Flugsicherheit und Profitorientierung

Hintergründe des Flugzeugzusammenstoßes über dem Bodensee

Die Flugzeugkatastrophe bei der Anfang des Monats in unmittelbarer Nähe des Bodensees 71 Menschen, darunter 45 russische Schulkinder ums Leben kamen, war keine tragische Verkettung widriger Umstände, wie es in einigen Medienberichten heißt. Auch war nicht der russische Pilot oder veraltete russische Technologie schuld, wie in ersten Presseerklärungen voreilig behauptet wurde. Der erfahrene Pilot sprach fließend Englisch und Deutsch und die russische Tupolew 154 verfügte über moderne Technik und war in sehr gutem Zustand.

Schuld an einer der größten Luftfahrtkatastrophen der vergangenen Jahre sind vielmehr die verheerenden Auswirkungen von Sparmaßnahmen und Personalmangel bei der privatwirtschaftlichen Flugüberwachung, auf die Beschäftigte und Experten seit Jahren aufmerksam machen.

Verzweifelt und fassungslos standen in der vergangenen Woche die Angehörigen vor den Wrackteilen beider Unglücksmaschinen. Die 45 Kinder unter den Opfern, die alle aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan im südlichen Ural stammten, sollten im Rahmen einer, von der UNESCO organisierten Auszeichnungsreise für ihre schulischen Leistungen an die spanische Mittelmeerküste fliegen.

Nicht nur die Tragik dieser Katastrophe, sondern auch die Tatsache, dass sie durch eine ständig zunehmende, nahezu alltägliche Vernachlässigung der Flugsicherheit hervorgerufen wurde, löste weltweit Bestürzung und Schock aus.

Nach den bisher veröffentlichten Ermittlungen ergibt sich folgendes Bild:

Erstens: Der diensthabende Schweizer Fluglotse war in der kritischen Zeit vor dem Unfall allein im Kontrollzentrum, während sein Kollege sich in einem Pausenraum aufhielt und nicht zu erreichen war. Dies widerspreche den Dienstvorschriften teilte der Vorstand des Schweizer Flugsicherungsunternehmens Skyguide eilig mit und erklärte die diensthabenden Fluglotsen für persönlich verantwortlich.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Regelwidrige Pausen wurden bisher bei Skyguide, wie auch bei anderen Flugüberwachungsunternehmen, toleriert und sind ein Ergebnis der permanenten Überlastung der Fluglotsen. Nach Informationen der Schweizer Sonntagszeitung ist jede fünfte Lotsenstelle in der Alpenrepublik nicht besetzt. Grund: Sparmaßnahmen.

Skyguide, vormals Swisscontrol, gehört zu 99 Prozent der Schweiz, ist aber nichtsdestotrotz ein gewinnorientiertes Privatunternehmen wie die Deutsche Flugsicherung GmbH oder die britischen National Air Traffic Services, erklärt Die Zeit in ihrer jüngsten Ausgabe. Die beiden Schweizer Fluggesellschaften Swissair und Crossair hätten - so der Bericht - bevor sie sich zur neuen Swiss Air Lines zusammenschlossen, Skyguarde ausdrücklich zum Sparen aufgefordert.

1997 habe das Flugsicherungsunternehmen auf Grund von Einsparungen zeitweise sogar aufgehört Fluglotsen auszubilden und damit den gegenwärtigen Mangel an Fachkräften und deren Überlastung produziert.

Zweitens: Dem Fluglotsen, der über zwei Funkfrequenzen 5 Flüge zu überwachen hatte, stand in der Unfallnacht das sogenannte Kurzzeit-Kollisionsalarmsystem (Short Term Conflict Alert - STCA) nicht zur Verfügung. Aufgrund von Wartungsarbeiten an der Betriebssoftware war es um 23.00 Uhr abgeschaltet worden.

Dieses System ist für die Flugüberwachung sehr wichtig. Befinden sich Flugzeuge auf Kollisionskurs, erscheinen sie normalerweise auf dem Kontrollschirm rot blinkend, anstatt grün wie im Normalfall, und es ertönt ein akustisches Signal. Zwar kann der Lotse auch ohne dieses System arbeiten, weil auf den Radarschirmen Flughöhe und Fluggeschwindigkeit erscheinen und alle Fluglotsen speziell dafür ausgebildet werden, drohende Gefahrensituationen zu erkennen. Fakt ist jedoch, dass die Flugüberwachung ohne dieses System wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert und die Flugsicherheit bei geringsten Ablenkungen und Problemen stark reduziert ist.

