Welthungerbericht: 842 Millionen hungern mitten im Überfluss

Der Hunger in der Welt nimmt zu. 842 Millionen Menschen gehen jeden Abend hungrig ins Bett. Die meisten an Hunger Leidenden leben in Afrika und Lateinamerika sowie in der früheren Sowjetunion, aber auch in den reichen Industrieländern haben zehn Millionen nicht genügend zu essen.

Diese alarmierenden Beweise für die zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich im Weltmaßstab finden sich im jüngst veröffentlichten Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).

Den Hunger in der Welt zu halbieren war eines der Ziele, die die Vereinten Nationen in ihrem Millenium-Entwicklungsbericht 1992 angekündigt hatten. Bis 2015 sollte die Zahl der hungernden Menschen halbiert werden. Aber statt sich zu verringern, wie es die FAO vorausgesagt hatte, ist die Zahl der Hungernden zwischen 1995 und 1997 und von 1999 bis 2001 um 4,5 Millionen im Jahr angestiegen. Die verbesserte Ernährungslage in einigen Ländern wurde durch die Verschlechterung in anderen mehr als ausgeglichen.

Unter den Ländern, in denen die Zahl der Unterernährten wieder angestiegen ist, befinden sich so bevölkerungsreiche wie der Sudan, Pakistan, Nigeria, Indonesien und Indien. In dem Bericht heißt es: "Nachdem der Prozess in vielen großen Ländern rückläufig war und sich in anderen verlangsamte, schlug die gesamte Struktur der Veränderung in den Entwicklungsländern insgesamt um. Statt zu einem Rückgang kam es zu einem erneuten Anwachsen. Zwischen 1995 und 1997 sowie zwischen 1999 und 2001 nahm die Zahl der hungernden Menschen in Entwicklungsländern um 18 Millionen zu, wodurch der Rückgang um 37 Millionen, der in den fünf Jahren zuvor erreicht worden war, fast um die Hälfte wieder zunichte gemacht wurde. Wenn in den großen Ländern, in denen der Prozess der Verbesserung abgewürgt wurde, nicht beträchtliche Fortschritte gemacht werden, dann wird es schwierig werden, den negativen Trend wieder umzukehren."

Der FAO-Bericht macht auf den Anstieg der Anzahl von Unterernährten in den Ländern aufmerksam, die als Schwellenländer bezeichnet werden. Er bezieht sich dabei vorwiegend auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawien. Von 1993 bis 1995 betrug die Zahl der Unterernährten dort 25 Millionen und stieg von 1999 bis 2001 auf 34 Millionen an. Der größte Teil von ihnen lebt in den GUS-Staaten (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten), in denen heute 29 Millionen Menschen oder 10 Prozent der Bevölkerung als chronisch unter Hunger leidend eingestuft werden.

In diesen Ländern, so heißt es im Bericht weiter, "war die Umwandlung der Wirtschaft von weitreichenden politischen und verwaltungsmäßigen Veränderungen begleitet, die die Handels- und Verteilungsverhältnisse zerstört und zu ernsten Mangelsituationen im Außenhandel geführt haben. Dazu kam der Zusammenbruch von landwirtschaftlicher Produktion und Vermarktungssystemen."

Auch HIV/AIDS spielt eine entscheidende Rolle beim Anstieg des Hungers. Der Bericht stellt fest: "Die Ernährungskrise, die mehr als 14 Millionen Menschen im südlichen Afrika 2002-2003 bedroht, machte den Zusammenhang von Ernährungssicherheit und HIV/AIDS äußerst deutlich. Es zeigte sich, dass in Gegenden, in denen AIDS wütet, der Hunger nicht effektiv bekämpft werden kann, es sei denn die Hilfsmaßnahmen werden auf die speziellen Bedürfnisse von Haushalten abgestimmt, in denen AIDS-Kranke leben, und richten sich darauf, die weitere Ausbreitung von HIV/AIDS einzudämmen."

Die Länder, in denen der Hunger zurückgegangen ist, weisen keine hohen Raten an AIDS-Erkrankungen auf und sind auch nicht von Naturkatastrophen wie Dürreperioden betroffen gewesen. Die Verbesserung der Lage dort ist aber äußerst instabil, und in vielen von ihnen beginnt sich AIDS rapide auszubreiten. Die verbesserte Ernährungslage in China oder Indien könnte sich dadurch rasch wieder umkehren.

Berichte aus dem südlichen Afrika warnen vor einer neuen Art des Notstandes, bei dem kurzeitiger Mangel an Nahrungsmitteln sich überschneidet mit "unvorhergesehenen Zusammenbrüchen der Agrarproduktion und der Versorgung mit Nahrungsmitteln, die dann Jahrzehnte andauern können".

