA-Studie und das deutsche Bildungssystem

Die Ergebnisse

Es ist was faul im Staate Deutschland. Seit Wochen werden nun schon die Ergebnisse der PISA-Studie diskutiert. Diese internationale Studie über grundlegende Lernkompetenzen von 15-jährigen attestiert formal den deutschen Schülern schwache Leistungen. Inhaltlich stellen die Ergebnisse der PISA-Studie aber eine Bankrotterklärung für das deutsche Schul- und Bildungssystem und eine Anklage an die dafür verantwortlichen Politiker dar.

Nur wenige behaupten heute noch, die Schule bzw. das Bildungssystem könnte die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft beseitigen. Das konnte das Bildungssystem noch nie und wird es auch in Zukunft nicht können. Die beste Pädagogik annulliert nicht die soziale Ungleichheit, die in den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft begründet ist. Das Schul- und Bildungssystem spiegelt vielmehr in komplexer Art und Weise die gesellschaftliche Realität und gleichzeitig die Haltung der herrschenden Kreise gegenüber dieser Realität wieder.

Der Mindestanspruch an das Bildungs- und Schulsystem in Deutschland war aber bis vor einigen Jahren, dass es die soziale Ungleichheit abzumildern hat, dass zumindest eine Chancengleichheit beim Bildungsgang besteht. Die gesamte Bildungsreformpolitik der 60er und 70er Jahre der damals sozialdemokratischen Bundesregierung hatte diesen Anspruch. In dieser Zeit haben sich engagierte Wissenschaftler und Lehrer in kleinen und größeren Reformprojekten durch ihren aufopferungsvollen Einsatz an diesem Anspruch gemessen und zumindest teilweise beachtliche Erfolge erzielt.

Heute haben sich alle Politiker - egal ob CDU/CSU, FDP oder SPD, Grüne und PDS - vom Anspruch der Chancengleichheit bei der Bildung verabschiedet. Alle Parteien vertreten die Interessen der sogenannten Besserverdienenden und Reichen. Selbstverständlich erklärt dies keine einzige Partei offen, erst recht nicht in Wahlkampfzeiten wie jetzt. Doch ihre Politik belegt dies. Nicht nur die Reformprojekte der 60er und 70er Jahre werden aus finanziellen Gründen zusammengestrichen, sondern das gesamte Bildungssystem wird mit Hilfe des Rotstifts im Bund, den Ländern und Gemeinden an den Rand des Einsturzes gebracht. Es ist daher in keiner Weise in der Lage, die wachsende soziale Ungleichheit abzufangen. Im Gegenteil: "In Deutschland verstärkt und zementiert das Bildungs- und Schulsystem die soziale Ungleichheit," so die Einschätzung des Bildungsexperten Prof. Klaus Klemm, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von PISA.

PISA steht für "Programme for International Student Assessment" - ein Programm zur periodischen Erfassung grundlegender Kompetenzen der nachwachsenden Generation. Diese Erfassung wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt und von allen Mitgliedsstaaten gemeinschaftlich getragen und verantwortet.

Weltweit nahmen im Frühsommer 2000 rund 180.000 Schülerinnen und Schüler aus 32 Staaten an der PISA-Untersuchung teil. PISA erfasst dabei drei Bereiche: die Lesekompetenz ( Reading Literacy), die mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy) und die naturwissenschaftliche Grundbildung ( Scientific Literacy).

Die erste Erhebung fand im Jahr 2000 statt. Danach erfolgen die Erhebungen in einem Dreijahreszyklus. In jedem Zyklus wird ein "Hauptbereich" gründlicher und differenzierter getestet. In den beiden anderen Bereichen werden jeweils allgemeinere Leistungsprofile erfasst. Die Hauptbereiche sind: Lesekompetenz im Jahr 2000, mathematische Grundbildung im Jahr 2003 und naturwissenschaftliche Grundbildung im Jahr 2006.

In der Bundesrepublik nahmen etwa 5.000 Schülerinnen und Schüler aus insgesamt 219 Schulen an der Erhebung teil. Damit die Ergebnisse der PISA-Studie innerhalb Deutschlands auch auf Länderebene verwertbar sind, wurde die Zahl der Schulen in einem weiteren Schritt auf 1.466 erhöht. Diese große Zahl von Schulen mit insgesamt über 50.000 Schülern soll statistisch abgesicherte Aussagen über die Ergebnisse in den einzelnen Ländern sowie pro Schulform hervorbringen. Diese Befunde werden Ende Juni diesen Jahres veröffentlicht.

