Der Krieg in Afghanistan und die Krise der politischen Herrschaft in Amerika

Teil 2 ( )

Wir veröffentlichen an dieser Stelle den zweiten Teil eines Vortrags, den Barry Grey am 18. Januar 2002 auf einem Seminar der World Socialist Web Site in Sydney gehalten hat. Barry Grey ist Mitglied der Redaktion des WSWS. Der erste Teil seiner Ausführungen erschien am 14. März in deutscher Sprache, der dritte und vierte Teil folgen in Kürze.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Skandal im Zusammenhang mit der Enron-Pleite die Stabilität der Bush-Regierung erschüttern wird. Bisher haben sich die liberale Presse und die Demokraten zwar nach Kräften bemüht, Bush gegen die Folgen des Enron-Debakels abzuschirmen, doch diese Krise hat tiefe objektive Wurzeln, und möglicherweise wird die Regierung Bush auch durch die angestrengteste Zurückhaltung der loyalen Opposition nicht zu retten sein.

Wie dem auch sei, die Enron-Krise illustriert einen sehr wichtigen Aspekt der Ereignisse des 11. Septembers und ihrer Folgen. In dem Vortrag, den ich hier vor einem Jahr hielt [Die weltgeschichtliche Bedeutung der politischen Krise in den Vereinigten Staaten], versuchte ich aus einem historischen Blickwinkel aufzuzeigen, dass der Verfall der amerikanischen Demokratie, in dem die Wahlen des Jahres 2000 einen qualitativen Einschnitt kennzeichneten, nicht aus der Stärke des amerikanischen Kapitalismus herrührte, sondern aus seiner geschwächten Stellung auf Weltebene. Der Rückgang der wirtschaftlichen Vormachtstellung des US-Kapitalismus brachte in konzentrierter Form die zunehmende Krise und die wachsenden Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems zum Ausdruck.

Was war die zentrale Aussage dieser Analyse? In der Periode seines Aufstiegs zur industriellen und finanziellen Großmacht im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und in der Periode seiner wirtschaftlichen Hegemonie, die in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg fiel, begegnete der amerikanische Kapitalismus politischen und sozialen Krisen im Großen und Ganzen mit einer Ausweitung der Verfassungsrechte und mit einer Ausdehnung der politischen Demokratie. Natürlich kam es neben solchen Maßnahmen auch zu brutaler Repression und Gewalt, sobald die herrschende Klasse ihre Macht als unmittelbar bedroht empfand. Die formale Ausweitung demokratischer Rechte ging außerdem Hand in Hand mit ständigen brutalen Übergriffen der Polizei und mit schweren wirtschaftlichen Härten für Dutzende Millionen Amerikaner. Trotzdem hatten Reformen wie die Einführung des Frauenwahlrechts, die Wahl der Senatoren durch die Bevölkerung, die neuen Bürgerrechtsverordnungen der sechziger Jahre und die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre einen progressiven, demokratischen Inhalt.

Dieser Trend kam in den siebziger Jahren zu einem abrupten Stillstand. Der Hintergrund war der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, die Aufhebung der Goldbindung des Dollars und die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme, die der herrschenden Klasse in den folgenden Jahren praktisch von allen Seiten zusetzten. Je weiter die imperialistischen Rivalen in Europa und Asien in die amerikanischen Märkte - nicht nur im Ausland, sondern auch in den USA selbst - vordrangen, desto offener wurden in Amerika die demokratischen Rechte der amerikanischen Arbeiterklasse angegriffen. Diese Angriffe im Inland gingen einher mit einer raffgierigen Sozial- und Wirtschaftspolitik, mit der das Nationaleinkommen von den Massen auf die Eliten umverteilt wurde. So entstand eine neue wirtschaftliche Ungleichheit, und die gesellschaftlichen Grundlagen der bürgerlich-demokratischen Institutionen wurden unterhöhlt.

Diese Tendenzen brachten die wachsende Krise der bürgerlichen Herrschaft in Amerika zum Ausdruck. Meiner Ansicht nach hat diese Krise mit der Bush-Regierung eine bislang einmalige Intensität erreicht. Diese Einschätzung ergibt sich aus der Entwicklung dieser Regierung von ihrem Antritt bis zu den Ereignissen vom 11. September.

Ein Krisenregime

Innen- und Außenpolitik einer Regierung hängen untrennbar zusammen und bedingen sich gegenseitig. Im Rahmen dieser zusammenfassenden Analyse möchte ich beide Aspekte jedoch getrennt betrachten und mich zunächst den innenpolitischen Fragen und Ereignissen zuwenden.

