Flugblatt

Politische Lehren aus dem Irakkrieg

Die folgende Erklärung der World Socialist Web Site wird am kommenden Wochenende auf Antikriegsdemonstrationen in Europa verteilt. Sie sollte so viele Leute wie möglich erreichen. Wir bitten alle unsere Leser, die Erklärung, die auch als Flugblatt im PDF-Format vorliegt, herunterzuladen und zu verbreiten.

Drei Wochen nachdem die ersten Bomben auf Bagdad gefallen sind, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass der Krieg gegen den Irak ein Verbrechen von historischen Ausmaßen darstellt.

Selten zuvor wurde ein Krieg mit derart ungleichen Waffen ausgetragen. Der uneingeschränkten Lufthoheit und den High-Tech-Waffen der amerikanischen und britischen Invasoren stehen primitiv bewaffnete irakische Soldaten und einige Panzer aus den sechziger Jahren gegenüber. Niemand hat bisher verlässliche Zahlen über die zivilen und militärischen Opfer auf irakischer Seite geliefert - aber ihre Zahl muss in die Zehntausende gehen. Was sich im Irak zur Zeit abspielt, ist weniger ein Krieg, als ein Massaker.

Die Vorwände, mit denen der Krieg begründet wurde, haben sich im Pulverdampf in Nichts aufgelöst. Von den "Massenvernichtungswaffen", mit denen der Irak angeblich seine Nachbarn und die USA bedrohte, fehlt jede Spur. Dabei hätte das Regime, das alles zu verlieren hat, sie mit Sicherheit eingesetzt, würde es denn tatsächlich darüber verfügen.

Auch die Behauptung, der Krieg werde dem Irak "Demokratie und Freiheit" bringen, wird täglich widerlegt - durch die Bilder zerfetzter Menschen, die den alliierten Bomben zum Opfer fallen; durch den gezielten Beschuss unabhängiger Berichterstatter, wie der Büros von Al-Jazeera; und vor allem durch die Pläne für die Militärbesatzung nach dem Krieg.

Die "Irakische Interimsbehörde", die in kuwaitischen Luxusvillen auf ihren Einsatz wartet, besteht fast ausschließlich aus hochrangigen amerikanischen Beamten und Militärs, die enge Beziehungen zur Wirtschaft und den extrem rechten, neokonservativen Kreisen im Pentagon unterhalten, die den Krieg seit Jahren gefordert und vorbereitet haben. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, sein Stellvertreter Paul Wolfowitz und Pentagon-Berater Richard Perle unterhalten enge Beziehungen zum rechten israelischen Likud-Regime und sind deshalb in der gesamten arabischen Welt verhasst.

Ex-General Jay Garner, der die Interimsbehörde leitet und direkt dem Oberkommandierenden Tommy Franks untersteht, ist ein bekennender Neo-Konservativer. Er hat die israelische Regierung öffentlich für ihre "Zurückhaltung" gegenüber den Palästinensern gerühmt. Wenn das Vorgehen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten "zurückhaltend" ist, kann man sich vorstellen, was der Bevölkerung in einem besetzten Irak unter Garner bevorsteht.

Wichtigste Aufgabe der Interimsbehörde wird die Vergabe der lukrativen, durch irakische Öleinnahmen finanzierten Aufträge zum Wiederaufbau des zerbombten Landes und die Privatisierung der irakischen Ölindustrie sein. Für letzteres, die Auslieferung der reichhaltigen Energievorkommen des Landes an die internationalen Ölkonzerne, ist der ehemalige Shell-Manager Philip Carroll vorgesehen. Soweit zum Versprechen, der Ölreichtum des Landes solle in Zukunft der irakischen Bevölkerung zugute kommen!

