Flugblatt

Die politischen Aufgaben im Kampf gegen die Agenda 2010

Für Samstag den 17. Mai hat die Gewerkschaft Ver.di in Berlin zu einer bundesweiten Demonstration gegen die "Agenda 2010" der Bundesregierung aufgerufen. Der folgende Text wird auf der Demonstration als Flugblatt verteilt.

Schröders "Agenda 2010" ist der schärfste Angriff auf die sozialen Rechte und Errungenschaften der Bevölkerung seit Bestehen der Bundesrepublik. Die rot-grüne Bundesregierung reagiert auf Haushaltskrise, stagnierende Wirtschaft und Rekordarbeitslosigkeit, indem sie jene zur Kasse bittet, die ohnehin wenig haben.

Die drastische Senkung von Arbeitslosengeld und -hilfe treibt nicht nur Millionen Arbeiterfamilien in den finanziellen Ruin, sie soll Arbeitslose auch zwingen, jede Art von Billiglohnarbeit anzunehmen, was den Druck auf die Tariflöhne erhöht und eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialleistungen in Gang setzt.

Ein Viertel der fast 1,5 Millionen Langzeitarbeitlosen wird jede Unterstützung verlieren. Arbeiter, die 30 bis 35 Jahre im Berufsleben standen, müssen zunächst all ihre Ersparnisse aufbrauchen, bevor sie irgend eine Unterstützung erhalten. Auch die Kosten der Altersvorsorge und Krankenversicherung werden zunehmend auf die Schultern der Arbeitnehmer abgeschoben - viele werden sie nicht mehr bezahlen können.

Gleichzeitig verteilt die Schröder-Regierung großzügige Steuergeschenke an Unternehmen und reiche Privatleute. Dank der Senkung des Spitzensteuersatzes sparen Einkommensmillionäre über 100.000 Euro im Jahr. Die Kapital- und Aktiengesellschaften, die im Jahr 2000 noch 24 Milliarden Euro Körperschaftssteuer abgeführt hatten, erhielten im folgenden Jahr sogar Geld zurück. In vielen Kommunen zahlen Hundebesitzer mittlerweile mehr Steuern, als ortsansässige Unternehmen.

Nie zuvor seit Kriegsende, auch nicht während der finstersten Jahre der Kohl-Regierung, hat eine derart gewaltige und provokative Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben stattgefunden.

Aufgekündigt werden nicht nur soziale Leistungen, sondern auch der gesellschaftliche und politische Konsens, der ein halbes Jahrhundert lang das Fundament der Bundesrepublik bildete.

Der Spiegel bläst in seiner jüngsten Ausgabe zum Sturm auf das Grundgesetz und die darin verankerte Definition der Republik als "demokratischer und sozialer Bundesstaat". Die Verfassung sei verstaubt und blockiere Reformen, schreibt das Nachrichtenmagazin und fragt: "Föderalismus, Parlament, Rechtsstaat: alles veraltet?" Es beruft sich dabei auf höchste Autoritäten, die Karlsruher Verfassungsrichter, die es mit den Worten zitiert: "Konsens ist nichts anderes als aufwendig organisierte Verantwortungslosigkeit." Politik heiße notwendigerweise "wehtun und wehtun müssen".

Auch andere Presseorgane überschlagen sich und richten ein wahres Trommelfeuer gegen Sozialstaat und Konsensdemokratie. Die Zeit bezeichnet in ihrem jüngsten Leitartikel die "Agenda 2010" als "halbherziges Sanierungspaket", dem weit radikalere folgen müssten. "Schröder und Fischer müssen jetzt so weit gehen wie möglich. Oder so bald wie möglich," fordert sie.

Die Welt verlangt, die Bundesregierung müsse "eine sozial verwöhnte Bevölkerung dazu bringen, den Gürtel enger zu schnallen". Dazu gebe es nur einen Weg: "Nachhaltige Steuersenkungen auf allen Ebenen, verbunden mit entscheidenden Einschnitten bei den Sozialleistungen".

Nachdem die amerikanische Regierung mit ungeheurer Brutalität über eine wehrlose irakische Bevölkerung hergefallen ist - und dabei Erfolg hatte -, fühlen sich diese gut bezahlten Schreiberlinge ermutigt, ein ebenso rücksichtsloses Vorgehen gegen die hiesige Bevölkerung zu verlangen.

Mittlerweile wird klar, weshalb die anfängliche Kritik der Bundesregierung am amerikanischen Vorgehen gegen den Irak so schnell wieder verstummt ist. Sie bewegt sich in dieselbe Richtung wie die Regierung von George W. Bush.

Bush hat sich über das Völkerrecht, den UN-Sicherheitsrat und die Meinung der Weltöffentlichkeit hinweggesetzt, um im Interesse der amerikanischen Ölkonzerne ein wehrloses Land zu unterwerfen. Schröder setzt sich über Wahlversprechen und Grundgesetz hinweg, um die Forderungen der Wirtschaft zu erfüllen. "Galt das Brechen von Wahlversprechen noch vor kurzem als Sakrileg," bemerkt dazu anerkennend die Zeit, "so wirkt es inzwischen schon wie ein Gütesiegel."

Ver.di hat sich nach langem Zögern aufgerafft, eine Demonstration gegen die "Agenda 2010" in der Hauptstadt durchzuführen. Die Gewerkschaft ist zum Schluss gelangt, dass sie anders dem Druck der Mitgliedschaft nicht standhalten kann. Diese Demonstration ist zu begrüßen. Aber hat Ver.di auch eine Antwort auf die Angriffe der Regierung?