Die FAO sagt voraus, dass die AIDS-Epidemie sich bis weit in das neue Jahrhundert erstrecken und vor allem junge Menschen das Leben kosten wird. HIV reduziert in hohem Maße die Anzahl von Arbeitern in der Landwirtschaft. In der Bevölkerung, die übrig bleibt, leben dann vorwiegend sehr junge und sehr alte Menschen.

Der Bericht stellt fest, dass um 2020 etwa 20 Prozent der in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen HIV zum Opfer gefallen sein werden und gegenwärtig bereits 60 bis 70 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe durch den Verlust von Arbeitskräften betroffen sind. Durch den Tod der jungen Erwachsenen wird auch die Weitergabe des landwirtschaftlichen Wissens und der Fertigkeiten an die nächste Generation verhindert.

Der Hunger verschlimmert die AIDS-Epidemie, weil Hungrige eher dazu neigen, die ländlichen Gebiete zu verlassen und in die städtischen Zentren zu ziehen, wo das Risiko sich mit HIV zu infizieren zunimmt. Frauen und Kinder sind nicht selten gezwungen, sich für Geld und Nahrungsmittel anzubieten, wobei sie sich sehr oft mit HIV infizieren. Der Hunger führt bei bereits HIV-Infizierten oft dazu, dass sie sich zusätzlich mit anderen gängigen Infektionskrankheiten anstecken. Ist AIDS einmal voll ausgebrochen, nimmt ihre Fähigkeit, Nährstoffe aus den Nahrungsmitteln aufzunehmen, erheblich ab. Selbst wenn sie mit Arzneimitteln therapiert werden, benötigen sie eine bessere Diät, um die Auswirkungen der Krankheit einzudämmen.

In einer Presseerklärung vom 28. November erklärte der Geschäftführende Direktor der FAO: " Ohne Nahrungsmittelhilfe müssen die ärmsten HIV-Infizierten immer zwischen dem Zugang zu medizinischer Versorgung oder ihrer nächsten Mahlzeit wählen - auch wenn die Medikamente kostenfrei wären. Wir sprechen davon, ob sie es sich leisten können, den Busfahrschein in die nächstgelegene Klinik oder die wichtigsten Grundnahrungsmittel zu kaufen. Niemand sollte gezwungen sein, eine solche Wahl zu treffen."

Einige Experten sprechen über die Wechselwirkungen zwischen HIV und Hunger als einer "neuen Variante der Hungersnot". In Sambia bezeichnet man diese tödliche Verbindung als "hässliche Schwestern". Nach einer Reise durch Sambia erklärte der AIDS-Botschafter der Vereinten Nationen Stephen Lewis: "Es handelt sich um ein völlig unwiderlegbares Maß an AIDS auf der einen und Hunger auf der anderen Seite... Diese Kombination führt ein Land in eine Abwärtsspirale, die unaufhaltsam ist, wenn der Kampf dagegen nicht aufgenommen wird."

Im selben Sinne warnte kürzlich der regionale Leiter der Organisation Save the Children (Rettet die Kinder) im südlichen Afrika, Greg Ramm: "Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale. Die Region insgesamt ist viel anfälliger gegen kleinere Erschütterungen geworden als je zuvor."

Dürre hat große Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Der FAO-Bericht erklärt, dass sie für 60 Prozent aller Nahrungsmittelnotlagen verantwortlich ist. Afrika ist nach Australien der trockenste Kontinent, andere Länder sind von unregelmäßigen Regenfällen betroffen. In Indien fallen 70 Prozent aller Niederschläge in der kurzen, dreimonatigen Monsunperiode. Im Bericht wird die Bedeutung der Vorsorge durch Bewässerung betont: Er führt aus, dass nur 17 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche bewässert werden, dass aber auf dieser Fläche 40 Prozent aller Nahrungsmittel der Welt erzeugt werden.

Die Beratungsgruppe für internationale agrarwissenschaftliche Forschung CGIAR (Consultive Group on International Agricultural Research) hielt im November in Nairobi eine Konferenz mit dem Titel "Herausforderung Wasser und Nahrungsmittel" ab. An der Konferenz nahmen Wissenschaftler, Politiker und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) teil, die das Problem von Wasser und Nahrungsmittelproduktion diskutierten.

