Großbritannien: Lehren aus dem Hutton-Ausschuss

Die Arbeit des von Lord Hutton geführten parlamentarischen Ausschusses, der den Tod von Dr. Kelly untersucht, nähert sich seinem ebenso absehbaren wie unrühmlichen Abschluss.

Kelly war ein im britischen Verteidigungsministerium angestellter Mikrobiologe, der an den Waffeninspektionen der UN im Irak beteiligt gewesen war. Er wurde Mitte Juli mit durchschnittenen Pulsadern aufgefunden, nachdem er von der Regierung massiv unter Druck gesetzt worden war, weil er gegenüber dem Nachrichtensender BBC Premierminister Blair die Fälschung von Geheimdiensterkenntnissen im Interesse seiner Kriegspläne vorgeworfen hatte.

Nach der Vernehmung von Spitzenpolitikern, Regierungsangestellten und Angehörigen der Sicherheitsdienste vor dem Hutton-Ausschuss steht fest, dass die britische Regierung die Bevölkerung bewusst belogen hat, um Großbritannien in den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak hineinzuziehen. Selbst im Rahmen der beschränkten Zielsetzung des Untersuchungsausschusses wurden reichhaltige Beweise dafür zusammengetragen, dass der Sicherheitsbericht, den Tony Blair im September 2002 vorstellte, ganz darauf abgestellt war, den von George W. Bush längst beschlossenen Krieg zu rechtfertigen. Die britische Regierung hatte den Inhalt des Berichts gezielt durch bewusste Fehlinformationen "aufgepeppt", zum Beispiel durch die Behauptung, der Irak könne binnen 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einsetzen. Als es unmöglich wurde, diese Lügen aufrechtzuerhalten, versuchte die Regierung Blair mit einer Hetzkampagne gegen die BBC und deren Reporter Andrew Gilligan von ihrer Entlarvung abzulenken - einer Kampagne, die in den Tod von Dr. Kelly mündete.

Doch der Untersuchungsausschuss begrub diese entscheidenden Fragen unter einem Wust von semantischer Haarspalterei. Beispielsweise rückte er die Frage in den Vordergrund, ob es Gilligan oder Kelly gewesen sei, der als erster die Worte "sexed up" ("aufgepeppt") in Bezug auf Blairs Bericht verwendet habe. Die unbestreitbare Tatsache, dass Gilligan unabhängig von der Wortwahl die Einwände Kellys und anderer Geheimdienstangehöriger sachlich richtig wiedergegeben hatte, behandelte der Ausschuss hingegen als nebensächlich.

Möglicherweise muss Verteidigungsminister Geoff Hoon als Bauernopfer für die Verbrechen der Regierung herhalten, um Blair selbst zu schützen. Die unzähligen Lügen, Halbwahrheiten und Ausflüchte, die der Regierungschef persönlich vor dem Ausschuss zum Besten gab, wurden hingegen unwidersprochen hingenommen.

Der Hutton-Ausschuss war eingerichtet worden, um die zunehmenden Konflikte aufzufangen, die nach dem Irakkrieg innerhalb der herrschenden Elite aufbrachen. Dabei waren Blairs Kritiker zuvor durchaus mit der Strategie einverstanden gewesen, im Bündnis mit Washington den Irakkrieg zu führen, um den britischen Imperialismus gegenüber seinen Rivalen in Europa zu stärken und ihm einen Anteil am Ölreichtum des Landes zu sichern. Doch die katastrophalen Ergebnisse der Invasion weckten die Befürchtung, dass Großbritannien in ein neues Vietnam hineingezogen würde, dass der Missbrauch von Erkenntnissen der Geheimdienste diese diskreditiere, und dass die Opposition der Bevölkerung gegen die Regierung derartige Ausmaße annehme, dass am Ende der gesamte Staatsapparat gefährdet würde. Infolgedessen hieß es, dass Blair nicht nur das Bündnis mit Washington suchen dürfe, sondern auch eine engere Zusammenarbeit mit den europäischen Mächten und den UN anstreben müsse, um dem Unilateralismus Amerikas entgegenzuwirken.

