Bundesverfassungsgericht billigt Auslieferung in Folterländer

Die weite Verbreitung von Folter in einem anderen Staat steht einer Auslieferung nicht im Wege, wie jetzt das Bundesverfassungsgericht (BVG) entschieden hat. Nachdem bereits im Februar eine Debatte über eine Aufhebung des Folterverbots begonnen wurde, als der Frankfurter Vizepolizeipräsident Wolfgang Daschner einem mutmaßlichen Straftäter zur Aussageerpressung Folter angedroht hatte, hat nun auch das höchste deutsche Gericht die absolute Geltung des Folterverbots relativiert und die Rechtssprechung den Interessen der Regierung untergeordnet.

Im konkreten Fall ging es um die Auslieferung eines vanuatuischen, ehemals indischen Staatsbürgers, um die Indien ersucht hatte. Der Mann war im Dezember 2002 auf dem Münchener Flughafen aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen worden. Als das Oberlandesgericht München keine Auslieferungshindernisse festgestellt hatte, zog er vor das Bundesverfassungsgericht, da ihm im Falle einer Auslieferung in Indien Folter und unmenschliche Haftbedingungen drohen.

Der zweite Senat des BVG wies die Verfassungsbeschwerde jedoch als unbegründet ab, da der Tatverdächtige nicht konkret hätte nachweisen können, dass ihm mit "beachtlicher Wahrscheinlichkeit" Misshandlungen durch die indische Polizei drohen würden.

Die Karlsruher Richter sahen kein Auslieferungshindernis darin, dass, wie sie selbst in der Urteilsbegründung feststellten, "nach den Berichten von Amnesty International und des Auswärtigen Amtes Folterungen und Misshandlungen von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode und ein Erpressungsmittel sind."

Es liegt auf der Hand, dass für nach Indien ausgelieferte Personen ein nicht kalkulierbares Risiko besteht, Folterungen ausgesetzt zu werden. Nicht jedoch für die höchsten deutschen Richter. Schwerer als die Faktenlage wog für sie ein in Indien offizielle geltendes Folterverbot und vor allem der Abschluss eines Auslieferungsabkommens zwischen Deutschland und Indien. Dies wäre nicht zu Stande gekommen, so die Argumentation des BVG, wenn es "in Indien eine systematische menschenrechtswidrige Praxis im Strafvollzug" gäbe. Dass daraus Indien Verpflichtungen erwachsen, bei ausgelieferten Personen menschenrechtliche Mindeststandards einzuhalten, wie die Karlsruher Richter meinten, wies der Salzburger Experte für Auslieferungsrecht Otto Lagodny jedoch gegenüber Spiegel online als "argumentativen Zirkelschluss" zurück. Der Geschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins Philipp Wendt bezeichnete die Urteilsbegründung als "abwegig".

Das BVG hat zudem völlig unterschlagen, dass sich die Menschenrechtslage in Indien nach der Unterzeichnung des deutsch-indischen Auslieferungsabkommens im Juni 2001 drastisch verschlechtert hat. Auch in Indien wurden nach dem 11. September 2001 bei der inneren Sicherheit die Zügel stark angezogen. Im vorgeblichen Kampf gegen den Terrorismus wurden Gesetze erlassen, durch die willkürlich festgenommene Personen bis zu sechs Monate ohne Anklage inhaftiert bleiben können. Polizeiliche Willkür ist zudem an der Tagesordnung, da die indischen Sicherheitskräfte für ihre Foltermethoden und Misshandlungen keine Strafverfolgung befürchten müssen.

Ist der Urteilsspruch schon rechtlich höchst zweifelhaft, so wirft er vor allem ein deutliches Licht auf das in Karlsruhe herrschende juristische Selbstverständnis und auf das Verhältnis der deutschen Justiz zum Folterverbot.

Zu behaupten, dass jemandem in einem Land keine Folter droht, nur weil sie staatlich verboten ist, erscheint auf den ersten Blick nur als naiv. Tatsächlich zeigt die Entscheidung des BVG aber, dass Teile der deutschen Justiz nicht länger bereit sind, die ihr verfassungsmäßig zugeschriebene Rolle wahrzunehmen.

Laut Grundgesetz ist es Aufgabe der Judikative die Exekutive zu kontrollieren. Mit anderen Worten: der Verfassungsauftrag der Justiz und vor allem des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe besteht darin die Entscheidungen der Bundesregierung und der ihr unterstellten Behörden, auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Dieser Kontrollfunktion haben sich die Karlsruher Richter eindeutig entzogen, wenn sie rein formale staatliche Folterverbote und das bloße Zustandekommen eines Auslieferungsabkommens zur Grundlage ihrer Entscheidung machten.

