Nato-Gipfel in Prag

Irakkrieg soll Vorbild für Nato-Strategie werden

Das letzte Gipfeltreffen der Nato, das im April 1999 in Washington stattfand, stand ganz im Zeichen des Kriegs gegen Jugoslawien. Während die Staats- und Regierungschefs in der amerikanischen Hauptstadt das 50-jährige Jubiläum des atlantischen Militärbündnisses feierten, warfen Nato-Flugzeuge Bomben auf Belgrad ab. Der diesjährige Gipfel, der heute und morgen in der tschechischen Hauptstadt Prag tagt, steht im Zeichen eines noch umfassenderen Krieges - der Vorbereitungen auf einen Militärschlag gegen den Irak.

Das Weiße Haus hat ankündigt, es erwarte von der Nato eine Erklärung zur Unterstützung der UN-Resolution, die vom Irak die völlige Entwaffnung fordert und als Vorwand für einen Krieg dienen soll. Präsident George Bush hat hinzugefügt, er werde sich um Beistand für eine mögliche Militäraktion gegen das Land bemühen.

Die Bedeutung des Gipfels geht aber noch weiter. Auf dem Spiel stehen die künftige Strategie der Nato und ihre Existenz selbst. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der US-Regierung, die sogenannte Bush-Doktrin, lässt nur wenig Raum für internationale Bündnisse wie die Nato. In ihrem Mittelpunkt stehen das nationale Interesse der USA und deren Anmaßung, gegen jedes Land militärisch vorzugehen, das dieses Interesse bedroht oder in Zukunft bedrohen könnte. Das Mittel des Präventivkriegs wird dabei ebenso gutgeheißen wie ein niederschwelliger Einsatz von Atomwaffen.

Der Nato bleibt in diesem Szenario nur noch die Rolle einer Hilfstruppe oder einer Reserve, aus der sich die USA je nach Bedarf bedienen können. Geht es nach dem Willen der US-Regierung, so soll ein Krieg gegen den Irak als Präzedenzfall und Vorbild für die zukünftige Rolle des Militärbündnisses dienen. Der Golfstaat, sagte die Sicherheitsberaterin des Präsidenten Condoleezza Rice, sei "typisch, oder das wichtigste Beispiel, für die Art von Bedrohung, der sich die Nato in Zukunft gegenüber sehen wird".

Vor allem das Pentagon hat wiederholt deutlich gemacht, dass es sich nicht an die Entscheidungen eines Bündnisses binden will, das 19 und bald 26 Mitglieder umfasst. US-Verteidigungsminister Rumsfelds viel zitierte Aussage: "Die Mission bestimmt die Koalition, nicht umgekehrt", ist in Europa allgemein als Absage an die Nato verstanden worden. "Die USA entscheiden je nach Bedarf und Fähigkeiten der Partner über deren Mitwirkung und benutzen die Nato als Dienstleistungsunternehmen für amerikanisch geführte Militäroperationen", wie sie ein deutscher Verteidigungsexperte interpretierte.

Widersetzt sich ein Bündnispartner dem Willen Washingtons, wird er brüskiert und geschnitten. Dies musste die deutsche Regierung erfahren, nachdem sie im Wahlkampf offene Kritik am geplanten Irakkrieg geäußert hatte. Obwohl sie sich seither dem Kurs Washingtons weitgehend angepasst hat, wird es auch in Prag zu keinem bilateralen Zusammentreffen zwischen Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder kommen. Bush trifft sich mit dem britischen Premier sowie dem französischen, türkischen und russischen Präsidenten. Den deutschen Kanzler wird er dagegen nur im Rahmen des offiziellen Gipfels und bei einem Fototermin sehen.

Europäische Reaktionen

Die Europäische Union bemüht sich seit langem, dem amerikanischen Anspruch auf Vorherrschaft durch den Aufbau eigener, von den USA unabhängiger militärischer Kapazitäten entgegenzutreten, kommt damit aber nur langsam voran. Einerseits fehlt es an den nötigen finanziellen Mitteln, die im Rahmen der Maastrichter Stabilitätskriterien nur durch massive Einschnitte ins soziale Netz aufgebracht werden könnten, was auf entsprechenden Widerstand stoßen würde. Anstatt aufzuholen, fällt Europa daher militärisch immer weiter hinter die USA zurück, die gigantische Summen in die Rüstung investieren. Andererseits sind die europäischen Regierungen in ihrer Haltung gegenüber den USA zerstritten.