Mit Lesekompetenz ist in der PISA-Studie mehr als einfach nur lesen können gemeint. Unter Lesekompetenz versteht PISA die Fähigkeit, Texte sowie Diagramme, Bilder, Karten, Tabellen oder Graphiken zu verstehen sowie die darin enthaltenen Informationen oder Aussagen in einen größeren Bedeutungszusammenhang stellen und somit für das Leben nutzen zu können. "Nach diesem Verständnis ist Lesekompetenz nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, sondern eine Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten - also jeder Art selbstständigen Lernens - und eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben."

Nimmt man diese Definition der Lesekompetenz zur Grundlage, muss man den Ergebnissen der Studie entnehmen, dass das deutsche Bildungssystem nicht nur einem großen Teil der Jugendlichen bei der "Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" nicht helfen kann, sondern gar verantwortlich dafür ist, dass immer mehr von dieser Teilnahme ausgeschlossen werden.

Ein Vergleich der Befunde im Bereich Lesen zeigt, dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland insbesondere bei den Aufgaben relative Schwächen aufweisen, die das Reflektieren und Bewerten von Texten erfordern. Der Anteil der Jugendlichen, deren Leistungen sich unter einem elementaren Niveau ähnlich dem der Grundschule bewegen (in der Studie "Kompetenzstufe I" genannt), ist in Deutschland mit 10 Prozent vergleichsweise groß. Höhere Anteile finden sich nur in Brasilien, Mexiko, Lettland und Luxemburg.

Weitere 13 Prozent der in Deutschland erfassten Schülerinnen und Schüler befinden sich auf Kompetenzstufe I, also ungefähr auf Grundschulniveau. "Damit sind insgesamt fast 23 Prozent der Jugendlichen nur fähig, auf einem elementaren Niveau zu lesen," resümiert die Studie. "Im Hinblick auf selbstständiges Lesen und Weiterlernen ist diese Gruppe insgesamt als potenzielle Risikogruppe zu betrachten."

Der Anteil der 15-Jährigen, die angeben, überhaupt nicht zum Vergnügen zu lesen, liegt in Deutschland bei 42 Prozent und wird von keinem anderen Land übertroffen. Zudem muss man bemerken, dass der Mensch üblicherweise in diesem Alter einen Höhepunkt der Lesekompetenz erreicht, zumindest kurz vor diesem steht. Wenn einem jungen Menschen zu diesem Zeitpunkt die Kompetenz und - noch wichtiger - die Lust am Lesen verleidet worden ist, kann man sich ein Bild über seine Bereitschaft und Fähigkeit machen, in seinem späteren Leben auch "am gesellschaftlichen Leben" teilzuhaben bzw. teilhaben zu können.

Bei der Erfassung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen ergibt sich ein ähnliches Bild, nicht zuletzt, weil vor allem die mathematische Grundbildung eng mit der Lesekompetenz zusammenhängt. Wie bei der Lesekompetenz sind nicht nur mathematische Sätze und Regeln und die Beherrschung mathematischer Verfahren abgefragt worden. Mathematische Kompetenz zeigt sich laut PISA vielmehr im verständnisvollen Umgang mit Mathematik und in der Fähigkeit, mathematische Begriffe als "Werkzeuge" in einer Vielfalt von Kontexten einzusetzen. Mathematik wird als ein wesentlicher Inhalt unserer Kultur angesehen.

"Ein Viertel der 15-Jährigen in Deutschland muss als Risikogruppe eingestuft werden, deren mathematische Grundbildung nur bedingt für die erfolgreiche Bewältigung einer Berufsausbildung ausreicht (unter und auf Kompetenzstufe I)", schlussfolgern die PISA-Wissenschaftler.

Mit weiteren, tiefer gehenden Untersuchungen über den sozialen Status und Hintergrund der Jugendlichen und ihrer Familien können die Bildungsforscher nachweisen, dass Lernkompetenzen und soziale Ungleichheit in Wechselwirkung stehen. "Die Analysen belegen einen straffen Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen über alle untersuchten Domänen hinweg", schreiben die Autoren der PISA-Studie.

Deutschland gehört zu den Ländern mit den größten Unterschieden in der Lesekompetenz von Jugendlichen aus höheren und niedrigeren Sozialschichten. Als Grund dafür wird die frühe Aufteilung der Kinder nach Klasse 4 auf die verschiedenen Schulen des dreigliedrigen Schulsystems bezeichnet. "Ein unerwünschter Nebeneffekt der frühen Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge ist die soziale Segregation der Jugendlichen."