Der Skyguide-Vorstand rechtfertigte die Abschaltung dieses Kollisionsalarmsystems mit dem Hinweis darauf, dass Wartungsarbeiten gerade für die Aufrechterhaltung der Flugsicherheit unvermeidbar seien. Was er allerdings nicht sagte, ist folgendes: Bei Skyguide funktioniert aus Kostengründen nur auf dem Hauptsystem ein vollwertiges STCA. Das bei Skyguide einzig vorhandene Backup-System (Reservesystem) übermittelt Kollisionswarnungen nicht an den Fluglotsen - wie in der Unglücksnacht geschehen. In anderen Ländern, wie etwa Frankreich, existieren vier Backup-Systeme, auf denen jeweils ein vollwertiges STCA einsatzbereit ist.

Das Backup-System, oder Reservesystem, das die Schweizer Skyguide bei Wartungsarbeiten verwendet, hat also einen wichtigen Mangel. Es macht keinen Farbunterschied zwischen normalen Flügen und Kollisionsflügen. Mit anderen Worten: Auch die Route von Flugzeugen, die sich auf Crashkurs befinden wird grün angezeigt.

Der Chef der Schweizer Behörde für Flugunfalluntersuchungen (BFU), Jean Overney machte Anfang vergangener Woche darauf aufmerksam, dass seine Behörde in einem Sicherheitsbericht erst vor kurzem gerade diesen Mangel beanstandet hatte.

Drittens: In der Katastrophennacht fanden zusätzlich zu den Wartungsarbeiten am Kollisionskontrollsystem Reparaturarbeiten am Telefonsystem von Skyguide statt. Drei von vier Telefonleitungen waren dadurch stillgelegt und es stand nur noch eine Notleitung zur Verfügung. Das erschwerte die Arbeit des diensthabenden Lotsen erheblich. So versuchte er minutenlang vergeblich mit dem Flughafen Friedrichshafen Kontakt aufzunehmen, um den Landeanflug einer anderen Maschine zu koordinieren.

In der nächstgelegenen Flugleitstelle UAC (Upper Area Control) in Karlsruhe 180 Kilometer nördlich von Zürich, schlugen alle Warnsysteme an, als sich die Tupolew und die DHL-Boeing auf Kollisionskurs befanden. Verzweifelt versuchten die Karlsruher Fluglotsen ihre Kollegen in Zürich zu erreichen und zu warnen, aber die Telefonleitung bei Skyguide war in den entscheidenden Minuten vor dem Crash blockiert.

Protokoll der Tragödie

Die bisher vorliegende Auswertung der Flugschreiber liefert ein Protokoll der Tragödie. 45 Sekunden vor dem Zusammenprall erhielt der russische Pilot von seinem Bordcomputer eine Warnung über den drohenden Zusammenstoß und die Anweisung nach oben auszuweichen. Der Boeing-Pilot bekam von seinem Antikollisionssystem die gleiche Warnung, allerdings mit dem entgegengesetzten Befehl, die Flughöhe zu reduzieren.

Nur 1 Sekunde später, also 44 Sekunden vor dem Zusammenprall, erteilte dann der Schweizer Fluglotse der Tupolew die entgegengesetzte Anweisung, anstatt nach oben, schnellstmöglich auf eine geringere Höhe auszuweichen. Angesichts der widersprüchlichen Anweisungen zögerte der Pilot. Er reagierte erst nach der zweiten, dringenden Aufforderung des Fluglotsen und begann 25 Sekunden vor der Kollision die Höhe der Tupolew zu reduzieren. Fatalerweise hatte die Boeing-Frachtmaschine zu diesem Zeitpunkt schon ihren Sinkflug eingeleitet, womit sich beide Maschinen wieder auf einer gemeinsamen Höhe befanden und zusammenstießen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweizer Flugsicherheit versagte. Erst vor gut einem halben Jahr, im November 2001, starben 24 Menschen als eine Maschine der Crossair beim Anflug auf Zürich an einem Berg zerschellte. Der Pilot hatte versucht im Sichtflug den Flughafen zu erreichen und hat dabei Fehler gemacht. Der Skyguide-Lotse, der den Anflug überwachte, hatte ihn offenbar aber auch nicht gewarnt.