Die ersten acht Monate der Bush-Regierung waren gänzlich von dem Zusammenbruch des aufgeblähten Aktienmarktes, von ersten Massenentlassungen und dem Einsetzen einer Rezession geprägt. Erschwerend kam hinzu, dass es sich um eine weltweite Rezession handelte. Zum ersten Mal seit Mitte der siebziger Jahre setzte in den USA, Europa und Japan - eigentlich in fast allen Teilen der Welt - gleichzeitig ein wirtschaftlicher Abschwung ein.

Der Einbruch der Aktienkurse vernichtete den Haushaltsüberschuss und strafte alle Behauptungen Lügen, mit denen Bush in seiner Ansprache zur Lage der Nation im Februar 2001 seine massiven Steuererleichterungen für die Reichen gerechtfertigt hatte. Ich weiß nicht, ob diese Rede auch in Australien gezeigt wurde. Bush wies jedenfalls mit einem Zeigestock auf eine Graphik, die zeigte, dass die Bundeskasse bis zum Rand gefüllt war und dass selbst bei riesigen Steuergeschenken an die Multimillionäre immer noch genügend Geld für die Sozialhilfe und das Gesundheitswesen vorhanden wäre. Kein Grund zur Besorgnis!

Doch im Frühsommer 2001 war von dem Überschuss schon fast nichts mehr übrig, und die Vertreter der Bush-Regierung mussten zugeben, dass sie ihr Versprechen, die Rücklagen für Sozialhilfezahlungen nicht anzutasten, nicht einhalten konnten. In Wirklichkeit griffen sie auf den Sozialhilfefonds zurück, um die Steuergeschenke an die Reichen zu finanzieren.

Das Ausmaß der Verluste an den Börsen und die Vernichtung von Papierwerten war nahezu unvorstellbar. Die Gesamtsumme der Verluste an den New Yorker Börsen belief sich auf rund 5 Billionen Dollar. Dies war die Hauptursache dafür, dass Einkommen und Vermögen der amerikanischen Verbraucherhaushalte im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit Beginn der amtlichen Statistik im Jahr 1945 auch inflationsbereinigt zurückgingen.

Man gewinnt eine Vorstellung davon, in welchem Maße das Einkommen der Durchschnittsbevölkerung in den USA inzwischen von der Börse abhängt, wenn man weiß, dass Schätzungen zufolge mehr als 60 Prozent des Vermögens von Privathaushalten in den USA an der Börse untergebracht sind - diese Zahl stammt allerdings aus der Zeit vor dem Kursverfall. Die Kursverluste hatten verheerende Auswirkungen auf die Pensionsfonds, deren Einlagen zu drei Vierteln an der Börse investiert werden.

Verschlimmert werden die Verluste der Pensionsanlagen und der individuellen Investitionen durch die beispiellose Verschuldung der arbeitenden Bevölkerung. Die Verschuldung der privaten Haushalte in den USA hat sich seit 1990 auf 7,5 Billionen Dollar verdoppelt. Das sind mehr als 50.000 Dollar pro Haushalt bzw. mehr als 25.000 Dollar pro Mann, Frau oder Kind in Amerika.

Die Schulden der amerikanischen Durchschnittsfamilie übersteigen heute ihr Nettoeinkommen. Außerdem sind sie ungleichmäßig verteilt - nämlich genau entgegengesetzt der Einkommensverteilung. Die obersten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr als 70 Prozent des Nationalvermögens, während die unteren 90 Prozent der Bevölkerung über weniger als 30 Prozent des nationalen Gesamtvermögens verfügen, dafür aber 70 Prozent der Verschuldung aller privaten Haushalte auf sich vereinen.

Auch die Unternehmensverschuldung ist höher als je zuvor. Während des Booms der neunziger Jahre nahm diese Verschuldung nicht ab, sondern wuchs eher noch, wie es für einen langen Aufschwung des Konjunkturzyklus typisch ist. In diesem Boom gaben die Unternehmen keine Aktien aus, um an Kapital zu kommen, weil sie fürchteten, auf diese Weise die Kurse zu senken und die Aktionäre zu verprellen. Statt dessen nahmen sie Kredite auf, um ihre eigenen Aktien zu kaufen und damit deren Preis zu treiben.

