Amok in der Schule - Die Tat des Robert Steinhäuser

Ein Film von Thomas Schadt und Knut Beulich

"Ich denke, ich stehe noch am Anfang meines Lebens. Momentan versuche ich mein Abitur so gut wie möglich zu bestehen. Vor einiger Zeit war mein Ziel, Informatik zu studieren, doch benötigt man dafür zehn Punkte im Leistungskurs, die ich nicht erreichen kann. Deshalb musste ich diesen Traum leider aufgeben. Zur Zeit ist die Schule alles andere als lustig, da es die ganze Zeit nur darum geht, irgendwelche Leistungen zu erbringen. Mein derzeitiges Ziel ist es, einmal ein gutes Abitur zu bekommen und zum Zweiten als Technischer Systemanalytiker zu arbeiten.

Ich sehe mich persönlich als einen Menschen, der seine Macken hat und manchmal etwas schwer zu ertragen ist. Allerdings habe ich auch meine guten Seiten, wie z. B. meinen Humor. Wie mich die anderen konkret sehen, weiß ich nicht und ist mir auch irgendwie egal. Allerdings reichen die Meinungen von,sympathisch' bis,kann ich nicht leiden'. Meiner Meinung nach ist es nur wichtig, wie man sich selber sieht, und nicht, wie einen die anderen sehen."

Robert Steinhäuser, Deutscharbeit 11. Klasse, Gutenberg-Gymnasium.

Mit diesem Zitat, gelesen von Herbert Grönemeyer, beginnt und endet der Dokumentarfilm von Thomas Schadt und Knut Beulich über den Amoklauf von Erfurt, der sich am Montag zum zweiten Mal jährte. Der 19-jährige Robert Steinhäuser war am 26. April 2002 schwer bewaffnet und maskiert in seine ehemalige Schule gegangen und hatte 16 Menschen erschossen, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Die beiden Dokumentarfilmer verzichteten bewusst auf zusätzliche filmische Mittel, wie etwa Musik. "Keinerlei Effekte, kein ästhetischer Schnickschnack, keine Pseudo-Emotionalisierung", schrieben sie im Februar diesen Jahres. "Die geführten Gespräche erschienen uns in ihrer Aussagekraft und Emotionalität dicht genug, um sie allein für sich, ohne jegliche Kommentierung durch uns, und möglichst unaufdringlich montiert sprechen zu lassen."

Den Filmemachern Schnadt und Beulich ist im Ganzen ein Film gelungen, der zahlreiche Hinweise auf die gesellschaftlichen Ursachen der Tat von Robert Steinhäuser liefert.

Der Film lässt Lehrer, Mitschüler, Angehörige der Opfer und auch zum ersten Mal die Eltern und den Bruder von Robert Steinhäuser sprechen. Die Eltern und der Bruder blieben aus Rücksichtnahme visuell und akustisch anonym. Ihre Aussagen wurden von Schauspielern nachgesprochen. Der Film zeigte währenddessen Bilder und langsame Kamerafahrten und -schwenks, die zum Thema passen, aber so unaufdringlich blieben, dass der Zuschauer vor allem zuhört.

Der Film macht deutlich, dass die Behauptung von Politik, Medien und Teilen der Wissenschaft, Robert Steinhäusers Tat sei einmalig und nicht zu erklären, eine Schutzbehauptung ist, um für sie unangenehme politische und gesellschaftliche Fragen zu umgehen. Die Tat des Robert Steinhäuser hat der Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten; einer Gesellschaft, die der Jugend ein so großes Maß an Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit zumutet, dass viele daran scheitern.

Robert Steinhäuser war kein Außenseiter oder Sonderling. Im Gegenteil, es ist auffällig, wie normal sein Leben bis zu seiner schrecklichen Tat verlief. Er war ein Schüler mit Problemen, wie sie viele junge Menschen in diesem Alter haben, hatte Lehrer wie die meisten Gymnasiasten und auch Eltern, wie sie viele andere seiner Altersgenossen vor allem im Osten Deutschlands haben.

Gerade die Ausführungen der Eltern zeigen, dass die deutsche Wiedervereinigung und die mit ihr einhergehenden Veränderungen in Ostdeutschland eine wichtige Ursache sind für die Umstände, die Robert Steinhäuser zu seiner schrecklichen Tat veranlassten. Diesen Aspekt beleuchtet übrigens auch Ines Geipel in ihrem viel diskutierten und durchaus lesenswerten Buch Für heute reicht's. Der Film legt die Ratlosigkeit der Eltern offen, ihre verzweifelte Suche nach Anzeichen, die sie nicht wahrgenommen hatten, ihre Selbstvorwürfe, sich nicht genügend um ihren Sohn gekümmert zu haben. Die Tat war für die Familie mindestens genauso überraschend wie für alle, die Robert kannten.

Robert ist im Jahr des Zusammenbruchs der DDR eingeschult worden. Seine Grundschulzeit war geprägt vom sozialen Niedergang Ostdeutschlands. Massenarbeitslosigkeit und Verarmung griff um sich und die verlogene Moral der stalinistischen Bürokratie wich der Moral und den Gesetzen des freien Marktes. Persönliche Leistung und nicht solidarisches Miteinander sollte Garant für ein gutes Auskommen und Leben sein. Doch nur wenige - erst recht in der ehemaligen DDR Anfang der 90er Jahre - erreichten unter den neuen Umständen bessere Lebensbedingungen. Die Meisten wurden in Arbeitslosigkeit und Billiglohnarbeit und so in Armut und Elend getrieben. Eine rigorose Auslese und ein erbarmungsloser Verteilungskampf in allen Bereichen der Gesellschaft - auch in der Schule - brach sich Bahn.