Im Januar 2000 führte der Absturz einer anderen Crossair-Maschine zum Tod von zehn Passagieren. Der Pilot flog beim Start eine Rechts- statt einer Linkskurve und rammte die Maschine in den Boden. Noch läuft die Untersuchung dieses Unglücks, doch hatten auch hier die Fluglotsen den Piloten offenbar nicht gewarnt. Vier Monate später, im Mai 2000, führten Wartungsarbeiten an der Computeranlage von Skyguide zu einem Server-Ausfall, was eine Beinahekollision zweier Maschinen im Anflug auf Zürich zur Folge hatte.

Schon zwei Jahre früher, im Juni 1998, hatte ein ähnlicher Beinahezusammenstoß zu einer Sicherheitsuntersuchung geführt. In ihrem Bericht stellte die Flugsicherungsbehörde damals deutliche Mängel am Radarsystem in Zürich fest und sprach von "sicherheitsrelevanten Problemen". Mit anderen Worten: Die Probleme sind seit Jahren bekannt, doch aus Kostengründen wurden sie nur sehr unzureichend oder gar nicht behoben.

Bis heute fehlt in Zürich ein so genanntes Primäres Radarsystem. Skyguide verfügt nur über ein Sekundäres Radarsystem, das auf die Informationsübertragung von in den Flugzeugen eingebauten Transpondern angewiesen ist. Fallen diese Transponder aus oder werden sie abgeschaltet, befinden sich die Piloten praktisch im Blindflug. Die Anschaffung eines Primärradars wird deshalb schon seit langem von der BFU gefordert.

Es wäre aber falsch die Vernachlässigung der Flugsicherheit nur als Problem der Schweiz zu betrachten. Vielmehr wird hier, wie in einem Brennglas eine Entwicklung deutlich, die überall in Europa und weltweit stattfindet.

Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs

Spätestens seit Anfang der 90er Jahre werden im Namen der "Liberalisierung des Luftverkehrs" grundlegende Veränderungen in der europäischen Luftfahrt durchgeführt. Dreh- und Angelpunkt war dabei zunächst die Privatisierung der Fluggesellschaften, die zunehmend dem Überlebenskampf auf dem freien Markt ausgesetzt wurden, um sie insbesondere im Vergleich zu den beinahe zehn Jahre zuvor liberalisierten Flugmärkten und privatisierten Fluggesellschaften in den USA konkurrenzfähig zu machen.

Mit den Worten: "Mein Ziel ist es, Europa zu dem Ort zu machen, an dem unternehmerische Initiative weltweit am leichtesten zu entfalten ist", erklärte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi Anfang 2000 Brüssels Liberalisierungspolitik in den Bereichen Strom, Telekommunikation und Luftverkehr. Was darunter zu verstehen ist, wurde schnell sichtbar.

Seit mehreren Jahren stehen die europäischen Fluggesellschaften exemplarisch für Massenentlassungen, Lohnsenkungen, steigende Arbeitshetze und für spektakuläre Unternehmenszusammenbrüche wie bei der belgischen Sabena und Swissair im vergangenen Jahr.

In einem nächsten Schritt wurden und werden die Flughäfen und die Flugüberwachung in den Konkurrenzkampf der Airlines einbezogen, weil sie große Kostenfaktoren bilden. Damit ist direkt die Frage der Aufrechterhaltung der Flugsicherheit auf die Tagesordnung gerückt. Genau das hat die jüngste Katastrophe am Bodensee deutlich gezeigt. Bei hinreichender personeller Besetzung und technischer Ausstattung der Flugüberwachungsgesellschaft wäre es nicht zu diesem tragischen Unfall gekommen. Er war vollständig vermeidbar.

Doch die Liberalisierung des europäischen Luftraums wird beschleunigt vorangetrieben, wobei die notwendige Vereinheitlichung und Harmonisierung mit der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien verknüpft wird. Bis zum Jahre 2004 soll ein einheitlicher europäischer Luftraum (European Single Sky) geschaffen werden, um die tiefgehende rechtliche und technische Zersplitterung zu überwinden. Gegenwärtig arbeiten in Europa 49 Flugsicherungszentren im Rahmen von 31 nationalen Systemen mit Geräten von 18 verschiedenen Lieferanten. Die Computer verwenden 22 unterschiedliche Betriebssysteme und 30 Programmsprachen.