Es gelang der Regierung nicht, diese Probleme vom Tisch zu wischen. Sie ließ zwar die parlamentarischen Ausschüsse für Außen- und Sicherheitspolitik sorgfältig orchestrierte Untersuchungen abhalten, konnte ihre Kritiker damit aber nicht zum Schweigen bringen. Diese forderten weiterhin eine rechtliche Untersuchung über die Vorbereitung des Irakkriegs. Als Alternative dazu wurde schließlich der Untersuchungsausschuss über Kellys Tod ins Leben gerufen. Auf diese Weise hoffte die Regierung, die politischen Folgen ihrer verfehlten Kriegspolitik abzumindern.

Der von Hutton geleitete Untersuchungsausschuss wurde zu einer Art Bühne, auf der die unterschiedlichen Fraktionen der herrschenden Klasse ihren Streit austrugen, wie die militärischen und kolonialistischen Ambitionen Großbritanniens am besten verwirklicht werden könnten. Auch diese Initiative, die angeblich der demokratischen Rechenschaftspflicht der Regierung dienen sollte, erwies sich am Ende als Farce.

Die grundlegende Frage, auf welche Weise die Regierung die britische Bevölkerung mit falschen Behauptungen über irakische Massenvernichtungswaffen in die Irre führte, wurde unter den Teppich gefegt. Als sie nur einmal angesprochen wurde, erhob die Regierung die unerfüllbare Forderung, man solle dokumentarisch belegen, dass sie bewusst - und nicht unwissentlich - gelogen habe.

Wie dem auch sei, die weltpolitischen Entwicklungen haben noch in den letzten Tagen der Untersuchung zweifelsfrei bewiesen, dass die Regierung in der Tat gelogen hat, und das nicht zu knapp.

Diese Woche hat der Chefinspekteur der UN, Hans Blix, die Meinung geäußert, dass der Irak seine chemischen und biologischen Waffenprogramme bereits vor zehn Jahren eingestellt hat. Er verglich das Verhalten der amerikanischen und der britischen Regierung mit einer mittelalterlichen Hexenjagd. Insbesondere bezeichnete er den Sicherheitsbericht Tony Blairs vom September letzten Jahres als Beispiel für die "Kultur der Lügen und Übertreibungen". Am selben Tag sah sich Bush zu dem Eingeständnis gezwungen, dass es keine Beweise für Saddam Husseins Beteiligung an den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gebe. Und bereits Anfang September legte ein ehemaliges Kabinettsmitglied der Regierung Blair, Michael Meacher, ein detailliertes Papier vor, in dem er nachwies, dass die Ereignisse vom 11. September von den USA als Kriegsvorwand genutzt wurden, um durch die Eroberung der Ölvorkommen im Nahen Osten die globale Vormachtstellung der USA zu festigen.

Das Einzige, was die Hutton-Untersuchung gezeigt hat, ist die Kluft zwischen den Anliegen der Masse der Bevölkerung und den Interessen der herrschenden Elite. Das Brüten über Tausenden Seiten interner Regierungsdokumente deckte nicht die "innere Funktionsweise der Regierung" auf, sondern sollte lediglich von den Grundfragen ablenken. Die Untersuchung vollzog sich in hermetischer Abriegelung von der Realität des Irakkrieges und seiner tragischen Folgen. Sie verschloss die Augen davor, dass Tag für Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Iraker in bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Besatzungstruppen ums Leben kommen.

Die breite Mehrheit der britischen Bevölkerung hat ihr Urteil über die Regierung und deren Lügen längst gesprochen. Die Nachwahl im Bezirk Brent East, einer traditionellen Labour-Hochburg, am 18. September förderte zutage, in welchem Ausmaß New Labour an Unterstützung verloren hat. Die Liberaldemokraten gewannen 30 Prozent hinzu, weil sie die einzige Partei waren, die Opposition gegen den Krieg erkennen ließ. 64 Prozent der Wahlberechtigten brachten ihre Ablehnung der Regierung zum Ausdruck, indem sie gar nicht erst zur Wahl gingen.

Angesichts der allgemeinen Feindschaft, die ihr entgegenschlägt, und der Beschädigung, die sie durch ihre Kriegspolitik erlitten hat, stellt sich die Frage, wie sich die Blair-Regierung überhaupt noch im Amt hält. So etwas hat es noch nie gegeben.