Auf die hereinbrechende Rezession reagierte die amerikanische Wirtschaft mit einer neuen Welle von Massenentlassungen. Ende 2001 waren innerhalb eines Jahres etwa zwei Millionen Arbeitsplätze vernichtet worden. Die Rücklagen für die Altersvorsorge schrumpften zusammen. Obdachlosigkeit und Hunger griffen rasch um sich. Die Illusionen breiter Bevölkerungsschichten über den kapitalistischen Markt zerschlugen sich, was für die Bush-Regierung und die herrschende Elite als Ganze nicht weniger bedeutsame Auswirkungen hatte als die materiellen Folgen der Krise.

Um die extremen sozialen Widersprüche zu verstehen, die in den Anfangsmonaten von Bushs Amtszeit durch die einsetzende Rezession verstärkt wurden, muss man sich bestimmte Aspekte des amerikanischen Lebens vor Augen führen. Der erste und wichtigste ist die Zunahme der sozialen Ungleichheit.

Aus einem Bericht, den die Haushaltsabteilung des Kongresses im vergangenen Jahr veröffentlichte, geht hervor, dass das Einkommen einer durchschnittlichen Familie in den USA von 41.400 Dollar im Jahr 1979 auf 45.100 Dollar im Jahr 1997 stieg. Das entspricht einem Anstieg von 9 Prozent innerhalb dieser 18 Jahre. Im selben Zeitraum stieg das Einkommen der Familien, die dem oberen einen Prozent der sozialen Pyramide angehören, von 420.000 Dollar auf 1,016 Millionen, ein Anstieg um 140 Prozent. Das Einkommen dieses obersten Prozents war 1979 zehn Mal so hoch wie das der Durchschnittsfamilie und 1997 bereits 23 Mal so hoch.

Eine weitere Begleiterscheinung desselben Trends sind die Managergehälter. Am 2. Mai des letzten Jahres veröffentlichten wir einen Artikel unter der Überschrift: "US-Top-Manager setzen ihre Bereicherungsorgie trotz sinkender Unternehmensgewinne fort". Darin hieß es:

"Die Spitzenkräfte von amerikanischen Großunternehmen haben im Jahr 2000 erhebliche Steigerungen ihres Gehalts, ihrer Zulagen und ihrer Aktienoptionen durchgesetzt, obwohl infolge des wirtschaftlichen Abschwungs die Aktienkurse sanken, die Zahl der Entlassungen zunahm und die Gewinne in den Keller sackten. Während der typische, nach Stunden bezahlte Arbeitnehmer im Jahr 2000 eine Entgelterhöhung von 3 Prozent verzeichnete, erhielt der Leiter eines Großunternehmens durchschnittlich eine Erhöhung von 22 Prozent... Die anhaltende Zunahme der Gehälter für Spitzenkräfte widerlegt die Argumentation, mit der in jüngster Zeit diese horrende Verschwendung gesellschaftlicher Mittel gerechtfertigt wurde - dass nämlich die übertriebenen Gehälter als Anreiz wirken würden, die Leistung des Unternehmens zu steigern. In vielen Fällen werden die Spitzenkräfte fürstlich entlohnt, während unter ihrer Regie der Wert ihrer Unternehmen an der Börse deutlich zurückgeht.

Ein Beispiel: William Esrey, CEO der amerikanischen Telefongesellschaft Sprint, erhielt letztes Jahr 53 Millionen Dollar in bar und in Aktien, obwohl der Wert des Unternehmens an der Börse um 70 Prozent sank. Dennis Kowalski von Tyco International sackte letztes Jahr 125 Millionen Dollar netto ein, während der Aktienkurs seines Unternehmens um 24 Prozent sank.... Aus einem Exklusivbericht der New York Times vom 1. April geht hervor, dass die Gehälter und Zulagen der Unternehmensführer zunahmen, während der typische Investor im vergangenen Jahr 12 Prozent seiner Anlagewerte einbüßte, wenn man vom Marktindex Wilshire ausgeht. Gleichzeitig stiegen die Gewinne der Unternehmen, die von Standard und Poor's erfasst werden, weniger als halb so schnell wie in den neunziger Jahren'."