Anstatt aber die Verbesserung der Luftsicherheit ins Zentrum der Umstrukturierung zu stellen zielen die bisherigen Veränderungen bei den Flugüberwachungsunternehmen auf Kostensenkung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Marc Baumgartner, Präsident des Weltdachverbandes der Fluglotsengewerkschaften IFATCA, erklärte gegenüber der Presse, dass der "gestiegene kommerzielle Druck auf die Flugüberwachungsgesellschaften überall dazu geführt hat, dass schon seit Jahren zu wenig Fluglotsen ausgebildet und Investitionen in wichtige technische Geräte unterlassen werden. Europaweit fehlen 2000 Fluglotsen. Skyguide ist jedenfalls kein Einzelfall. Bei vielen Flugüberwachungen, wie z. B. der Deutschen Flugsicherung (DFS), werden viele Sachen nicht mehr gemacht, die man früher getan hat, als man sich noch im Staatsbesitz befand."

Zur Überlastung der Fluglotsen erklärte Baumgartner weiter: "Durch den kommerziellen Druck werden die Flugüberwachungsunternehmen versuchen billiger zu werden. Schwerpunkt sind dabei Personalausgaben, die 50-60 Prozent ihrer Betriebskosten ausmachen."

Angesichts des ständig steigenden Luftverkehrs in Europa, der jährlich um mehr als 5 Prozent zunimmt, droht das zu einem immer größeren Problem zu werden, denn die EU-Kommission setzt auf die Entfachung eines Konkurrenzkampfes zwischen den Flugüberwachungsunternehmen. In ersten Entwürfen für Durchführungsbestimmungen ist von "finanziellen Anreizen" für die "produktivsten Flugüberwacher" die Rede.

Streik der Fluglotsen

Am 19. Juni kam es deshalb in Frankreich zu einem eintägigen Streik der Fluglotsen, die vor drastisch sinkenden Sicherheitsstandards warnen. In einer Erklärung der Fluglotsengewerkschaft heißt es, dass keine der EU-Vorlagen Verbesserungen der Flugsicherheit vorsehen. Im Gegenteil: Es geht vornehmlich um zunehmenden Wettbewerb und mehr Druck auf die Fluglotsen.

Nicolas Hinchliffe von der Vereinigung der europäischen Fluglotsengewerkschaften ATCEUC, erklärte dem WSWS, wie gefährlich "ein System finanzieller Anreize" ist und warum die Fluglotsen mit ihrem Streik gerade auf die drohende Verschlechterung der Flugsicherheit aufmerksam machen wollten. Er sagte: "Flugsicherheit darf kein Geschäft werden. Genau das hat das Beispiel Skyguide jetzt wieder deutlich gemacht. Skyguide stand unter dem Druck der Airlines, Kosten zu senken. Die Vorschläge der EU-Kommission laufen in die gleiche Richtung, ein solches System dann aber europaweit einzuführen."

Die geplanten neuen europaweiten Flugkorridore sollen zwar die Flugleitung durch einen einzigen Fluglotsen ermöglichen, womit Übergaben an den Randzonen entfallen würden. Die Flugleitung soll aber nur vom "produktivsten", d. h. vom billigsten Flugleitzentrum aus erfolgen.

Zu welch chaotischen und gefährlichen Verhältnissen das führen wird, zeigt das Beispiel Großbritannien. Dort wurde die nationale Flugsicherung NATS vor 8 Monaten privatisiert. Seit dem stiegen nicht nur die Verspätungen deutlich an - 50 Prozent aller Verspätungen in Europa werden auf der Insel registriert. Schlimmer aber ist, dass es seit Beginn der Privatisierung Ende vergangenen Jahres bereits 44 Beinahezusammenstöße gegeben hat. Die NATS befindet sich jetzt zu 49 Prozent im Besitz von Fluggesellschaften, die wie Hinchliffe formulierte, "völlig entgegengesetzte Interessen haben als die Fluglotsen" und den "Auftrag erteilen, für weit weniger Kosten mehr zu leisten" (Baumgartner).

Während an der Absturzstelle am Bodensee noch immer Blumen und Kränze niedergelegt werden und in der russischen Teilrepublik Baschkortostan Staatstrauer angeordnet wurde, lesen sich die Einzelheiten über die Unfallursache wie eine Anklage gegen ein System, in dem Menschenleben rücksichtslos den Profitinteressen untergeordnet werden.

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