Über 40 Prozent der Gymnasien haben eine Schülerschaft, die in der Mehrheit der oberen Mittelschicht angehört; ihre Väter oder Mütter sind Akademiker, Führungskräfte und selbstständige Unternehmer. Umgekehrt konzentrieren sich in Sonderschulen und einem Teil der Hauptschulen Jugendliche aus sozial schwachen Familien. "Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird."

Dies deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien. Die Hamburger Studie zu den Lernausgangslagen zeigt beispielsweise, dass Schüler aus Arbeiterfamilien in Grundschulen wesentlich höhere Leistungen erbringen müssen, um eine Empfehlung zum Gymnasium zu erhalten, als Schüler aus Familien der höheren Schichten.

Der Abstand zwischen den Leistungsstärksten und -schwächsten ist schon jetzt in keinem Land so groß wie in Deutschland.

Während die Ergebnisse der PISA-Studie in Bezug auf die schwächeren Schüler keine wirklichen Neuigkeiten bringen, sondern vielmehr die Ergebnisse früherer Studien untermauern und stützen, sind die Ergebnisse von PISA im Bezug auf die stärkeren Schüler neu und zugleich ein Schlag ins Gesicht der konservativen Bildungsexperten und Politiker und ihrer "Elitenbildung". "Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht so wie in anderen Ländern, die schwachen Schülerinnen und Schüler zu fördern. Auf der anderen Seite gibt es aber auch keine Hinweise auf einen überdurchschnittlich großen Anteil von Schülerinnen und Schülern in Deutschland, die Leistungen auf einem Spitzenniveau erbringen. Im Unterschied zum Vereinigten Königreich etwa gibt es in Deutschland keine ausgeprägte Elite."

Die Lernkompetenzen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt, und zwar auf einem insgesamt niedrigen Niveau.

Die Debatte

Grundsätzlich muss man einer Diskussion der PISA-Ergebnisse vorausschicken, dass Ranglisten und Rankings immer nur ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit wiedergeben. Die Tatsache, dass Deutschland im internationalen Vergleich im Rahmen der PISA-Studie sehr schlecht abschneidet, bedeutet nicht automatisch, dass die Bildungssysteme in den anderen Ländern gut sind. Womöglich sind sie nicht einmal besser.

Gemessen wird schließlich - nicht zu vergessen: im Auftrag der internationalen Wirtschaftsvereinigung OECD - "was hinten herauskommt", das Ergebnis. Erfasst werden außerdem die verschiedenen Kompetenzen bei den 15-Jährigen, die noch zur Schule gehen. Wie viele 15-Jährige inoffiziell ihrer Schulpflicht nicht nachkommen, beispielsweise in den USA, Mexiko oder Brasilien, oder aber zu welchen menschlichen Kosten diese Ergebnisse erzielt worden sind - man denke nur an die hohe Selbstmordrate unter japanischen Jugendlichen - stand nicht im Vordergrund bei PISA. Ohne zu behaupten, genauer Kenner des britischen, japanischen oder US-amerikanischen Bildungssystems zu sein, behaupte ich dennoch, dass diese Systeme alles andere als vorbildlich zu nennen sind.

Was wiederum nicht heißt, dass man keinerlei Schlüsse aus dem internationalen Vergleich ziehen kann. Tendenzen sind ablesbar und fortschrittliche Lösungsvorschläge sind aus den Erkenntnissen durchaus zu entwickeln. Doch in Deutschland sind Politik, Wirtschaft und teilweise auch Wissenschaft weit davon entfernt.

Die Reaktionen von Seiten der politischen und wirtschaftlichen Elite auf die Erkenntnisse der PISA-Studie können nur als eine Warnung an unsere Kinder verstanden werden. Ein jeder von ihnen nutzt die Analyse, um das herauszugreifen, was er zur Bestätigung seiner Überzeugungen braucht. Die gesamte Diskussion ist von gegenseitigen Schuldzuweisungen statt von ernsthaften Auseinandersetzungen im Interesse der Kinder und Jugendlichen geprägt.

So dreschen einige Politiker nun nach Manier des amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), der mit seiner Bezeichnung von Lehrern als "Faule Säcke" schon vor längerer Zeit die Zielrichtung vorgab, auf die Lehrer ein.

