Türkei: Massaker vom 1. Mai 1977 nach wie vor unaufgeklärt

Der 1. Mai 1977 war eine Zeit der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Krise in der Türkei. Die Gewerkschaft DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften) organisierte eine Maikundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Der Platz war so überfüllt, dass die Massen in die umliegende Gegend strömten. Im Stadtteil Besiktas hatten sich Hunderttausende versammelt und bereiteten sich auf den Demonstrationszug vor.

Dann sollte es losgehen. Das Gebiet war nicht groß genug, um die Menschenmassen aufzunehmen. Während der DISK-Vorsitzende Kemal Türkler seine Rede hielt, waren die umliegenden Straßen immer noch voll mit Menschen, die dorthin marschierten. Die Letzten erreichten den Taksim-Platz erst gegen 19 Uhr.

Der DISK-Führer war gerade am Ende seiner Rede angelangt, als das Geräusch von drei Schüssen zu hören war. Nach einem Moment der Totenstille brach Chaos aus. Die Menschenmenge von 500.000 lief in Panik auseinander.

Personen, die in Gebäuden in der Umgebung des Kundgebungsplatzes auf der Lauer lagen, im Intercontinental Hotel (heute das Marmara Istanbul) und im Gebäude der Wasserbehörde, schossen mit automatischen Waffen in die Menge hinein. Dann traten gepanzerte Fahrzeuge in Aktion. Lärmbomben und Schüsse aus automatischen Waffen verwandelten das Gelände in ein Schlachtfeld. Immer größere Panik breitete sich aus. Tausende Menschen blieben einfach liegen wo sie waren, viele von denen die weglaufen wollten, wurden in Ecken zusammengedrängt und von den gepanzerten Fahrzeugen überfahren.

Aus einem weißen Renault wurde mit automatischen Waffen auf Tausende Menschen gefeuert, die die Kazanci Yokusu entlang gedrängt wurden. Mitten auf der engen Straße blockierte ein Lastwagen den Weg. Die Flüchtenden wurden zusammengequetscht, sodass sich Körper regelrecht übereinander stapelten. Viele erstickten oder wurden zerquetscht.

Sükran Ketenci (sie heißt heute Soner mit Nachnamen), eine Journalistin der Zeitung Cumhuriyet, beschrieb, was sie im Anschluss beobachtet hatte. "Zwei gepanzerte Fahrzeuge kamen mit hoher Geschwindigkeit von der Takisli Straße herauf. Sie fuhren so, dass die Menge, die ohnehin schon zusammengedrängt war, auf die Sprechertribüne zugedrängt wurde. Ich habe ziemlich deutlich gesehen, wie eine Frau in heller Kleidung unter ein Fahrzeug geriet."

Der Vorfall löste in der Türkei und der ganzen Welt enorme Reaktionen aus. Insgesamt 36 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt und 453 festgenommen.

Tagelang standen Schuldzuweisungen auf der Tagesordnung der Türkei. Während einige den Vorfall als "Provokation der Nationalistischen Front [Regierungskoalition aus konservativer AP, faschistischer MHP und islamistischer MSP] unter Anleitung der CIA" charakterisierten, behaupteten Vertreter der Polizei und der bürgerlichen Medien, dass "Linksextremisten mit dem Schießen angefangen haben".

Das Beweismaterial in der Gerichtsverhandlung lüftete den Vorhang jedoch zumindest um einen kleinen Spalt. Der Gewerkschaftsfunktionär Ali Kocaman gab die Informationen zu Protokoll, die er von dem Hotelpersonal erhalten hatte. "Drei Tage zuvor waren der dritte, vierte und fünfte Stock des Intercontinental Hotels geräumt, unter Polizeikontrolle gestellt und niemand heraufgelassen worden. Amerikaner sind gekommen und haben die Räume bezogen, zu denen das Personal keinen Zugang hatte. Nach dem Vorfall haben diese Leute das Hotel wieder verlassen."

Im Jahr 1987 gab der ehemalige Vizepremier Sadi Kocas der Zeitung Hürriyet vom 8. Mai ein Interview, in dem er Fragen unter der Bedingung beantwortete, dass nicht sein ganzes Wissen über die Aktivitäten der Konterguerilla in diesem Zeitraum enthüllt werde.

Er erklärte: "Es war nicht nur der eine Vorfall, der am 1. Mai passiert ist. Seit 1968-69 und den 70er Jahren gab es eine Serie von mindestens sieben bis acht Vorfällen pro Jahr.... Es hat Leute gegeben, die das organisiert haben. Es gab Leute, die im Inneren und Äußeren die Lage hochkochen wollten... Die Konterguerilla ist eine Organisation von Leuten, die sagen:,Wir sind die Konterguerilla gegen die Guerilla’. Sie sehen sich als Guerillas oder Kommandos, aber ihre Befehle erhalten sie von einer offiziellen Stelle. Was ist diese Stelle: Vielleicht der Präsident und der Generalstabschef, ich kann das nicht wissen, aber jedenfalls sind sie Teil des Geheimdienstes [MIT]... Ich weiß, dass diese Namen und einige dieser hochrangigen Leute bekannt sind. Soweit ich mich erinnern kann, haben sie für den MIT gearbeitet. Sie waren diejenigen, die Befehle für die großen Verbrechen gegeben haben."

Am 7. Mai 1977 erregte Bülent Ecevit wenig Aufsehen mit seiner Bemerkung auf einer Versammlung in Izmir: "In den Vorfällen vom 1. Mai hatte die Konterguerilla ihre Finger."

Laut Artikel 102 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) verjährte der Fall nach 20 Jahren. Und laut dem Rechtsanwalt Rasim Öz, der selbst Augenzeuge des blutigen 1. Mai 1977 gewesen war, wurde "der Fall absichtlich verschleppt, damit er wegen Verjährung geschlossen werden konnte".

An jedem 1. Mai ist des Vorfalls gedacht worden.

Seit 1977 durfte jedoch niemand mehr den Taksim für eine Maikundgebung benutzen. Eine solche Teilnehmerzahl konnte nie mehr erreicht werden, und der 1. Mai wurde nicht als offizieller Feiertag anerkannt. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 wurden Maifeierlichkeiten acht Jahre lang verboten.

Siehe auch:
75 Jahre Republik Türkei - Eine Bilanz des Kemalismus
(7. November 1998)
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