Tödliche Arbeitsbedingungen in ukrainischen Bergwerken

35 Bergleute qualvoll erstickt

In der Nacht zum 7. Juli brach im Kohlebergwerk "Ukraina", nicht weit entfernt von der Stadt Selidowo, untertage ein Feuer aus, bei dem 35 Bergleute ums Leben kamen. Die Kumpel wurden in 700 Meter Tiefe vom Feuer eingeschlossen bzw. erstickten im Förderkorb auf dem Weg nach oben.

Nach aktuellen Erkenntnissen entzündete sich Kohlenstaub an einem defekten Förderband. Als das Feuer ausbrach, befanden sich 114 Bergleute in dem betroffenen Schachtabschnitt. 79 konnten sich aus eigener Kraft an die Erdoberfläche retten, von denen zwei mit Brandverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Einer der beiden erlag eine Woche später seinen schweren Verbrennungen.

Die meisten der Bergleute waren gerade erst um die 25 Jahre alt. Einer allerdings war bereits im 72. Lebensjahr, was ein bezeichnendes Licht auf die sozialen Verhältnisse wirft. Fernsehbilder zeigten geschockte und weinende Frauen, als die Toten geborgen wurden. Drei führende Manager wurden zwei Tage nach dem Unfall in Untersuchungshaft genommen und wegen Vernachlässigung und Verstoßes gegen Sicherheitsbestimmungen angeklagt.

Dieses tragische Unglück macht ein weiteres Mal deutlich, welches Ausmaß die soziale Krise in diesem Land angenommen hat. Die herrschende Schicht ehemaliger Sowjetbürokraten und junger Neuaufsteiger, die Schulter an Schulter mit Weltbank und Währungsfonds dieses arme Land auspressen, ziehen ihren Reichtum direkt aus dem Tod von Arbeitern und der breiten Mehrheit der Bevölkerung.

Ablauf und Umstände des jüngsten Unglücks spiegeln die Bedingungen der ukrainischen Bergarbeiter aufs dramatischste wieder, unter denen sie tagtäglich bei geringster Bezahlung ihr Leben riskieren. Es zeigt den Zynismus und die Selbstgefälligkeit der Herrschenden in Unternehmen und Politik, die den Tod der Bergarbeiter direkt in ihren Planungen und Berechnungen einkalkulieren. Weder unternehmen sie etwas, um die mit veralteter Technik laufenden Zechen zu schließen und anderweitig Arbeitsplätze zu schaffen, noch stellen sie Gelder bereit, um die Zechen sicherheitstechnisch so zu modernisieren, dass keine Menschenleben gefährdet sind.

Trotz frühzeitiger Informationen über Rauchentwicklung untertage wurde von dem diensthabenden Schichtleiter angeordnet, mit der Abfahrt von 56 Bergarbeitern in den Schacht fortzufahren, die zu dieser Zeit mit ihrer Schicht beginnen sollten. Erst nachdem die Information über das Feuer bestätigt wurde, rief er die Rettungsbrigaden zum Einsatz. Darüber hinaus ließ er die Ventilation umkehren, d. h. statt Luft in den Schacht zu drücken, wurde sie nun herausgesaugt. Ein Ingenieur warnte davor, dass damit die Arbeiter, die sich im Schacht befinden, dem Rauch ausgesetzt würden, was dann auch tatsächlich geschah. Alle 30 Bergleute, die sich gerade in einem Förderkorb auf dem Weg an die Oberfläche befanden und vier weitere, die unten auf den nächsten Aufzug warteten, erstickten qualvoll.

Mykola Shamoto, Vorarbeiter einer 16-Mann-Brigade, von der nur drei überlebten, sagte in einem Interview, dass die Bergleute starben, weil die Grubenleitung weder die notwendigen technischen Sicherheitsvorkehrungen in dem veralteten Bergwerk getroffen habe, noch für die Ausbildung in angemessenen Verhaltensregeln in derartigen Situationen gesorgt habe.

Wie die vorliegenden Untersuchungen deutlich zeigen, sind die 35 Bergleute tatsächlich einer ganzen Reihe von groben Fahrlässigkeiten zum Opfer gefallen, die bei heutigem Stand von Technik und Wissen längst der Vergangenheit angehören sollten. Erstens hätte bei einer halbwegs regelmäßigen Wartung der Fördertechnik der Defekt an dem Fließband frühzeitig bemerkt und behoben werden können. Zweitens hätte dieser zunächst recht kleine Brand leicht mit Handfeuerlöschgeräten gelöscht werden können - wären sie vorhanden gewesen.

Drittens stellte sich heraus, dass nur noch einer der Förderkörbe funktionierte, weil sich bei den restlichen die Aufzugführer schon in Sicherheit gebracht hatten. Viertens brachte dieses Unglück das Fehlen jeglicher Ausbildung der Belegschaft in grundlegenden Verhaltensregeln bei solchen Gefahrensituationen ans Licht.