Einige Lehrer wiederum beschweren sich darüber, dass ihnen keinerlei Disziplinierungsinstrumente gegenüber den Schülern zur Verfügung stünden. Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf wusste diesbezüglich schon vor einigen Monaten zu berichten, dass bei einer guten Erziehung eine gewisse Strenge nicht fehlen darf.

Andere, wie etwa der CSU-Kanzlerkandidat und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, begründen ihre Forderungen nach mehr Disziplin und Ordnung, sprich Drill, in den Schulen mit dem besseren Abschneiden der japanischen und koreanischen Schüler.

Die übelste Reaktion auf die PISA-Studie und eine für die deutsche Politik und ihre Medien recht typische war, das schlechte Abschneiden der Schüler in der Bundesrepublik mit dem hohen Ausländeranteil zu erklären. Die Studie selbst ist in dieser Frage sehr eindeutig. Erstens würde das Ergebnis für das deutsche Bildungssystem nicht besser ausfallen, wenn man alle Schüler mit "Eltern, die nicht in Deutschland" geboren sind (die "Blutsdefinition" von Ausländern gibt es nur in Deutschland), herausziehen würde. "Im Ranking würde sich dann Deutschland vom 21. auf den 20,5. Platz katapultieren," merkte auf einer Podiumsdiskussion in Essen Klaus Klemm an.

Zweitens sind bei Berücksichtigung der sozialen Hintergründe keinerlei Unterschiede zwischen Schülern festzustellen, deren Eltern in Deutschland bzw. nicht in Deutschland geboren wurden. Ausländer in Deutschland rangieren sozial und schulisch in der unteren Gruppe. Fast zwei Drittel der nicht in Deutschland geborenen Eltern sind als Arbeiter oder Arbeiterinnen beschäftigt, von denen wiederum knapp die Hälfte Anlerntätigkeiten ausübt. Fast die Hälfte der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien überschreiten im Lesen nicht die elementare Kompetenzstufe I, obwohl über 70 Prozent von ihnen die deutsche Schule vollständig durchlaufen haben. Dennoch: "Vergleicht man Jugendliche mit gleicher Lesekompetenz, ist keine Benachteiligung von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien mehr nachweisbar." Migranten in Deutschland sind schulisch schwach, weil sie sozial schwach sind.

Kinder aus sozial schwachen Familien sind eben schulisch schwach, weil die Schulen bedingt durch die Kürzungen immer weniger ihrem Bildungsauftrag gerecht werden können und so einen großen Teil dessen in die Verantwortung der Eltern bzw. Familien übergeben. Nur jeder zehnte leseschwache Schüler wurde in der Schule als solcher überhaupt erkannt, meldet PISA. Es ist dieser Mechanismus, der den "straffen Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen" durchsetzt, und zwar von Kürzung zu Kürzung intensiver.

Anstatt aber diesen offensichtlichen Hauptgrund für die Mängel im deutschen Bildungssystem anzuerkennen - die frühzeitige und rigorose Selektion der Kinder nach "Leistung", sprich nach sozialer Herkunft - werden von Politik und Wirtschaft zum Großteil Forderungen aufgestellt, die dieses Hauptproblem noch verstärken.

Die Kultusministerkonferenz und damit die in Deutschland für das Schul- und Bildungssystem Verantwortlichen, beschlossen einen Katalog von oberflächlich betrachtet nichtssagenden und unkonkreten Phrasen: "Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz im Vorschulalter", "Qualitätssicherung", "Professionalität der Lehrerausbildung", usw. Unter den konkreten Bedingungen aber verwandeln sich diese Vorschläge in Instrumente, die die derzeitigen Probleme noch verstärken werden.

Denn erstens ist weder die Bundesregierung noch die Regierung eines Bundeslandes bereit, für die vorgeschlagenen Maßnahmen die Bildungsausgaben großzügig zu erhöhen. Schon jetzt sind die Bildungsausgaben in Deutschland - auch das berichtet die PISA-Studie - im internationalen Vergleich weit unter dem OECD-Durchschnitt. Auffallend dabei ist, dass die Ausgaben für die Schulen in den Klassenstufen 1 bis 10 weit hinterher hinken. In Dänemark zum Beispiel wird fast das Doppelte für Grundschüler ausgegeben. Für Gymnasiasten und Berufsschüler dagegen gibt Deutschland dreimal so viel aus wie für seine Grundschüler und steht hier im internationalen Vergleich nicht so schlecht da.