Der Artikel nannte ein weiteres Beispiel für das Parasitentum und die Kriminalität, die sich in den Chefetagen der amerikanischen Konzerne ausbreiten: "Es wurde unter anderem auf das Beispiel des Finanzjongleurs David Rickey verwiesen. Er ist Geschäftsführer von Applied Micro Circuits. Als der Aktienkurs seines Unternehmens im Jahr 2000 rapide sank, verkaufte Rickey seine Anteile so schnell wie möglich. Von Juli 2000 bis März 2001 stieß er 800.000 Aktien ab, das entsprach 99 Prozent seiner Anteile. Dafür strich er etwa 170 Millionen Dollar ein. Gleichzeitig sanken die Aktienpreise von 100 auf nur 29 Dollar pro Stück. Unterdessen drängte Rickey unbedarfte Investoren zum Kauf. ‚Was das Unternehmen angeht, so kommandiere ich die Leute herum‘, erklärte er gegenüber einem Interviewer des Fernsehsenders CNBC."

Dutzende Millionen abhängig Beschäftigter mussten zusehen, wie sich die Konzernelite inmitten von Massenentlassungen und wachsendem sozialem Elend ihrer Raffgier hingab. Dabei bekamen sie außerdem die Folgen der Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme zu spüren, die während der vorangegangenen zwei Jahrzehnte demontiert worden waren. Um einen Eindruck von der Größenordnung der Kürzungen bei den staatlichen Sozialleistungen zu gewinnen, muss man wissen, dass nicht einmal jeder dritte Arbeitslose in den USA heute noch irgendeine Unterstützung erhält. Nur 18 Prozent der gering Entlohnten erhalten Unterstützung, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, und nur 12 Prozent der Teilzeitbeschäftigten.

Die Rezession trieb nicht nur die Arbeitslosenrate in die Höhe, sondern brachte auch eine Realität ans Tageslicht, die während der ausgesprochen niedrigen offiziellen Arbeitslosigkeit während des Booms der neunziger Jahre im Verborgenen geblieben war: die enorme Zunahme der "working poor" - der Menschen, die arm sind, obwohl sie Arbeit haben. Die amtlichen Arbeitslosenzahlen verdecken eine ungeheure Zunahme der Teilzeitarbeit und des Einsatzes von vorübergehend, auf Tagesbasis oder in Scheinselbständigkeit Beschäftigten. Insgesamt macht diese Kategorie inzwischen mehr als 29 Prozent aller Arbeitnehmer in den USA aus, d. h. rund 34 Millionen.

Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass mehr als 70 Prozent der neuen Arbeitsverhältnisse, die in den neunziger Jahren geschaffen wurden, so gering entlohnt wurden, dass man nicht davon leben konnte.

Verschärfend kommt die Befristung von Sozialleistungen auf fünf Jahre hinzu. Die ersten fünf Jahre seit Verabschiedung dieser Regelung, die auf Clintons sogenannte Sozialreform zurückgehen, sind inzwischen verstrichen. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen stehen daher vor dem Nichts. Sie haben keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz oder auf staatliche Unterstützung.

Als sich die wirtschaftliche Lage in den ersten Monaten nach Bushs Amtsantritt verschlechterte, wurde für jeden sichtbar, dass diese Regierung keine Lösung für die zunehmende soziale Krise hatte. Ihre einzige Innenpolitik bestand darin, immer neue Steuererleichterungen für die Reichen zu verabschieden und die staatlichen Auflagen für die Großunternehmen immer weiter abzubauen - und dies ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als breite Schichten der Bevölkerung die Selbstheilungskräfte des Marktes, die in den vorigen zwei Jahrzehnten allenthalben gepredigt worden waren, als Betrug erkannten.

Die sich rasch vertiefende Wirtschaftskrise und die extrem schmale soziale Basis der Regierung - einer Regierung, die sich überdies durch die antidemokratischen Methoden ihrer Machtübernahme unbeliebt gemacht hatte - bildeten eine explosive Mischung, die sich früher oder später in sozialen und politischen Unruhen entladen musste, wie man sie seit den sechziger Jahren, oder sogar seit der Großen Depression der dreißiger Jahre nicht mehr erlebt hatte.

Die explosiven Implikationen der ökonomischen und politischen Krise kamen Mitte April, weniger als drei Monate nach Bushs Regierungsübernahme, in der Anfangsphase der Rezession bereits offen zum Ausdruck. Drei Tage und drei Nächte lang wurde die Stadt Cincinnati (Ohio) von Unruhen erschüttert, nachdem ein Polizist einen schwarzen Jugendlichen getötet hatte. Das Kriegsrecht wurde verhängt und die Stadt von der Nationalgarde besetzt. Es waren die größten Unruhen in den USA seit den Erschütterungen in Los Angeles von 1992.