Eine 60.000 Mann starke europäische Interventionstruppe soll zwar im kommenden Jahr einsatzfähig sein. Sie ist aber auf das Material und die Infrastruktur der Nato angewiesen, was bisher durch ein türkisches Veto blockiert wurde. Das Nato-Mitglied Türkei verlangt ein Mitspracherecht bei ihrem Einsatz, was wiederum vom EU-Mitglied Griechenland strikt abgelehnt wird.

Die EU-Truppe erhält außerdem Konkurrenz durch eine Nato-Eingreiftruppe (NATO-Response-Force), deren Aufbau in Prag beschlossen werden soll. Diese 21.000 Mann starke multinationale Truppe soll das Bündnis erstmals in die Lage versetzen, innerhalb weniger Tage mit eigenen Kräften an jedem Ort der Erde einzugreifen und sich ohne weitere logistische Unterstützung mindestens einen Monat lang im Kampfgebiet zu behaupten.

Die Ausrüstung der Nato-Eingreiftruppe mit den erforderlichen Transportkapazitäten und High-Tech-Waffen wird enorme Summen verschlingen, die dann für die EU-Interventionstruppe fehlen. Als US-Verteidigungsminister Rumsfeld im September auf einer Nato-Tagung in Warschau überraschend den Aufbau der neuen Truppe vorschlug, wurde dies als Versuch interpretiert, die militärischen Emanzipationsbemühungen der EU zu torpedieren.

Angesichts des ohnehin gespannten Verhältnisses zu Washington wagte es aber keine europäische Regierung, den Vorschlag offen abzulehnen. Stattdessen versuchen alle, mittels der neuen Truppe Einflussmöglichkeiten auf die amerikanische Außenpolitik zu erhalten.

So begrüßte der deutsche Außenminister Joschka Fischer in einer Regierungserklärung die Initiative zur NATO-Response-Force als "konstruktiven Vorschlag", knüpfte eine Zustimmung aber an mehrere Voraussetzungen: Über ihren Einsatz müsse der Nato-Rat entscheiden, es dürften keine Doppelstrukturen mit den im Aufbau befindlichen Krisenreaktionskräften der EU entstehen und eine deutsche Beteiligung an Einsätzen dürfe nur mit vorheriger Zustimmung des Bundestags erfolgen.

Praktisch laufen Fischers Bedingungen darauf hinaus, dass die neue Nato-Truppe teilweise identisch mit der EU-Truppe ist. Sie könnte dann nur mit europäischer Zustimmung eingesetzt werden und die EU-Truppe hätte Zugang zur Nato-Infrastruktur.

Je deutlicher die militärische Überlegenheit der USA zutage tritt, desto stärker passen sich die europäischen Regierungen an deren aggressive Außenpolitik an. In Prag wird kaum mehr mit Widerspruch gegen die Pläne für einen Irakkrieg gerechnet. Man erwartet, dass Frankreich die Forderung nach einer zweiten Resolution des Sicherheitsrats vor einem Militärschlag aufgeben wird, auf die es in der UNO noch beharrt hatte. Auch eine französische Beteiligung an einem militärischen Angriff wird für möglich gehalten.

Die deutsche Regierung, die im Wahlkampf einen Irakkrieg noch als "Abenteuer" bezeichnete und jede eigene Beteiligung kategorisch ablehnte, hat inzwischen ihre Teilnahme an der Operation "Enduring Freedom" verlängert und erheblich ausgeweitet. Sie entlastet damit die US-Truppen für den Einsatz im Irak. Auch die deutschen Spürpanzer werden nicht, wie angekündigt, aus Kuwait abgezogen, und würden im Falle eines Kriegs nahezu automatisch in das Geschehen verwickelt.

Außenminister Fischer erwähnte in seiner Regierungserklärung zum Nato-Gipfel den Irak mit keinem Wort. Stattdessen beschwor er die neue Rolle der Nato, die kein "reines Verteidigungsbündnis" mehr sei und "entscheidend zur Sicherheit und Stabilität in der Welt" beitrage. Er bekannte sich ausdrücklich zur Initiative des "Prague Capabilities Commitment", die auf dem Gipfel beschlossen werden soll. Sie verpflichtet jedes Mitglied zu massiven Aufrüstungsmaßnahmen und wird ein starkes Ansteigen der Rüstungsausgaben nach sich ziehen.

