Frankreich: Millionen beteiligen sich an eintägigem Streik gegen Rentenkürzungen

Beschäftigte des französischen öffentlichen Dienstes, denen sich viele Arbeiter aus dem privaten Sektor anschlossen, brachten am 10. Juni mit einem eintägigen Streik den öffentlichen Verkehr, den Postverkehr und andere wichtige Versorgungseinrichtungen zum Erliegen. Der Streiktag - die dritte eintägige Mobilisierung in diesem Monat - fiel zeitlich mit der Eröffnung der Parlamentsdebatte über den Regierungsentwurf zusammen, der die Rentenansprüche von Millionen Arbeitern drastisch beschneiden wird.

Das Gesetz sieht vor, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst vor ihrer Pensionierung vierzig Jahre arbeiten müssen, anstatt der jetzt benötigten 37,5 Beitragsjahre. Des weiteren würde die Beitragszeit nach 2009 auf 42 Jahre verlängert werden. Die Rentenansprüche würden um schätzungsweise dreißig Prozent oder mehr sinken.

Mit Ausnahme des Gewerkschaftsverbands CFDT, der dem rechten Flügel der Sozialistischen Partei nahe steht und dem Rentenreform-Entwurf der Regierung Chirac-Raffarin bereits zugestimmt hat, haben alle wichtigen Gewerkschaftsverbände zu dem Aktionstag am Dienstag aufgerufen. Die der Kommunistischen Partei nahestehende CGT und die FO, die Verbindungen zur Sozialistischen Partei hat, lehnen die Initiative der Regierung offiziell ab.

Postarbeiter, Bahnarbeiter, Angestellte staatlicher Banken, Beschäftigte bei Telekommunikationseinrichtungen, Krankenschwestern, Lehrer, Arbeiter der Gas- und Stromwerke GDF-EDF, Justizangestellte und Zollbeamte schlossen sich dem landesweiten Streik an. Auch Polizisten beteiligten sich daran.

Der Verkehr in Paris war so gut wie zusammengebrochen. Infolge der Streiks im öffentlichen Nahverkehr bildeten sich im Einzugsbereich der Hauptstadt viele Kilometer lange Staus. Auch in vielen anderen Städten und Großstadtzentren war der öffentliche Nahverkehr unterbrochen, so auch in Marseille, wo der Betrieb nahezu vollständig zum Erliegen kam. Auch der Flugverkehr ins Ausland war sehr eingeschränkt.

In zahlreichen Städten war der Müll seit mehreren Tagen nicht mehr abtransportiert worden. Viele Zeitungen erschienen nicht und die Programme einiger Radio- und Fernsehsender waren unterbrochen.

Weit über dreißig Prozent der Grundschul- und Sekundarlehrer nahmen an dem Streik teil. Angestellte im Erziehungswesen befinden sich an vorderster Front der Streikbewegung. Sie kämpfen auch gegen Stellenstreichungen und wollen Pläne unterbinden, nach denen 110.000 Beschäftigte, die nicht unterrichten, statt von den nationalen von den lokalen Behörden beschäftigt würden. Tausende Lehrer sind seit einem Monat - einige sogar seit Anfang März - im Streik. Ihnen haben sich Beschäftigte der Bahn und Arbeiter aus anderen Bereichen angeschlossen.

Schätzungsweise 200.000 Menschen demonstrierten jeweils in Paris und in Marseille, wobei von Polizei und Gewerkschaften sehr unterschiedliche Angaben gemacht wurden. In etwa fünfzig Städten - darunter Toulouse, Clermont-Ferrand, Grenoble, Montpellier und Rouen - gab es Demonstrationen mit 50.000 oder mehr Teilehmern; in Amiens waren es etwa 8.000.

Die riesige Pariser Demonstration zog von der Bastille zur Place de la Concorde. Alle Altersgruppen waren in ihr vertreten, Schüler, Studenten und ein breites Spektrum von Arbeitern der öffentlichen und privaten Betriebe. Lehrer bildeten die größte Gruppe, aber es waren auch viele Beschäftigte von Steuerbehörden, von EDF und GDF und vielen anderen Bereichen anwesend. Große Delegationen marschierten hinter den Transparenten und Fahnen der FSU (der wichtigsten Lehrergewerkschaft), der CGT und anderer Gewerkschaften.