Statt dessen drückt sich in ihrer Entscheidung Autoritätsgläubigkeit gegenüber staatlichen Behörden aus. In der Logik des Gerichts ist ein Land dann sicher, wenn deutsche Behörden sagen, es ist sicher. Und wenn deutsche Behörden ein Auslieferungsabkommen schließen, haben deutsche Juristen nicht mehr danach zu fragen, ob es Auslieferungshindernisse gibt, sondern nur noch Vollzug zu melden. Da muss es nicht einmal mehr stören, dass selbst das Auswärtige Amt, das bisher nicht durch Asylfreundlichkeit aufgefallen ist, die weite Verbreitung von Misshandlungen und Folter in einem anderen Staat dokumentiert.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die deutsche Justiz in Abschiebungs- und Auslieferungsfragen zum Steigbügelhalter der Behörden gemacht hat. Bereits 1996 anerkannte das BVG die Rechtmäßigkeit von Abschiebungen in Staaten, die von den deutschen Behörden willkürlich als "sichere Herkunftsstaaten" bezeichnet wurden. Und trotz bestehender Haftbefehle verzichtete Deutschland sowohl 1998 auf eine Auslieferung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus Italien als auch im November 2002 auf die Auslieferung des angeblichen Al Kaida Mitglieds und Atta-Vertrauten Ramzi Binalshibh aus Pakistan. Öcalan wurde von den italienischen Behörden schließlich in die Türkei ausgeliefert, während Binalshibh den US-amerikanischen Sicherheitsbehörden überstellt wurde. In beiden Fällen drohte bzw. droht die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe. Schwerer als das indirekt berührte Auslieferungsverbot in Länder, in denen die Todesstrafe droht, wogen jeweils diplomatische Erwägungen, so dass die deutsche Justiz auf die Vollstreckung der Haftbefehle verzichtete.

Ein weiterer Schritt zur Rehabilitierung der Folter

Die Rügen, die die Karlsruher Richter in der Presse für ihr Urteil einstecken mussten, die von einem "Folterverbot light" (Ursula Knapp in der Frankfurter Rundschau) und einer "Bewusstseinstrübung" (Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung) sprachen, greifen daher viel zu kurz. Eine von beiden Journalisten in Übereinstimmung mit dem Minderheitsvotum zweier Richter des BVG geforderte Einzelfallprüfung ändert nichts an der Tatsache, dass Auslieferungen und Abschiebungen in Länder, in denen nachweislich gefoltert wird, ein nicht abzuschätzendes Risiko darstellen. In Ländern, in denen Folter gesetzlich verboten ist und Menschen mehr oder weniger im Verborgenen misshandelt werden, ist nie auszuschließen, dass die betroffenen Personen malträtiert werden.

Die deutsche Justiz verlangt jedoch im spezifischen Einzelfall nicht zu erbringende "sichere" Beweise, dass auszuliefernde oder abzuschiebende Personen gefoltert oder gar zu Tode gequält werden. Erst im Dezember letzten Jahres hat das Oberverwaltungsgericht Oldenburg dies deutlich gemacht, als es die Klage eines Ivorers gegen seine Abschiebungsandrohung in die vom Bürgerkrieg gebeutelte Elfenbeinküste abwies. Von der Abschiebung müsste nur dann Abstand genommen werden, wenn der Flüchtling "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt" sein würde.

Das Folterverbot gilt absolut und mit der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, dass niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Eine Risikoabschätzung, nach der bei einer "nur" 50 oder 30 prozentigen Wahrscheinlichkeit von Misshandlungen und politischer Verfolgung Auslieferungen und Abschiebungen durchzuführen sind, ist vollkommen absurd und menschenverachtend.

Das BVG hat zwar nicht erklärt, dass Folter rechtmäßig ist und in Deutschland als legitimes Mittel der Strafverfolgung anzusehen ist. Aber es hat das Folterverbot relativiert, da es sich gegenüber der Folterpraxis anderer Länder gleichgültig zeigte. Abschiebungen und Auslieferungen selbst dann anzuordnen, wenn in den betreffenden Staaten Misshandlungen bekanntermaßen eine weit verbreite Praxis darstellen, kommt indirekt einer Legitimation der Folter gleich.

Und hier liegen die Parallelen zu dem Fall des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner. Daschner hatte, wie im Februar diesen Jahres bekannt wurde, im Oktober 2002 im Zuge der Ermittlungen im Fall der Kindesentführung Jakob von Metzlers dem mutmaßlichen Täter mit Folterdrohungen Aussagen abgepresst. Daraufhin wurde eine Debatte losgetreten, in der Teile der herrschenden Elite versuchten, Folter als legitimes Mittel der Strafverfolgung zu rehabilitieren. Daschner wurde von seinem unmittelbaren Vorgesetzten gedeckt und nicht vom Dienst suspendiert. Statt dessen erhielt er breite Unterstützung für sein Vorgehen vom Vorsitzenden des Richterbundes, Geert Mackenroth, bis hin zu den CDU Spitzenpolitikern Jörg Schönbohm und Roland Koch. Argumente erhielten sie bereits damals von einflussreichen Juristen, allen voran dem Heidelberger Juraprofessor Winfried Brugger, der in mehreren Aufsätzen die Relativierung des Folterverbots verlangte.

Mit dem neuerlichen Urteilsspruch des BVG, der das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit und den Schutz des Lebens jedes einzelnen Menschen geringer schätzt als Interessen staatlicher Behörden, zeigt sich, wie dünn der Firnis des Rechtsstaates tatsächlich ist. Die tragischen Terroranschläge vom 11. September 2001 wurden auch in Deutschland dazu benutzt, um demokratische Rechte der Bevölkerung drastisch einzuschränken. Dabei steht auch das Folterverbot mehr und mehr zur Disposition. Im vorgeblichen "Kampf gegen den Terrorismus" werden von Teilen der herrschenden Elite autoritäre Herrschaftsformen als Mittel der Zeit angesehen.

Siehe auch:
Rechtsstaat oder Polizeistaat?
(28. Februar 2003)
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