Zur gleichen Zeit steuerte eine Energieversorgungskrise in Kalifornien auf ihren Höhepunkt zu. Sie war ein Ergebnis der Deregulierung der Strom- und Gasmärkte. Energiehändler, allen voran Enron, hatten die Verbraucherpreise für Strom und Gas in die Höhe getrieben und damit ein Vermögen verdient, während die großen Versorgungsfirmen in den Bankrott getrieben wurden und die Verbraucher - industrielle wie private - über Nacht mit schwindelerregenden Preiserhöhungen und einer verschlechterten Versorgung konfrontiert waren. Kalifornien ist der bevölkerungsreichste Bundesstaat der USA. Wenn es ein eigener Nationalstaat wäre, dann würde seine Wirtschaft zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt zählen. Und nun kam es in diesem Bundesstaat zu ständigen Stromausfällen, die teilweise ganze Industrien stilllegten und Tausende Familien schädigten.

Die Reaktion der Bush-Regierung bestand darin, dass sie sich ebenso wie Enron gegen staatliche Preisbeschränkungen für Strom und Gas aussprach. Man schob die Schuld auf den Gouverneur von Kalifornien, einen Demokraten, der ein Deregulierungsprogramm umgesetzt habe, das den Energiespekulanten nicht hinreichend freie Hand gelassen habe.

Ende Mai trat der aus Vermont stammende James Jeffords, einer der letzten gemäßigten Republikaner im Senat, aus Protest gegen die extrem rechte Sozialpolitik der Bush-Regierung aus der Republikanischen Partei aus. Er erklärte sich zwar zum parteilosen Abgeordneten, doch das Ergebnis war dennoch, dass nun die Demokraten die Mehrheit im Oberhaus des Kongresses erhielten, wo zuvor eine Patt-Situation zwischen beiden Parteien geherrscht hatte.

Jeffords war seit langen Jahren Senator gewesen und genoss im politischen Establishment großes Ansehen. Sein Schritt war nicht von ausschließlich individueller Bedeutung, sondern widerspiegelte äußerst scharfe innen- und außenpolitische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der herrschenden Kreise, die sowohl Bushs Innen- als auch seine Außenpolitik betrafen. Wie wir damals erklärten, versuchte Jeffords, der Bush-Regierung eine Kurskorrektur aufzuzwingen. Er wollte die Demokraten stärken, um Bush zu zügeln und um eine schwelende Krise einzugrenzen, die das Weiße Haus zu lähmen drohte.

Ein aufmerksamer Beobachter der Vorgänge in Washington, David Ignatius von der Washington Post, schrieb am 27. Mai: "Jeffords Fahnenflucht verwandelte die USA vorübergehend in eine parlamentarische Demokratie. Sein Verhalten entsprach einem Misstrauensvotum und zerstörte das konservative ‚Mandat', das die Republikaner für sich beansprucht hatten - in Verkennung der Tatsache, dass ihr Kandidat bei den Wahlen im vergangenen November nicht die Mehrheit der Bevölkerung für sich gewonnen hatte."

Die Regierungskrise, die hinter den Kulissen schwelte, wurde im Juli sichtbar, als die New York Times in allen Einzelheiten berichtete, wie die Militärführung im November und Dezember 2000 mit Bushs Wahlkampftruppe zusammengearbeitet hatte, um den Wahlsieg in Florida widerrechtlich für sich zu reklamieren. Der Artikel zeigte auf, wie Vertreter der Armee auf dem Höhepunkt des Streits um die Stimmenauszählung in Florida Stimmzettel von Briefwählern aus dem Militär einsandten, die in Wirklichkeit erst nach dem Wahltag angekreuzt worden waren. Hunderte Stimmzettel von Militärangehörigen, die im Ausland stationiert waren, gingen in letzter Minute bei den Wahlbehörden in Florida ein, die wiederum auf ihre Einbeziehung in die Auszählung bestanden, obwohl sie keine Poststempel trugen und auch weitere gesetzlich vorgeschriebene Voraussetzungen nicht erfüllten.

Die in diesem Artikel genannten Tatsachen machten eine unschuldige Erklärung für das plötzliche Hereinströmen fehlerhafter Stimmzettel aus dem Ausland recht unwahrscheinlich. Es handelte sich eindeutig um eine illegale Machenschaft von Militärs, die versuchten, Bush weitere Stimmen zuzuschustern, um mögliche Zugewinne Gores infolge von Neuauszählungen in umstrittenen Bezirken auszugleichen.