In einer ersten Reaktion von Geschäftsleitung und zuständiger Gewerkschaft wurden sofort die Arbeiter selbst für ihren Tod verantwortlich gemacht. Wiktor Wernikowskij, Gewerkschaftsvorsitzender in Selidowo, behauptete, die Bergarbeiter hätten ihre Atemschutzgeräte "vernachlässigt" und außerdem "hätten sie nicht schnell genug reagiert".

Dabei wurde unterstellt, dass die Bergarbeiter angeblich gerade erst neue Atemschutzgeräte erhalten und dass diese sie vor dem sicheren Tod bewahrt hätten. Beides ist gelogen. Die verunglückten Bergleute trugen keine Atemschutzgeräte, weil die völlig veralteten Geräte schon seit langem nicht mehr funktionstüchtig waren und die Grubenleitung versprochene neue Geräte noch nicht verteilt hatte.

Auch die vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission unter Leitung von Vizepremier Oleg Dubina gab sofort den Arbeitern die Schuld. Am Mittwoch sagte Dubina voller Verachtung, "dass man das Feuer mit zwei Eimern Wasser hätte löschen können, doch die Arbeiter haben ihre Plätze im Schacht einfach verlassen".

Kein Einzelfall

Im ukrainischen Steinkohlenbergbau wird eine besonders makabere Statistik geführt: "Sie hat nichts mit Förderkosten, Preisen, also der Rentabilität der Zechen zu tun, sondern handelt von dem Material ‚Mensch‘", wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt. Dieser Statistik zufolge kostete die Förderung von 1 Million Tonnen Kohle im Jahr 1989 durchschnittlich 1,54 Bergleuten das Leben. 1999 - also nach zehn Jahren kapitalistischer Reformen - mussten 3,62 Arbeiter mit dem Leben bezahlen, während es allein in den ersten Monaten diesen Jahres schon 5 Tote für jede Million Tonnen Kohle sind.

Von den heute noch 209 betriebenen Zechen, in denen fast eine halbe Million Arbeiter beschäftigt sind, werden 75 Prozent in die höchste Gefahrenstufe eingeordnet. So starben seit der Unabhängigkeit der Ukraine vor elf Jahren mehr als 3700 Bergleute an Stickgasexplosionen, Einstürzen, Kurzschlüssen oder der Entzündung von Kohlenstaub. Die Ukraine steht nach China auf Platz 2 der Liste der Länder mit der höchsten Todesrate bei Bergarbeitern.

In 160 Gruben wurden seit mehr als zwanzig Jahren keine Erneuerungen oder Modernisierungen durchgeführt, obwohl entsprechende Bergbaureformpläne und Sicherheitsvorschriften existieren. Fast 50 Gruben sind über 100 Jahre alt. In 45 der Gruben wird seit 45 Jahren gefördert. Untertage brechen Stollen ein, weil die Stützpfosten vermodern. Bergleute ersticken im Schacht, weil die Ventilatoren ausfallen. Stromkabel liegen offen und entzünden sich. Stauerstofftanks funktionieren nicht. Schienenfahrzeuge brechen zusammen, da die Räder verrostet sind oder Metallwinden zerreißen.

Gaseintritte bleiben unbemerkt, weil keine Sensoren vorhanden sind. Sind Sensoren vorhanden, so ein Bergarbeiter gegenüber einem Fernsehteam der BBC, wird die rote Kontrolllampe, wenn sie bei Gasausbruch Alarm schlägt, in vielen Fällen einfach ausgeschaltet - jede Unterbrechung der Arbeit, egal warum, wird den Arbeitern nämlich direkt vom Gehalt abgezogen. Die Alternative lautet also: Sicherheit oder Lohn.

Hinzu kommt, dass viele der älteren und erfahreneren Arbeiter ihren Beruf aufgeben, weil sie sich dem enorm gestiegenen Arbeitsdruck nicht mehr gewachsen sehen. Junge unerfahrene und schlecht ausgebildete Arbeiter rücken nach, womit angesichts der fehlenden theoretischen Ausbildung die Professionalität der Beschäftigten immer weiter zurückgeht.

Im Zentrum des ukrainischen Steinkohlebergbaus, dem Donezbecken oder auch Donbass genannt, das sich in der Ostukraine nahe der russischen Grenze befindet und in dem die Städte Donezk und Lugansk liegen, führten diese Bedingungen zu einer ganzen Reihe tragischer Unglücke, bei denen nur im letzten Jahr insgesamt über 300 Bergleute ums Leben kamen.

Der bisher schwerste Unfall ereignete sich im März 2000 im Barakowa-Werk in Lugansk, als 80 Bergarbeiter ihr Leben verloren. Letzten August starben 55 Arbeiter bei einer Methangasexplosion in Donezk in der Zasiadko-Mine. Das staatliche Arbeiter-Sicherheitskomitee berichtete, dass im ersten Halbjahr dieses Jahres im Donbass schon 116 Bergarbeiter tödlich verunglückten, zu denen nun die 35 Opfer von Selidowo hinzugezählt werden müssen. Mit der traurigen Bilanz von 300 Toten wird wohl auch in diesem Jahr wieder zu rechnen sein.