Trotz der streikbedingten Störungen wurden die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes allgemein von der Bevölkerung unterstützt. Eine Umfrage, die Le Figaro am 7. Juni veröffentlichte, ergab, dass 66 Prozent der Befragten die Streikenden unterstützten oder mit ihnen sympathisierten.

Die Führer von CGT und FO unterstützen zwar die Streikbewegung offiziell, bemühen sich aber, ihr Ausmaß zu beschränken und eine breitere Mobilisierung zu unterbinden, die die Regierung Chirac-Raffarin politisch offen herausfordern würde. Die Mitte-Rechts Koalition verfügt in der Nationalversammlung über eine große Mehrheit, und Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin hat wiederholt erklärt, dass er das Rentengesetz mit ihrer Hilfe verabschieden will.

Dessen ungeachtet lautet die offizielle Gewerkschaftslinie, die Bewegung sei "unpolitisch" und habe keinerlei Absichten, die Regierung zu stürzen. Ihr Ziel besteht laut den Gewerkschaftsführern ausschließlich darin, die Regierung unter Druck zu setzen, damit sie ihre Renten-"Reform" entweder fallen lässt oder verbessert.

Die oppositionellen "Mehrheitslinken" im Parlament, angeführt von der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, verhalten sich der Streik- und Protestbewegung gegenüber reserviert. Führende Persönlichkeiten der Sozialistischen Partei, darunter der ehemalige Ministerpräsident Michel Rocard, haben öffentlich ihre Sympathie für die Regierungsvorlage bekundet.

Ein Schlüsselereignis am 10. Juni war das Treffen aller am Bildungswesen beteiligten Minister mit den Bildungsgewerkschaften, das einberufen worden war, um Störungen der Abiturexamen zu vermeiden, ohne die kein Mittelschüler an der Universität studieren darf. Über 600.000 Schüler erhielten die Order, am 12. Juni zur schriftlichen Philosophieprüfung anzutreten, die das Examen eröffnen wird. Viele streikende Lehrer hatten darauf gehofft, durch eine Unterbrechung des Examens die Regierung stärker unter Druck setzen zu können.

Auf einem Treffen von 400 streikenden Lehrern am 10. Juni im Departement Somme, wozu auch Amiens gehört, drehte sich die Diskussion im Wesentlichen darum, wie man mithilfe von Streikposten an den Abiturzentren am effektivsten den Verlauf der Examen unterbrechen könne. Eine Erklärung auf der Website der Hauptlehrergewerkschaft im Mittelstufenbereich, der SNES, der größten Gewerkschaft innerhalb der FSU, löste unter den Teilnehmern großen Ärger aus. Die Gewerkschaft widersprach darin einem Artikel in Le Monde, der berichtet hatte, dass die SNES für den 12. Juni zum Streik aufrufen wolle.

Das Treffens zwischen den Bildungsministern und den Gewerkschaften vom 10. Juni endete mit einem Geschäft auf Gegenseitigkeit: Der für die Kommunen verantwortliche Innenminister stimmte zu, dass 20.000 Schulärzte, Psychiater und Sozialarbeiter im nationalen Schuldienst verbleiben, wenn die Gewerkschaften im Gegenzug eine öffentliche Erklärung abgeben, in der sie garantieren, dass es keine Unterbrechung der Abiturprüfungen gibt.

In der Erklärung heißt es: "In Sorge um die Interessen der Jugendlichen bestätigen die Gewerkschaftsorganisationen, dass sie jede Art von Boykott, Blockade oder Aktion zur Beeinträchtigung der Examen ablehnen." Bildungsminister Luc Ferry bekräftigte seinerseits die Absicht der Regierung, Zehntausende Bildungsarbeiter aus dem nationalen Schuldienst herauszunehmen. Er sagte: "Die Reformprojekte sind in keiner Weise zurückgezogen worden."

Unterstützer der WSWS verteilten in Paris und Amiens Tausende Exemplare der aktualisierten World Socialist Web Site- Erklärung vom 24. Mai: "Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich".

Siehe auch:
Frankreich: Streiks und Demonstrationen gegen die Angriffe auf die Rente
(7. Juni 2003)
Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich
( 27. Mai 2003)
Eine Million Arbeiter gegen Rentenkürzungen auf der Straße
( 27. Mai 2003)
Frankreich: Für eine internationale Bewegung zur Verteidigung der Rente
( 17. Mai 2003)
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