Hinter der europäischen Annäherung an die amerikanischen Standpunkte, die sich bereits vor dem Prager Gipfel abzeichnete, steckt die Furcht, international isoliert zu werden und nach einem Krieg mit leeren Händen dazustehen. Wenn man einen Krieg schon nicht vermeiden kann, dann beteiligt man sich besser daran, um bei der Aufteilung der Beute dabei zu sein.

Hinzu kommt die Angst vor den Folgen eines Scheiterns der Nato. Die amerikanische Präsenz in Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen, die innereuropäischen Gegensätze, die den Kontinent zweimal in ein Blutbad stürzten, auszugleichen und zu überwinden. Die Nato war nicht nur militärische Allianz im Kalten Krieg, sie verhinderte auch, dass sich in Westeuropa neue Hegemonialmächte herausbildeten. Ihr Ende würde die Frage nach dem Kräfteverhältnis innerhalb Europas - insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich - unweigerlich wieder auf die Tagesordnung bringen.

Die Annäherung in der Irakfrage kann die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Europa, die in den Monaten vor dem Gipfel sichtbar wurden, allerdings nicht vermindern. Sie haben ihre Ursache letztlich in der wachsenden Rivalität zwischen den Großmächten im Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und strategischen Einfluss.

Osterweiterung

Ein zentraler Tagesordnungspunkt des Prager Gipfels wird die Aufnahme von sieben neuen Mitgliedern aus Osteuropa sein.

Die Nato hatte mit Polen, Ungarn und der Tschechische Republik bereits 1999 drei ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts in ihre Reihen aufgenommen. Nun sollen mit Rumänien, Bulgarien, Slowenien und der Slowakei vier weitere osteuropäische Staaten folgen sowie die drei ehemaligen Sowjetrepubliken Litauen, Estland und Lettland. Die sieben sollen in Prag eine offizielle Einladung erhalten und bis zum Mai 2004 voll in die Nato integriert werden.

Russland hat seinen ursprünglichen Widerstand gegen die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken aufgegeben und wird dafür mit einer stärkeren Rolle im Nato-Russland-Rat entschädigt, der aus den Nato-Mitgliedern und Russland besteht und über Themen gemeinsamer Interessen berät und beschließt.

Auch in der Frage der Osterweiterung, über die es in der Nato weitgehende Übereinstimmung gibt, entwickeln sich wachsende Spannungen zwischen Europa und den USA. Einige Mitgliedskandidaten werden von europäischer Seite verdächtigt, sie dienten Washington als trojanisches Pferd.

So hat Rumänien als bisher einziges europäisches Land ein Abkommen mit den USA unterzeichnet, dass amerikanischen Staatsbürgern Immunität vor dem Internationalen Strafgerichtshof gewährt - ein Präzedenzfall, den die EU stets zu verhindern versuchte. Im Unterschied zu anderen Nato-Mitgliedern und Kandidaten ist Rumänien nicht Mitglied der EU und gehört auch nicht zu den zehn Ländern, die im kommenden Monat auf dem Kopenhagener-EU-Gipfel aufgenommen werden. Ein Beitritt ist erst für 2007 vorgesehen.

US-Präsident Bush hat sich unmittelbar vor dem Gipfel auch erneut für eine Aufnahme der Türkei in die EU ausgesprochen. In einem Telefongespräch mit dem dänischen Premier Andres Forgh Rasmussen, der zurzeit den Vorsitz in der EU führt, lobte er die jüngsten Reformen in der Türkei und sagte, eine Annäherung der Türkei an den Westen sei "von strategischer Bedeutung". In EU-Kreisen gibt es erheblichen Widerstand gegen die Türkei, die als enger Verbündeter der USA gilt und die Bemühungen um eine gemeinsame europäischen Außenpolitik vollständig lähmen könnte.

Siehe auch:
50 Jahre NATO - Die Spannungen im atlantischen Bündnis nehmen zu
(24. April 1999)
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