Schröder hat der eigenen Partei ein Ultimatum gestellt: Entweder sie stimmt der "Agenda 2010" zu oder er tritt zurück. Der Widerstand innerhalb der SPD ist darauf wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Das kann bei dieser Partei nicht überraschen, die in den letzten 90 Jahren ihrer 140-jährigen Geschichte stets dem Druck von rechts nachgegeben hat.

Aber wie reagieren Ver.di oder die IG Metall, die sich ebenfalls gegen die "Agenda 2010" ausgesprochen hat, auf Schröders Ultimatum?

Sie betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie keine andere Regierung, sondern nur eine andere Politik wollen. Was ist aber, wenn Schröder nicht nachgibt? Wenn die rot-grüne Koalition zerbricht und Merkel, Merz, Stoiber und Westerwelle an die Macht kommen? Darauf haben die Gewerkschaften keine Antwort.

Das letzte Mal, als sie gegen eine sozialdemokratische Regierung mobilisierten - 1982 -, verlor Bundeskanzler Helmut Schmidt sein Amt und Helmut Kohl stand 16 Jahre lang an der Spitze der Regierung. Die Gewerkschaften passten sich an, arbeiteten mit Kohl zusammen und vertrösteten die Mitglieder auf die Rückkehr der SPD an die Macht. Nun ist Schröder seit fünf Jahren im Amt und seine Angriffe auf die Arbeiter lassen jene von Schmidt und Kohl erblassen. Was nun?

Tatsache ist, dass sich die politische Orientierung von Ver.di und der anderen DGB-Gewerkschaften nicht grundlegend von jener der SPD unterscheidet.

Auch sie sehen die Antwort auf die wirtschaftliche Krise vor allem in einer Stärkung des "Standorts Deutschland". Auch sie sind für "Reformen" - sie sollen lediglich sozial etwas ausgeglichener sein. Die Demonstration vom Samstag steht sogar unter dem Motto: "Mutige Reformen statt Leistungsabbau". Seit Jahrzehnten arbeiten sie beim Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitnehmerrechten eng mit Regierung und Unternehmen zusammen. Sie sehen ihre Aufgabe eher darin, eine soziale Konfrontation zu verhindern, als die Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen.

Es ist deshalb bereits abzusehen, dass der Vorstand von Ver.di dem Druck von Regierung, Wirtschaftsverbänden und Medien nicht standhalten wird.

Der Kampf gegen die "Agenda 2010" erfordert eine völlig andere politische Perspektive, als sie die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer vertreten. Im Zeitalter der Globalisierung können soziale und demokratische Rechte nicht im nationalen Rahmen verteidigt werden.

Allein in dieser Woche sind in Frankreich und Österreich Millionen auf die Straße gegangen, um ihre Renten zu verteidigen. In Italien, Spanien und anderen europäischen Ländern kam es in den vergangenen Monaten zu ähnlichen Großaktionen. Vor allem in Osteuropa sind die sozialen Beziehungen zum Zerreißen gespannt. Während sich eine kleine Schicht krimineller Neureicher und alter Apparatschiks obszön bereichert, unterliegen die Lebensverhältnisse der Bevölkerung einem stetigen Niedergang.

Am tiefsten ist die soziale Spaltung der Gesellschaft in den USA. Die aggressive Außenpolitik der Bush-Regierung ist nicht zuletzt eine Reaktion auf unlösbare innere Probleme. Der permanente Krieg "gegen den Terror" dient dazu, von den gesellschaftlichen Spannungen in den USA selbst abzulenken.

Der Widerstand breiter Bevölkerungsschichten gegen diese unhaltbaren Zustände stellt einen gewaltigen politischen Faktor dar, der gebündelt und organisiert werden muss. Dazu muss eine neue internationale Arbeiterpartei aufgebaut werden, die für eine sozialistische Perspektive kämpft.

Die "Agenda 2010" bedeutet, dass die Profitinteressen der Wirtschaft die Gesellschaft dominieren und terrorisieren. Die SPD hat jahrelang gepredigt, eine sozialistische Perspektive sei unnötig, weil der Kapitalismus im Interesse der Arbeiter reformiert und gezähmt werden könne. Heute opfert sie alle sozialen Errungenschaften auf dem Altar des Profits, um die kapitalistische Ordnung zu erhalten.

Eine sozialistische Perspektive richtet sich gegen die Macht der Konzerne und Banken. Sie stellt die Interessen der Gesellschaft höher als die Profitinteressen der Reichen und Spekulanten. Sie stützt sich auf die Lehren aus der Degeneration und dem Zerfall der Sowjetunion und der DDR: Die stalinistische Bürokratie, die diese Länder beherrschte, unterdrückte zwei Grundprinzipien, ohne die eine sozialistische Gesellschaft undenkbar ist - Internationalismus und Arbeiterdemokratie.

Die Rechtswendung und der Bankrott der sozialdemokratischen Parteien auf der einen Seite und die weltweiten Massendemonstrationen gegen Krieg und Sozialabbau auf der anderen Seite zeigen, dass der Zeitpunkt für den Aufbau einer neuen, internationalen Arbeiterpartei gekommen ist. Die Arbeiterklasse muss den Fehdehandschuh aufgreifen, den ihr die rot-grüne Bundesregierung hingeworfen hat.

Die World Socialist Web Site, die tägliche Internetzeitung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der Partei für Soziale Gleichheit, dient als Werkzeug, um eine solche Partei aufzubauen. Wir laden alle Teilnehmer der Demonstration ein, die WSWS zu lesen, mit der Redaktion Kontakt aufzunehmen und selbst zu ihrer Entwicklung beizutragen.

Siehe auch:
Schröders Ultimatum - und eine Rebellion auf den Knien
(26. April 2003)
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