Zweitens wehren sich alle Bildungsminister und -ministerinnen gegen eine Debatte über das sozial selektierende dreigliedrige Schulsystem. Eine neue Schulformdebatte würde nur Bedrohungsängste schüren, erklärt stellvertretend die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD). Man fragt sich verwundert, bei wem "Bedrohungsängste" geschürt werden, wenn man die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit an den deutschen Schulen diskutiert? Dies ist nicht anders zu verstehen, als dass die Trennung zwischen Arm und Reich an den Schulen erhalten bleiben soll.

Diese Politik der Kultusminister aller Länder wird von konservativen Bildungswissenschaftlern "pädagogisch" begründet. Sie verteidigen vehement die Annahme, dass der Unterricht in homogenen Gruppen das Lernen erleichtern würde, sowohl das der starken als auch der schwachen Schüler. Dieses System erleichtert allerhöchstens die Arbeit des Gymnasiallehrers, bei gleichzeitiger Erschwernis der Arbeit aller anderer Lehrer. Denn letztere haben jene Schüler zu unterrichten, denen schon in jungen Jahren deutlich gemacht wird, sie seien "Versager". Wie die in Deutschland im Rahmen von PISA zusätzlich erhobenen Daten zeigen, wurden 12 Prozent der 15-Jährigen zunächst vom Schulbesuch zurückgestellt und 24 Prozent mussten im Verlauf ihrer Schulzeit eine Klasse wiederholen. Der Anteil beträgt unter den 15-Jährigen insgesamt also 36 Prozent. Dabei nimmt der Anteil der Jugendlichen, deren Schulkarriere glatt verlaufen ist, im Verlauf der Schulzeit deutlich ab.

Zusätzlich zu den Zurückgestellten und den Wiederholern gibt es einen nicht zu übersehenden Anteil an Jugendlichen, die mit hohen Bildungsaspirationen in eine anspruchshöhere Schule aufgenommen wurden und diese aufgrund nicht ausreichender Leistungen wieder verlassen mussten. Zu diesen "Rückläufern" zählen rund 16 Prozent der in Hauptschulen erfassten, rund 9 Prozent der in Realschulen und mindestens 10 Prozent der in Integrierten Gesamtschulen erfassten 15-Jährigen. "Fasst man Rückläufer und Wiederholer zusammen, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass mindestens ein Drittel der in Deutschland erfassten Schülerinnen und Schüler eine Schullaufbahn hinter sich hat, die durch Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet ist."

Es ist diese Struktur des Schul- und Bildungssystem, die den Schülern - und Lehrern - jeglichen Spaß, das Vergnügen und somit das Interesse am Lernen raubt. Diese Struktur wirkt auch auf die Lehrer. Man darf einem derzeitig angehenden Lehrer Idealismus und Engagement unterstellen, erst recht, wenn er sich entscheidet, an einer Grund-, Haupt- oder Sonderschule zu unterrichten. Doch der größte Einsatz wird durch eine Politik zunichte gemacht, die durch die ständigen Kürzungen (Erhöhung der Klassenstärken, der Lehrerarbeitszeiten, marode Schulen mit mangelhafter Ausstattung, usw.) die Arbeit gerade an Grund- und Hauptschulen fast unmöglich macht - Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel. Nicht nur durch den jahrelangen Einstellungsstopp bei Lehrern sind daher die Lehrerkollegien stark überaltert. Rund 60 Prozent der Lehrer auf den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland sind über 45 Jahre alt.

Forderungen, die nun im Fahrtwind der Diskussion um die PISA-Ergebnisse ins Rampenlicht gebracht werden, werden diese Situation nicht ändern; so etwa das Konzept der "Autonomen Schule". Danach soll den einzelnen Schulen ein bestimmtes finanzielles Budget zur Verfügung gestellt werden, über das die Schule dann frei verfügen kann. Der eine oder andere Schulleiter wird diesem Konzept etwas abverlangen können und es unterstützen, um von den teilweise absurden Auflagen freizukommen, die sich durch die bürokratisch-staatliche Verwaltung der Schulen ergeben. Doch unter den gegebenen Umständen, bei sinkenden Ausgaben für die Schulen, würde dies dazu führen, dass die Schulen bzw. deren Leitung, selbst für Entlassungen, Kürzungen usw. verantwortlich gemacht werden. Im Zusammenhang mit dem Ruf nach einer Stärkung des "schuleigenen Profils", würde dieses Konzept zu einem erhöhten Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulen führen. Dieser Wettbewerb wird sich nur am Rande um die besseren pädagogischen Konzepte drehen. Er wird vor allem um Sponsoren und Spender aus der Wirtschaft und schließlich um die "besten" Schüler gehen. Einer weiteren sozialen Polarisierung und damit Verstärkung des jetzt schon unsozialen Schulsystems würde Tür und Tor geöffnet.