Die Times vermerkte beflissen, dass nichts auf ein Fehlverhalten irgendwelcher Militärs hinweise - eine Behauptung, die den Fakten, wie sie in dem Bericht dargestellt waren, diametral entgegenstand. Dennoch unterstrich die Veröffentlichung dieses Artikels einen enorm wichtigen Sachverhalt: Sechs Monate nach ihrem offiziellen Amtsantritt war es der Regierung Bush noch nicht gelungen, die weit verbreiteten Zweifel an ihrer Legitimität zu zerstreuen. Der Wahlbetrug des Jahres 2000 belastete nicht nur das Weiße Haus unter Bush, sondern das gesamte bürgerliche Establishment mit einer schweren Hypothek.

Im August kam dann die Enron-Krise an die Öffentlichkeit. Der neu ernannte Geschäftsführer, Jeffrey Skilling, trat unvermittelt aus "persönlichen Gründen" zurück. Kurz darauf gab der texanische Senator Phil Gramm - ein rechter Republikaner, der seit vielen Jahren im Senat saß - seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur im Jahr 2002 bekannt. Seine Frau Wendy sitzt zufällig im Vorstand von Enron.

Diese Ereignisse wurden begleitet von einem offenen Konflikt zwischen dem Kongress und dem Weißen Haus unter Bush. Das General Accounting Office (GAO), ein parlamentarisches Kontrollorgan, forderte Vizepräsident Cheney auf, Informationen über inoffizielle Treffen seiner Energiekommission herauszugeben, die im Frühjahr stattgefunden hatten. Diese Kommission, die vom Weißen Haus unter Cheneys Führung einberufen worden war, hatte in einer politischen Erklärung eine raschere Deregulierung gefordert. Sie verlangte außerdem, große Naturschutzgebiete in Alaska und andere Gebiete in öffentlichem Besitz für die private Ausbeute durch Energiekonzerne freizugeben. Außerdem forderte sie einen Ausbau der Atomkraft und weitere Maßnahmen, für die sich die großen Öl- und Energieunternehmen seit langem einsetzten. Damals ging durch die Presse, dass Cheney und seine Mitarbeiter sich wiederholt mit den Chefs großer Ölkonzerne getroffen hatten. Auch mit dem Enron-Vorsitzenden Kenneth Lay waren sie zusammengekommen, um die Energiepolitik der Regierung auszuarbeiten.

Bush und Cheney weigerten sich, dem GAO irgendwelche Informationen über ihre geheimen Zusammenkünfte mit den Ölmagnaten zu übergeben.

Diese politischen Konflikte im Sommer 2001 fielen zeitlich mit einer zunehmenden Panik an den Aktienmärkten und mit einer regelrechten Explosion von Entlassungsplänen zusammen. Im August und Anfang September erreichten die wirtschaftlichen Schocks ihren Höhepunkt. Am Freitag, den 7. September, veröffentlichte das Arbeitsministerium die Arbeitslosenzahlen für August. Daraus ging hervor, dass die Arbeitslosenrate auf 4,9 Prozent gestiegen und die Zahl der Arbeitslosen innerhalb von nur einem Monat um mehr als eine halbe Million in die Höhe geschnellt war. Dieser Anstieg überstieg die Prognosen der Wirtschaftswissenschaftler aus den vorangegangenen Wochen um das Dreifache.

Der dramatische und unerwartet starke Anstieg der Arbeitslosigkeit sorgte für Nervosität an der Börse und führte am 7. September zu einem Einbruch um 250 Punkte. Die großen Investoren reagierten in erster Linie auf die Aussicht eines Einbruch der Verbraucherausgaben, des einzigen Faktors, der bis dahin das Umschlagen des Abschwungs in noch weit Verheerenderes verhindert hatte.

Fortsetzung folgt

Siehe auch:
Der Krieg in Afghanistan und die Krise der politischen Herrschaft in Amerika - Teil 1
(14. März 2002)
Der Krieg in Afghanistan und die Krise der politischen Herrschaft in Amerika - Teil 3
( 19. März 2002)
Der Krieg in Afghanistan und die Krise der politischen Herrschaft in Amerika - Teil 4
( 20. März 2002)
Die weltgeschichtliche Bedeutung der politischen Krise in den Vereinigten Staaten
( 16. Februar 2001)

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