Der Krieg gegen den Irak, das machen diese Entwicklungen deutlich, ist ein klassischer Kolonialkrieg. Sein Ziel ist die Plünderung und Unterjochung eines verarmten Landes und - langfristig - der gesamten Region. Er wurde begonnen, ohne dass von irakischer Seite auch nur die Spur einer Bedrohung oder aggressiven Handlung vorlag, und mit gefälschten Beweisen und erlogenen Vorwänden gerechtfertigt. Es handelt sich um einen Angriffskrieg, der nach allen Regeln des Völkerrechts ein Verbrechen darstellt.

Europäische Mitverantwortung

Die europäischen Regierungen - insbesondere die deutsche und die französische - tragen eine direkte Mitverantwortung für dieses monströse Verbrechen. Ungeachtet ihrer Absage an den Krieg in der UNO haben sie die amerikanisch-britischen Kriegsanstrengungen direkt oder indirekt unterstützt.

So hat sich die Bundesregierung strikt geweigert, den deutschen Luftraum und die Basen auf deutschem Boden für Kriegshandlungen zu sperren, obwohl sie aufgrund der deutschen Verfassung dazu verpflichtet wäre. Das Grundgesetz verbietet die Vorbreitung, Führung und Unterstützung eines Angriffskriegs und stellt sie unter Strafe. Als Unterstützung gilt auch das Bereitstellen deutschen Hoheitsgebiets für einen Angriffskrieg. Die Regierung Willy Brandt hatte aus diesem Grund 1973, während des Yom-Kippur-Kriegs, alle deutschen Einrichtungen für kriegsrelevante Handlungen gesperrt. Drei israelische Frachter, die in Bremerhaven amerikanisches Kriegsmaterial an Bord nahmen, wurden sofort aus den deutschen Hoheitsgewässern verwiesen.

Die Regierung Schröder hat einen solchen Schritt noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Dabei hätte die Sperrung des Luftraums und der Basen nicht nur die US-Kriegsvorbereitungen empfindlich getroffen, sondern auch die weitverbreitete Opposition gegen den Krieg in den USA selbst gestärkt und ermutigt.

Seit Kriegsbeginn haben Paris und Berlin auch ihre verbale Ablehnung des Kriegs fallen gelassen und sich offen zum Kriegsziel bekannt, dass sie bisher als Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen bezeichnet hatten - einem Regimewechsel in Bagdad.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer versicherte seinem britischen Amtskollegen Jack Straw am Mittwoch letzter Woche in Berlin, er hoffe "auf einen möglichst schnellen Zusammenbruch des irakischen Regimes". Und Bundeskanzler Schröder äußerte am nächsten Tag in einer Regierungserklärung den Wunsch, "dass durch die Überwindung der Diktatur das irakische Volk seine Hoffnung auf ein Leben in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung so rasch wie möglich verwirklichen kann" - ein Satz, den jedes Mitglied der US-Regierung unterzeichnen würde.

Das französische Staatsoberhaupt brachte seine Solidarität mit der kämpfenden Truppe in einem Schreiben an die britische Königin zum Ausdruck. "Ich möchte Ihnen sagen, dass die Gedanken des französischen Volkes jetzt, wo sich Ihre Soldaten im Kampf befinden, natürlich an deren Seite sind", heißt es in einem Brief, in dem sich Jacques Chirac für die Schändung britischer Kriegsgräber in Frankreich entschuldigt.

Das militärische Bündnis mit den USA in der Nato, die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA, kurz, die eigenen außenpolitischen Interessen stehen für Berlin und Paris letztendlich höher als das Völkerrecht und das Schicksal der irakischen Bevölkerung. "Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei jenen Staaten, die jetzt den Krieg gegen den Irak anführen, um Bündnispartner und befreundete Nationen handelt," sagte Schröder in seiner Regierungserklärung.

Die Haltung, die Schröder und Chirac zum aggressiven Kurs der US-Regierung einnehmen, erinnert an die Appeasement-Politik, mit der die britische Regierung in den dreißiger Jahren auf das Expansionsstreben Hitlers reagierte. Durch Zugeständnisse und Entgegenkommen bei der Besetzung des Rheinlands, dem Anschluss Österreichs und schließlich der Einverleibung von Sudetenland und Tschechoslowakei versuchte sie Hitler zu beschwichtigen - und bestärkte diesen in seinem Wahn, er sei unbesiegbar und der zukünftige Herrscher der Welt.