Die derzeit vehement geforderte Vorverlegung des Schuleintrittsalters oder die Integration des Kindergartens in die Schule würde ebenso - unabhängig von den Beweggründen derjenigen, die dieses Ansinnen vorbringen - unter den gegebenen Umständen ein Schuss sein, der nach hinten los geht. Dies hätte lediglich zur Folge, dass den Kindern nicht erst mit sechs oder sieben, bei Eintritt in die Grundschule, der Spaß am Lernen verdorben wird, sondern bereits mit vier oder fünf Jahren.

Schlussfolgerungen aus der PISA-Studie

Das Hauptproblem des deutschen Bildungssystems ist die Vertiefung der ohnehin wachsenden sozialen Ungleichheit. Dies belegt die PISA-Studie und legt nahe, dass dies hauptsächlich im alten dreigliedrigen System begründet ist, dass angeblich leistungsbezogen, in Wahrheit aber sozial auswählt. Die Kinder und Jugendlichen müssen in den Mittelpunkt des pädagogischen Bemühens gestellt werden. Nicht die Kinder müssen auf ihre "Schulreife" getrimmt werden, auf "Wissens-Output" und Faktenhuberei, sondern die Frage muss gestellt werden, ob die Schule reif für die Kinder ist? Eine Abkehr von diesem System der Sozialauslese ist Grundvoraussetzung für alle weiteren konkreten Reformen, die durchaus aus den Erkenntnissen der PISA-Studie abgeleitet werden können:

  • Zunächst eine große Aufstockung der finanziellen Mittel, um Schulen zu erhalten, Lehrmittel zu beschaffen, Lehrer fortzubilden. Die Behauptung, eine gute Bildung müsse nicht unbedingt mehr Geld verlangen, ist absurd.
  • Ein umfassendes und einheitliches Schulsystem, in dem ein jeder gemäß seinen Neigungen und Fähigkeiten gezielt gefördert werden kann.
  • Fortschrittliche Unterrichtsmethoden in diesem Schulsystem. Die Verschiedenheit der Schüler in ihren Kompetenzen und Defiziten müssen als Chance für eine bessere Förderung der schwächeren und der stärkeren Schüler begriffen werden. Wer würde bezweifeln, dass ein Thema oder ein Fachgebiet erst wirklich begriffen und verstanden worden ist, wenn man dies selbst anderen vermittelt hat? Darüber hinaus ist ein verändertes Lehrerbild überfällig. Der Lehrer muss sich als Verbündeter der Schüler verstehen, der ihnen beim Lernen mit Rat und Tat zur Seite steht, anstatt ihr Lernen zu kontrollieren und die Schüler bei "nicht erbrachten Leistungen" zu bestrafen (benoten). In diesem Miteinander statt Gegeneinander würden auch soziale Kompetenzen gedeihen, die in der heutigen offiziellen Gesellschaft fast schon verpönt sind: Solidarität, Toleranz, Einfühlungsvermögen.
  • Neben der Neubestimmung der Methoden auch eine der Lerninhalte. Die Welt und das Wissen darüber sind in einem stetigen Wandel. Dies muss sich im Lehrplan bemerkbar machen. Insbesondere das selbständige Lernen, die Beschaffung von und der Umgang mit Informationen im Zeitalter des Internets muss vermittelt werden. Auch dies wiederum würde eine Aufstockung der Finanzen mit sich bringen, um die notwendigen Lehrmittel zu beschaffen.

Die rot-grüne Bundesregierung sowie die Länderregierungen haben mit ihrer Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte genauso wie mit ihren jetzigen Reaktionen auf die PISA-Studie gezeigt, dass sie weder das alte Schul- und Bildungssystem antasten noch zusätzlich Finanzen dafür bereitstellen wollen. All ihre sogenannten "Bildungsreformen" sollen wie stets auf der einen Seite die Finanzmittel für die Bildung im Interesse der Wirtschaft beschneiden und auf der anderen Seite der Bevölkerung auch noch weismachen, ihre Reformen dienten der Verbesserung der Zukunft unserer Kinder. Von CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen, PDS und Gewerkschaften erhoffen, diese würden die "Bildungsmisere" eindämmen oder gar stoppen, hieße, darauf zu vertrauen, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können.

Siehe auch:

Die PISA-Studie im Netz

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