Die rücksichtslose Ausbeutung der Steinkohlenindustrie ist in der sonst an Energievorräten recht armen Ukraine für die herrschende Schicht eines der wichtigsten Mittel, die Funktions- und Zahlungsfähigkeit des hochverschuldeten Landes zumindest auf einem gewissen Minimum aufrechtzuerhalten. Das Land hat dabei nicht nur gegenüber dem Westen Schulden, sondern auch gegenüber Russland, von dem die Ukraine Erdöl und Erdgas bezieht.

Obwohl Arbeitsbedingungen und Produktivität bei der Kohlegewinnung katastrophal sind, wird mit dem stillschweigenden Einverständnis der internationalen Finanzinstitutionen an der gegenwärtigen Funktionsweise dieses Sektors festgehalten - direkt auf Kosten von Gesundheit und Lebensniveau der Bergarbeiter.

Die Weltbank stellte der ukrainischen Regierung "zwischen 1996 bis 2000 Kredite in Höhe von 300 Millionen Dollar für die Sanierung der Schwerindustrie" zur Verfügung. Doch die Gelder "versickerten fast vollständig in der ukrainischen Korruption", d. h. die Weltbank finanziert mit diesen Geldern direkt eine Schicht von Schmarotzern aus Beamten und Geschäftsleitungen die sich auf Kosten der Arbeiter hemmungslos bereichern.

Vergleicht man die Produktivität der Ukraine mit anderen Ländern, so wird sehr deutlich, dass die Arbeiter für den Unterschied aufkommen müssen. In ukrainischen Bergwerken produziert ein Arbeiter 100 Tonnen Kohle pro Jahr, in Polen sind es 400 Tonnen und in amerikanischen Bergwerken 4000 Tonnen Kohle. Um also unter den Weltmarktpreisen für Kohle zu bleiben, wird kräftig bei den Arbeits- und Sicherheitsbedingungen eingespart.

Ein Bergarbeiter verdient durchschnittlich 100 Dollar pro Monat - wenn er sie überhaupt bekommt. Nach Schätzungen der Unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter stehen zurzeit Löhne in Höhe von 377 Millionen Dollar aus.

Für die Unternehmer und Staatsbeamten erfüllen die Gruben in der Ukraine eine wichtige Funktion. Sie sparen der Eisenindustrie und bei der Stromversorgung Devisen für den Erwerb von Energieressourcen auf dem Weltmarkt. Für die Arbeiter sind die Bergwerke oft die einzige Überlebenschance für sich und ihre Familien, denn bei einem Durchschnittslohn von 35 Dollar pro Monat verdient ein Bergmann noch vergleichsweise gut. Selbst wenn keine Löhne bezahlt werden, erhalten die Arbeiter wenigsten einmal am Tag eine warme Malzeit und auch die ärztliche Versorgung läuft über die Betriebe.

Gezielt an die Öffentlichkeit gebrachte Erwägungen, über 100 Gruben zu schließen, wie auch die ständig steigenden Lohnrückstände lösen unter breiten Teilen der Arbeiter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aber auch Widerstand aus.

Immer wieder kommt es zu spontanen Protesten und Demonstrationen. Viele Arbeiter greifen als "letztes Mittel" zum Hungerstreik. Drei Arbeiter haben dabei in den vergangenen Monaten schon ihr Leben verloren. Der letzte starb im April dieses Jahres in Lugansk. Er war 68 Jahre alt.

Seit dem 4. Juni führen in der Hauptstadt Kiew vor dem Parlament ständig ein Dutzend Streikposten von der Miusinska-Zeche aus Lugansk eine Mahnwache durch. Sie vertreten weitere 88 Bergarbeiter, die sich seit dem 2. Juli im Hungerstreik befinden. Am Dienstag demonstrierten 100 weitere Kollegen aus Lugansk für die Zahlung ihrer Monatsgehälter und bessere Arbeitsbedingungen. Vergangene Woche stießen 50 Rentner dazu, die ihre Rentenzahlung einforderten.

Den Bergarbeitern wurde in manchen Fällen bis zu einem Jahr kein Lohn oder andere Sozialleistungen gezahlt. Allein der bestreikte Konzern aus dem Donbass schuldet den Arbeitern 17,35 Millionen Dollar. Am 10. Juli erklärte der ukrainische Finanzminister Igor Juschko, dass die Arbeiter am Ende der Woche einen Teil der ausstehenden Löhne überwiesen bekämen. Doch derartige Versprechen hörten die Arbeiter bereits öfter und ließen sich nicht beruhigem. Sie stehen weiterhin vorm Parlament. Drei der Hungerstreikenden sind mittlerweile ins Krankenhaus gebracht worden.

Siehe auch:
Ukraine: 10 Jahre Unabhängigkeit - eine soziale Katastrophe
(24. August 2001)
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