Blair ist der erste Premierminister, der die Missachtung des Wählerwillens zum politischen Leitprinzip erhoben hat. Als am 15. Februar zwei Millionen Menschen in London gegen den Irakkrieg auf die Straße gingen, erklärte Blair, er lasse sich nur von seinen eigenen Überzeugungen leiten. In mehreren Reden, in denen er der Opposition gegen die Privatisierung des staatlichen Gesundheitswesens und des Erziehungssystems entgegentrat, hat er seither betont, dass seine Regierung ihre Pläne um so energischer verwirklichen werde. Gegenüber den Kritikern, die seine Lügen über die irakischen Massenvernichtungswaffen anprangerten, erklärte er verächtlich, dass diese Waffen irgendwann schon noch gefunden würden.

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung wirft ein Schlaglicht auf den grundlegenden Charakter der New-Labour-Regierung. Sie begreift sich als politischer Handlanger einer internationalen Finanzoligarchie - einer schmalen Schicht von Superreichen, der es einzig und allein darum geht, ihren eigenen, bereits jetzt märchenhaften Reichtum auf Kosten der Bevölkerungsmassen zu steigern.

Die Meinung dieser Oligarchie ist das Einzige, worauf es Blair ankommt, und ihre fortgesetzte Unterstützung für seine Regierung hängt von seiner Entschlossenheit ab, der widerspenstigen Bevölkerung unpopuläre Maßnahmen aufzuzwingen. Dies gilt für die Außenpolitik ebenso wie für die Innenpolitik. In beiden Bereichen punktet die Regierung mit ihrer Bereitwilligkeit, sich unbeliebt zu machen und ihre Gegner frontal anzugreifen. Solange er dies mit hinreichender Rücksichtslosigkeit betreibt, meint Blair, kann er sich der Unterstützung des Großkapitals und seiner Medien gewiss sein.

Diese politische Orientierung bedingt den ständigen Abbau demokratischer Rechte der Arbeiterklasse. Unter der gegenwärtigen Regierung entwickelte sich eine soziale Polarisierung zwischen Arm und Reich, wie es sie unter der konservativen Vorgängerregierung nicht gegeben hat. Ein solches Ausmaß an sozialer Ungleichheit ist unvereinbar mit irgendeiner Form echter demokratischer Rechenschaftspflicht der Regierung. Man erhält von der Bevölkerung nun einmal kein Mandat für eine Politik, die zur Verarmung von Millionen führt und Kolonialkriege hervorruft, die Milliarden kostet und Zehntausende Menschenleben gefährden.

Jeder Mechanismus, durch den der Wille der Bevölkerung zum Ausdruck kommen könnte, wird entweder zerstört oder stirbt ab. Sämtlichen großen Parteien laufen die Mitglieder davon, die Gewerkschaften schrumpfen, die Wahlbeteiligung sinkt auf historische Tiefstände. Die Regierung nimmt einen zunehmend autoritären Charakter an und setzt mit Hilfe repressiver Maßnahmen eine Politik durch, die Millionen in zunehmend prekäre Existenzlagen treibt.

Diese Verhältnisse erzeugen zwangsläufig eine vergiftete und höchst explosive politische Atmosphäre. Blair mag sich einbilden, dass er so lange an der Macht bleiben könne, wie seine Unterstützer mit ihm zufrieden sind; doch die Zeitspanne, über die eine Regierung ohne nennenswerte soziale Unterstützung im Amt bleiben kann, hat gewisse politische Grenzen. An diese Grenzen stoßen wir jetzt. New Labour steckt in einer ausgewachsenen politischen Legitimitätskrise, ebenso wie die Bush-Administration in den USA und viele andere Regierungen Europas.

Wut und Empörung über die Regierung allein bringen uns nicht weiter. Es geht um mehr als um Blairs Zukunft als Premierminister. Die Ereignisse im Vorfeld der Hutton-Untersuchung haben gezeigt, in welchem Maße die Arbeiterklasse bereits politisch entmündigt und ihrer demokratischen Rechte beraubt wurde. Und solange die politische Entwicklung ausschließlich von den Fraktionskämpfen innerhalb der herrschenden Elite bestimmt wird, ist das Ergebnis stets eine weitere Rechtswende auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung.

Die Arbeiterklasse muss unbedingt beginnen, sich durch den Aufbau einer neuen, wirklich sozialistischen Partei unabhängig von sämtlichen politischen Vertretern des Großkapitals zu organisieren. Diesem Ziel dient die Forderung nach dem sofortigen und bedingungslosen Rückzug der britischen und amerikanischen Truppen aus dem Irak und der Einberufung einer unabhängigen Untersuchung über die Kriegsvorbereitung - im Gegensatz zu dem von Lord Hutton geleiteten Schmierentheater.

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