Massenfluchtversuch am Eurotunnel

An Weihnachten, in der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember, unternahmen rund 550 Flüchtlinge aus dem Rotkreuzlager Sangatte auf der französischen Seite des Ärmelkanals eine Massenflucht und versuchten durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen. In zwei großen Gruppen überrannten sie Kontrollpunkte, Absperrungen und Wachpersonal in Coquelles, dem französischen Terminal am Eingang des Tunnels.

Kurz nach 21 Uhr gelang es der ersten Gruppe, eine Bresche in Absperranlagen zu schlagen und die etwa zwanzig anwesenden Sicherheitskräfte zu überrennen. 129 Personen gelangten in einem Fußmarsch bis zu sieben Kilometer weit in den Tunnel hinein, ehe sie durch ein großes Aufgebot an Polizeikräften gestoppt und gewaltsam zurückgebracht wurden. Einer der Flüchtlinge erlitt dabei einen Beinbruch.

Kurze Zeit später überquerte eine weitere Gruppe von über vierhundert Flüchtlingen die Absperrungen. Doch sie wurde schon vor dem Tunnel durch ein massives Aufgebot der Spezialpolizei CRS mit Tränengas gestoppt und gewaltsam zurückgetrieben. Der Zugverkehr wurde in dieser Nacht eingestellt.

43 Personen wurden verhaftet und vier von ihnen, ein Afghane und drei Iraker, schon am nächsten Tag von einem Gericht in Boulogne-sur-Mer (Pas-de-Calais) zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Die Firma Eurotunnel erhob gegen sie eine Geldforderung von 305.000 Euro Schadensersatz für zerstörte Sicherungsanlagen.

Cyrille Schott, der neue Präfekt von Pas-de-Calais, erklärte stolz, die Reaktion der Ordnungskräfte sei "schnell, effektiv, couragiert und beherrscht" gewesen. "Wir konnten schnell reagieren und die Kontrolle wieder herstellen. Die Vorbereitungen, die wir gemeinsam mit der PAF [franz. Grenzpolizei], der CRS, der Sicherheitspolizei und der Gendarmerie getroffen hatten, zeigten ihre Wirkung." Weiterhin will er als Reaktion auf die Vorkommnisse zu Weihnachten noch eine weitere Kompanie der Sonderpolizei CRS zur Überwachung des Geländes einsetzen.

Eurotunnel

Der Eurotunnel ist eine 50 Kilometer lange Verbindung von Coquelles nach Folkstone unter der engsten Stelle des Ärmelkanals hindurch. Er besteht aus einer Versorgungs- und zwei Hauptröhren für den Verkehr - die Frachtzüge, die den Privat- und Schwerverkehr im Huckepackverfahren transportieren, und die über dreißig Eurostar-Züge, die pro Tag in beiden Richtungen zwischen London und Paris verkehren.

Für einen Passagier mit gültigen Papieren dauert die Zugfahrt vom Pariser Gare du Nord nach London etwa drei Stunden und die eigentliche Tunneldurchquerung nur 35 Minuten - doch für die Menschen, die ohne gültige Einreisepapiere in Sangatte festsitzen, kommt sie einem Wagnis auf Leben und Tod gleich.

Früher versuchten die meisten, sich als blinde Passagiere in einem LKW auf die Fähre nach Dover zu schmuggeln. Im Juni 2000 waren in einem Kühltransporter bei der Ankunft in Dover 58 tote Chinesen gefunden worden, die auf der Überfahrt im verschlossenen Container erstickt waren.

Seither unterhält die Eurotunnel-Gesellschaft in Calais eine Messstation, in der mit einer Sonde nach menschlicher Atemluft in den LKW-Frachten gespürt wird. Außerdem werden die Container auf beiden Seiten des Tunnels mit einem Röntgengerät nach blinden Passagieren durchleuchtet.

1998 verfügte die Labour Party von Tony Blair, dass das Gesetz gegen Einschleusen von Menschen ohne gültige Papiere ( Carrier Liability Act) nicht nur für Fluglinien, sondern auch für LKW-Transportunternehmen Geltung habe. Seither drohen den Brummifahrern bei ihrer Ankunft in Großbritannien für jeden blinden Passagier 2.000 Pfund (rund 3.000 Euro) Strafe.

Aus all diesen Gründen versuchen immer mehr Flüchtlinge, heimlich direkt auf einen der Güterzüge zu gelangen, die den Tunnel durchqueren. Dazu klettern sie über die Gitter am Terminal oder springen von Brücken auf die Züge hinunter.