In ähnlicher Weise reagiert die rechte Clique im Weißen Haus auf die nachgiebige Haltung der europäischen Regierungen. Schon stößt sie neue Kriegsdrohungen gegen Syrien, den Iran und Nordkorea aus. Die Liste ist offen und kann beliebig ausgedehnt werden - auch auf Europa, wie Bush am Dienstag mit kaum verhüllter Drohung deutlich machte. "Hier in Europa herrscht offenbar eine gewisse Skepsis, ob ich meine, was ich sage", äußerte er auf einer Pressekonferenz mit Tony Blair in Irland. "Saddam Hussein weiß mit Sicherheit, dass ich meine, was ich sage."

Die Unbekümmertheit, mit der sich das Weiße Haus über völkerrechtliche Normen und UN-Beschlüsse hinwegsetzt, die Anmaßung, mit der es über das Schicksal des Irak entscheidet und seine wirtschaftlichen Ressourcen unter den engsten Geschäftsfreunden aufteilt, lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es sich mehr und mehr als Herrscher der Welt fühlt.

Die europäischen Regierungen mögen noch so sehr hoffen, nach dem Krieg erfolge die Rückkehr zur Normalität, dies wird nicht eintreten. Der Krieg gegen den Irak hat den Appetit des amerikanischen Imperialismus erst richtig geweckt.

Was tun?

Wenn es eine Lehre aus dem bisherigen Kriegsverlauf gibt, so ist es die völlige Unfähigkeit der bestehenden Institutionen - Regierungen und Parteien - dieser Entwicklung entgegenzutreten. Soweit diese überhaupt Schlussfolgerungen aus dem einseitigen Vorgehen der USA ziehen, laufen sie darauf hinaus, selbst aufzurüsten und zur Großmacht zu werden.

So gelangte Kanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zum Irakkrieg zum Schluss, "dass wir ernsthaft über unsere militärischen Fähigkeiten nachdenken müssen". Und Außenminister Fischer hatte schon drei Wochen vorher verkündet: "Wir müssen unsere militärische Kraft verstärken, um auch in diesem Sektor als Faktor ernst genommen zu werden."

Ausgerechnet die Grünen, einst dem Pazifismus verpflichtet, sind zum Vorreiter der europäischen Aufrüstung geworden. Die viel beschworene europäische Militärkooperation müsse nun in die Tat umgesetzt und die 1999 beschlossene, 60.000 Mann starke Interventionsarmee schleunigst aufgebaut werden, lautet ihre neue Linie.

In Paris findet das volle Unterstützung und selbst aus London gibt es zaghafte Signale der Zustimmung. Tony Blair, der sein politisches Schicksal im Irakkrieg fest an den amerikanischen Präsidenten gebunden hat, will nicht dauerhaft auf Gedeih und Verderb an den großen Bruder gebunden bleiben.

Dieser Kurs führt geradewegs ins Desaster. Er setzt einen Aufrüstungswettlauf in Gang, der auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung und der sozial Schwachen ausgetragen wird und in seiner Logik zu einer immer schärferen militärischen Eskalation bis hin zu einem Dritten Weltkrieg führt.

Um einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten, ist der Aufbau einer neuen politischen Bewegung nötig, unabhängig von den bestehenden Parteien und politischen Institutionen.

Die Demonstrationen gegen den Krieg, die am 15. und 16. Februar auf der ganzen Welt - einschließlich der USA - stattfanden, haben gezeigt, dass es eine Grundlage für den Aufbau einer derartigen Bewegung gibt. Es war die größte internationale Massendemonstration der Geschichte, der Ausdruck einer breiten gesellschaftlichen Bewegung gegen den Krieg. Millionen nahmen daran teil. Aber diese Bewegung braucht eine politische Orientierung und Perspektive. Protest allein reicht nicht aus. Sie muss die Lehren aus dem Versagen der alten politischen Organisationen ziehen.