In einer zu Beginn der Konferenz vorgelegten Presseerklärung heißt es: "Die Region (südlich der Sahara in Afrika) wird infolge der unzureichenden Wasserversorgung einen Ernteausfall von 23 Prozent haben und die Getreideimporte müssen innerhalb der nächsten 23 Jahre auf 35 Millionen Tonnen verdreifacht werden, um mit der Nachfrage Schritt zu halten. Unter diesen Bedingungen werden viele ärmere afrikanische Länder unfähig sein, die erforderlichen Lebensmittelimporte zu finanzieren. Das würde dazu führen, dass Hunger und Unterernährung und die Abhängigkeit von internationalen Finanzhilfen für die Hungerhilfe zunehmen."

Die Erklärung zitiert den Vorsitzenden des Konsortiums "Herausforderung Wasser und Nahrungsmittel" Professor Frank Rijsberman:

"Wenn sich die gegenwärtige Entwicklung fortsetzt, dann wird das Leben eines Drittels der Weltbevölkerung 2005 durch den Wassermangel beeinträchtigt. Wir können dann mit Verlusten in Höhe der gesamten Menge des in Indien und der USA erzeugten Getreides konfrontiert sein. Dieser Krise muss auf allen Ebenen entgegengewirkt werden, angefangen von der Wassernutzung durch die Bauern bis zu Investitionen auf dem Gebiet des Managements und der Infrastruktur."

Die globale Erwärmung und damit zusammenhängende Klimaveränderungen haben ebenfalls ihre Auswirkungen. Auf den Klimakonferenzen in Mailand und im Kyoto Protokoll stellten UN-Organisationen fest, die Klimaveränderungen führten dazu, dass jährlich zusätzlich 150.000 Millionen Menschen sterben. Weltweit verkürzen sich die Zeiten, in denen Nahrungsmittel angebaut werden können, was zur Unterernährung beiträgt.

Mit all diesen Problemen konfrontiert, hat die FAO sehr wenig zu bieten. Sie ist lediglich in der Lage, eine sich entfaltende Katastrophe für die Menschheit zu dokumentieren. Jacques Diouf, der Generaldirektor der FAO schreibt im Vorwort zum Bericht: "Wenn die jüngsten Daten zeigen, dass wir die Faktoren verstehen, die die Versorgung mit Nahrungsmitteln sichern können, dann konfrontieren sie uns zugleich mit einer weiteren schwierigen Frage: Wenn wir die grundlegenden Parameter dessen, was getan werden muss, schon kennen, warum haben wir dann zugelassen, dass Hunderte von Millionen Menschen hungrig sind in einer Welt, die in der Lage ist, mehr als genug Nahrungsmittel für jede Frau, jeden Mann und jedes Kind zu produzieren? Offen gesagt, das Problem ist nicht so sehr der Mangel an Nahrungsmitteln, sondern der Mangel an politischem Willem."

Das Expertenwissen, um das Problem des Hungers in der Welt anzugehen, ist vorhanden, aber der politische Wille fehlt in der herrschenden Klasse der mächtigsten Industrieländern der Welt. Dr. Tewolde Egziabher von der äthiopischen Umweltschutzbehörde wies kürzlich darauf hin, wie verhindert wurde, dass Äthiopien sich selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnte. Die westlichen Regierungen und internationale Finanzorganisationen hatten darauf bestanden, dass die äthiopische Lebensmittelversorgung durch den privaten Sektor kontrolliert wird. Dadurch wurde verhindert, dass die Regierung Getreidespeicher bauen und Nahrungsmitteldepots anlegen konnte, um darin das Getreide von einem Jahr für das nächste aufzuheben. Das Ergebnis war, dass Äthiopien, das in den letzten drei Jahren Rekordernten zu verzeichnen hatte, erneut vor einer Hungersnot steht.

Die Erfahrung von Äthiopien macht deutlich, dass die Zunahme von Hunger ein von Menschen gemachtes Problem darstellt. Vor der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion gab es in Friedenszeiten dort trotz des monumentalen bürokratischen Produktions- und Verteilungsapparats keinen Hunger. Jetzt gibt es in diesen Ländern, auf deren Agrarland ebenso ausreichend produziert werden könnte wie in den USA oder in Kanada, 34 Millionen Menschen, die chronisch an Hunger leiden.

Die FAO liefert auch keine Analyse, warum zehn Millionen Menschen in den am meisten industrialisierten Ländern hungern müssen. Aber ihre Existenz ist eine Anklage gegen die hochentwickelten kapitalistischen Staaten, in denen die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer wird. Die Zahl zeigt, dass Hunger nicht auf bestimmte Kontinente beschränkt ist, sondern zunehmend auch einen wachsenden Anteil der arbeitenden Bevölkerung in den westlichen Ländern betrifft.

Siehe auch:
Die Kluft zwischen Arm und Reich hat von 1975 bis 1995 stark zugenommen
(6. September 2002)
Sambia: Armut und Rückständigkeit made in London und Washington
( 31. August 2002)