Im Jahr 2001 sind beim Versuch, auf einen der Züge zu gelangen, vier Menschen ums Leben gekommen. Sie wurden von einem Zug überrollt, vom Starkstromschlag getroffen oder stürzten in den Tod, weil sie versuchten, auf der Flucht vor Grenzwächtern aus einem fahrenden Zug zu springen. Ein fünfter Mann, ein kurdischer Flüchtling, wurde auf der Straße nach Coquelles nachts überfahren und tot liegengelassen.

Die Betreibergesellschaft des Eurotunnels hat ihre Sicherheitsanlagen am Terminal Coquelles für über drei Millionen Euro wie ein militärisches Sperrgelände aufgerüstet. Das Gelände, das die ganze Nacht taghell beleuchtet wird, erinnert mit seinen Elektrozäunen, den Stacheldrahtreihen, den Videokameras und Grenzwächterpatrouillen an die ehemalige DDR-Grenze.

Alain Bertrand, der Direktor von Eurotunnel, ist stolz darauf, dass das Gelände sogar "antiterroristische Normen" erfülle. Er erklärte: "Seit dem Sommer haben wir angesichts der wiederholten Angriffe der Flüchtlinge die ‚Null-Toleranz‘ ausgerufen: Wir haben 60 Millionen Francs in Einfriedungen, Sichtgeräte, Überwachungssysteme und Wachpersonal investiert... Diese Vorkehrungen erweisen sich als effektiv."

Seit dieser martialischen Aufrüstung am Eurotunnel ist die Lage für die Flüchtlinge zunehmend verzweifelter geworden. Zwar gelang es bereits Ende August 2001 einer Gruppe von 44 Afghanen, gemeinsam in den Tunnel einzudringen, und wenige Tage darauf überwanden weitere hundert Flüchtlinge im September die Zäune. Doch sie wurden alle gestoppt und zurückgebracht. Es sind immer nur Einzelne, die tatsächlich ihren Weg nach Großbritannien finden.

Sangatte

Das Flüchtlingslager Sangatte des Roten Kreuzes befindet sich zehn Kilometer vom Fährhafen Calais und zwei Kilometer von Frachtterminal Coquelles entfernt in einer ehemaligen Lagerhalle der Eurotunnel-Gesellschaft, die bis 1994 für die Herstellung der Tunnelröhren benötigt wurde. Sie wurde 1999 für die Kosovo-Albaner in Betrieb genommen, die auf ihrem Weg nach England im Ort Sangatte auf der Straße kampierten.

Seither ist in der 25.000 Quadratmeter großen Halle eine regelrechte Flüchtlingsstadt voller Wohncontainer und Zivilschutzzelte entstanden. Obwohl das Lager nur für 600 Personen ausgelegt ist, wird es zur Zeit von bis zu 1.600 Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern belegt. Waren es vor zwei Jahren überwiegend Menschen aus dem Balkan, so kommen die Flüchtlinge heute eher aus Afghanistan, dem Iran, Somalia, oder es sind irakische und türkische Kurden.

Unter den Flüchtlingen des Massenexodus zu Weihnachten waren viele Afghanen, außerdem Tadschiken, Iraker und Kurden. Mehrere Afghanen berichteten, dass sie bereits zwischen fünf und sechs Monaten unterwegs seien. Jeder Dritte von ihnen sei auf der Flucht gestorben.

Sie hegten die Hoffnung, nach England zu gelangen - "aus Gründen der Sprache, der familiären Bindungen, des Statuts und des Arbeitsrechts" - wie Rotkreuzhelfer erklärten. In England, das sich nicht dem Schengener Abkommen angeschlossen hat, hofften sie auf eine Chance auf ein normales Leben.

Doch sie mussten erkennen, dass weder England noch Frankreich bereit sind, sie aufzunehmen, - obwohl doch beide Nationen ihre Beteiligung am Bombenkrieg gegen Afghanistan gerade damit begründen, dass sie angeblich für Demokratie und Menschenrechte eintreten.

England und Frankreich

Der verhinderte Massenexodus von Weihnachten ist nur das jüngste Beispiel dafür, dass keine der beiden Regierungen - weder die französische noch die britische - bereit ist, Flüchtlinge wie diejenigen von Sangatte aufzunehmen. Dabei beschuldigen sich beide Regierungen wechselseitig, nicht scharf genug gegen die Flüchtlinge vorzugehen. Bei der hermetischen Abriegelung der Grenze arbeiten sie allerdings eng zusammen.