Letzten Endes ist der gegenwärtige Krieg das Ergebnis unlösbarer Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems. Der globale Charakter der modernen Produktivkräfte lässt sich nicht mit dem System von konkurrierenden Nationalstaaten und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln vereinbaren, auf denen der Kapitalismus historisch beruht.

1914 und erneut 1939 hatte Deutschland als stärkste europäische Wirtschaftsmacht den Versuch unternommen, diesen Widerspruch durch die Neuorganisation Europas unter eigener Vorherrschaft zu lösen. Es scheiterte. Heute versuchen die USA als stärkste Weltmacht dasselbe im Weltmaßstab. Die militärische Unterwerfung des Irak ist der erste Schritt zur Reorganisation der Welt im Interesse de amerikanischen Konzerne. Auch dieser Versuch muss scheitern.

Wer den Vergleich zwischen Amerika heute und Deutschland 1939 scheut, sollte nicht vergessen, dass Deutschland im Zweiten Weltkrieg weitgehend dieselben Kriegsziele verfolgte wie im Ersten. Das wilhelminische Regime unterschied sich deutlich vom Naziregime, aber beide vertraten die Interessen derselben reaktionären Kreise - des Finanzkapitals, der Schwerindustrie und der Erzkonservativen in Staat und Armee.

Auch die heutige amerikanische Regierung stützt sich auf die reaktionärsten Kreise der Gesellschaft - auf die kriminellen Elemente, die im Börsenboom der letzten zwanzig Jahren zu Reichtum und Einfluss gelangten, auf die neokonservative Rechte und auf christliche Fundamentalisten. Sie ist durch eine gestohlene Wahl an die Macht gelangt und tritt elementare demokratische Rechte immer offener mit Füßen.

Wie Hitler 1939 benutzt auch Bush 2003 den Krieg als Mittel, um von inneren sozialen Spannungen abzulenken und sie nach außen zu richten. Die soziale Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft hat beispiellose Ausmaße angenommen. Einer schmalen Schicht von Superreichen steht die Masse der Bevölkerung gegenüber, deren Existenz von Tag zu Tag prekärer wird.

Die alten reformistischen Organisationen haben auf diese Entwicklung keine Antwort, weil sie selbst den Nationalstaat und das Profitsystem verteidigen und eng mit den Interessen des Kapitals verbunden sind. Der Aufstieg der rechten Clique um Bush ins Weiße Haus zeigt vor allem den Bankrott der Demokratischen Partei. Aber auch in Europa haben die sozialdemokratischen und ex-kommunistischen Parteien ihre Unfähigkeit bewiesen, die großen sozialen und politischen Probleme zu lösen. Seit nunmehr zwanzig Jahren bewegen sie sich ununterbrochen nach rechts.

Eine neue politische Bewegung muss die Lehren aus dem Versagen der alten Organisationen ziehen. Sie muss international, unabhängig und sozialistisch sein und sich auf die Masse der arbeitenden Bevölkerung stützen. Sie muss den Kampf gegen den Krieg mit der sozialen Frage verbinden.

Die World Socialist Web Site verfolgt das Ziel, eine solche Bewegung aufzubauen und ihr eine politische Orientierung zu geben. Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale, erstellt sie in engster internationaler Zusammenarbeit tägliche Analysen, Einschätzungen und nimmt politisch Stellung. Wir laden alle Teilnehmer der Antikriegsdemonstrationen ein, die WSWS täglich zu lesen, mit der Redaktion in Verbindung zu treten, ihre Erklärungen zu verbreiten und selbst Artikel zu schreiben.

Siehe auch:
World Socialist Web Site richtet internationale Konferenz über Sozialismus und den Kampf gegen Krieg aus
(3. April 2003)
Die Krise des amerikanischen Imperialismus und der Krieg gegen den Irak
( 3. April 2003)
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