Im September 2001 äußerte sich der britische Innenminister David Blunkett verärgert über die hohe Zahl illegaler Einwanderer, die von Frankreich über den Ärmelkanal ins Land zu kommen versuche, und forderte von Frankreich die Schließung von Sangatte. Im Gegenzug beschuldigte der französische Innenminister Daniel Vaillant Großbritannien, durch eine zu liberale Sozialregelung Flüchtlinge geradezu anzulocken.

Dagegen verwahrte sich Innenminister Jack Straw, der darauf verwies, dass er in den vier Jahren seiner Amtszeit schon eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen habe, "um Wirtschaftsflüchtlinge vom Trip nach England abzuhalten". So hat England in letzter Zeit seine Asylgesetze verschärft und bietet z.B. Asylbewerbern schon seit einiger Zeit nur noch Gutscheine als staatliche Unterstützung an, die nur in ganz bestimmten Läden einlösbar sind.

Die gegenseitige Schuldzuweisung hindert die Regierung weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Ärmelkanals daran, seit zehn Jahren eng zusammenzuarbeiten, wenn es darum geht, die Rechte der Flüchtlinge einzuschränken. Dafür ist Frankreich sogar bereit, auf seine Hoheitsrechte zu verzichten: Es erlaubt britischen Grenzwächtern, Kontrollen schon auf französischem Boden durchzuführen.

Seit dem 1. Januar 2002 dürfen die britischen Zöllner die Eurostar-Passagiere sogar schon vor dem Einsteigen auf den entsprechenden Bahnhöfen, wie Gare du Nord in Paris, Lille-Europe und Calais-Frethun, kontrollieren. Dies beschlossen Lionel Jospin und Tony Blair im Februar 2001 beim französisch-britischen Gipfel im südfranzösischen Cahors. Es ist eine Kompromisslösung, denn die britische Seite hatte gefordert, dass der Zug gar nicht mehr in Calais halten sollte.

Außerdem dürfen seit dem ersten Januar 2002 Nicht-Europäer, die kein Visum für England haben, den Eurostar von Paris nach Calais nicht mehr benutzen, was immerhin drei Prozent aller Einwohner Europas betrifft, denn von 372 Millionen Europäern haben zehn Millionen keine EU-Staatsbürgerschaft.

Obwohl Jospin bei seinem Amtsantritt 1997 ausdrücklich versprochen hatte, die "Sans-Papiers" zu legalisieren, hat seine Regierung seither weder die restriktiven Ausländergesetze der früheren Innenminister Debré und Pasqua abgeschafft, noch irgendwelche wirkungsvollen Initiativen zur Einbürgerung der Flüchtlinge unternommen.

Zwar wurde im Jahr 2000 für kurze Zeit - nach dem Besuch des damaligen Nordallianzführers Massud in Paris - drei Viertel der Afghanistanflüchtlinge, die Antrag auf Asyl stellten, dieses auch gewährt. Doch ist dies eine Ausnahme, und ändert nichts daran, dass die Quote der abgelehnten Asylanträge über neunzig Prozent beträgt. Zudem betreibt die Regierung eine bewusste Politik der Nicht-Information, indem sie den Flüchtlingen systematisch jede Information über ihre Rechte verweigert.

So haben auch die Flüchtlinge im Lager Sangatte keine Chance, sich über die Möglichkeit eines Asylgesuchs in Frankreich selbst zu erkundigen. Die GISTI (Informations- und Hilfsorganisation für Flüchtlinge) warf der Regierung vor: "Der französische Innenminister [Vaillant] hat strikt verboten, dass in der Informationsbroschüre auch nur die leiseste Andeutung über das Asylrecht in Frankreich gemacht werde." Das nächste Amt, wo man ein französisches Asylgesuch stellen könnte, befindet sich in Arras, hundert Kilometer von Calais entfernt. Von über 40.000 Menschen, die das Lager seit seiner Öffnung passierten, haben sich nur 120 Personen um französisches Asyl beworben.

Nachdem der Vorstoß der Eurotunnel-Gesellschaft, Sangatte zu schließen, keinen Erfolg hatte, fordert ihr Direktor Bertrand jetzt immer lauter, eine nächtliche Ausgangssperre über alle Bewohner des Camps zu verhängen. Dies wäre ein weiterer Schritt, das Flüchtlingscamp am Ärmelkanal in ein geschlossenes Lager zu verwandeln.

Siehe auch:
Sangatte camp exposes brutal French and British asylum policy
(31. August 2001)
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