Nach der Grundschulzeit besuchte Robert zunächst die Regelschule, die unter einem Dach zusammengefasste Real- und Hauptschule - eine Besonderheit Thüringens. Doch als beim ersten Elternabend Roberts Klassenlehrerin von der grassierenden Gewalt in der Klasse berichtete, die einen Unterricht unmöglich mache, entschlossen sich seine Eltern, ihn ebenso wie seinen älteren Bruder auf das Gutenberg-Gymnasium zu schicken. "Hier kann Robert nicht bleiben", erinnert sich seine Mutter, "unser armes Kind zwischen diesen ganzen Chaoten". Heute machen sich Roberts Eltern Selbstvorwürfe: "Das war der größte Fehler unseres Lebens."

Doch waren sie durch die Wiedervereinigung selbst völlig verunsichert und ratlos. "Und es hieß ja auch, manche normale Berufe kriegst du nur noch mit Abitur", sagt die Mutter. "Bei uns zu DDR-Zeiten war das alles ja ganz anders." Im Jahre 2001, Robert hatte Schwierigkeiten in der 11. Klasse, riet ihm sein Vater: "Mach' ein Abitur, egal wie du das bestehst, es ist für dich die Chance, einmal ordentlich in einen Beruf einzutreten und Geld verdienen zu können, um ein vernünftiges Leben zu gestalten."

Das Abitur oder "irgendeinen Schulabschluss", das war das Ziel, das die Eltern Robert auftrugen. Dass Robert ohne jeglichen Abschluss geblieben wäre, wenn er das Abitur nicht geschafft hätte - eine inzwischen aufgehobene Besonderheit des Schulgesetzes in Thüringen - war den Eltern bewusst und erhöhte wohl auch den familieninternen Streit. Vor allem die Mutter berichtet, dass sie aus Sorge um die unsichere Zukunft ihres Sohnes häufig mit ihm schimpfte. Er solle doch etwas tun und lernen. "Ich hatte so eine Wut auf ihn", erzählt sie. Zum Schluss des Films erklärt sie: "Und wenn die Wende nicht gekommen wäre - ich meine, es ist ja gut, dass sie kam - aber dann wäre Robert jetzt ein friedlicher Elektriker oder irgend was."

Die Eltern übertrugen so ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit auf ihren Sohn. Ist ihnen ein Vorwurf zu machen? Welche Eltern möchten in unsicheren Zeiten nicht, dass ihre Kinder einen möglichst guten Schulabschluss erlangen? Sie selbst und ihr Sohn befanden sich unter einem Druck, an dem Robert gescheitert ist.

Zudem, dies macht der Film deutlich, wurde der Druck im Erfurter Gutenberg-Gymnasium noch gesteigert. Die Inschrift über der Eingangstür, die im Film mehrmals eingeblendet wird, lautet: "Lebe um zu lernen." Doch das Gutenberg-Gymnasium hatte eine höchst eigenwillige, wenn auch leider in deutschen Schulen weitverbreitete Auffassung vom Lernen. Schüler des Gutenberg-Gymnasiums, die in der Initiative "Schrei nach Veränderung" aktiv sind, die dem Film auch seinen ursprünglichen Titel gab, beklagen, dass Schule - nicht nur ihre - hart, intolerant und ungerecht sei. Das sie sofort danach frage, was falsch und schlecht sei, anstatt was gut und richtig sei. Ständig würde einem erklärt, Schule sei dazu da, um später einmal Geld zu verdienen. Der Spaß am Lernen, die Freude, die man empfinde, wenn man etwas verstanden hat, all dies würde einem genommen. Was zählt ist sogenannte Leistung: auswendig lernen und reproduzieren.

Die Direktorin Christiane Alt ist trotz der schrecklichen Ereignisse nicht bereit, ihre Haltung in Frage zu stellen. Die eigene Verantwortung hakt sie schnell ab. Robert habe eine "problematische Schullaufbahn entwickelt, die aber letztlich schon in der Grundschule begann". Die Regisseure thematisieren leider nicht den erwiesenermaßen gesetzeswidrigen Schulverweis von Robert durch Christiane Alt. Diese begründet vor der Kamera vielmehr die Theorie, dass Kinder und Jugendliche die Fähigkeit erwerben müssen, mit Niederlagen umgehen zu können. Denn Schüler erleiden häufig Niederlagen. Sie müssten lernen, wie sie "gestärkt aus Niederlagen hervorgehen".

Robert hat dies nicht gelernt. Wer ihm diese Fähigkeit hätte beibringen sollen, darüber verliert sie kein Wort. An sich selbst oder ihre Schule denkt sie auf jeden Fall nicht. "Robert ist an seiner Unfähigkeit gescheitert, zu lernen mit Niederlagen zu leben", urteilt sie. Frau Alt hätte sagen sollen, Robert habe es nicht gelernt, sich dem Leistungsdruck und Ausleseverfahren anzupassen. Er hat nicht gelebt, um in der Schule zu lernen. Er wollte auf dem Gutenberg- Gymnasium das Abitur machen, um einen Beruf lernen zu können, der ihm Spaß bereitet. Er wollte lernen, um zu leben.

Seine Klassenlehrerin bis zur 10. Klasse Christine Welkow bestätigt dies. Sie habe damals, als Robert in der 11. Klasse war, von Kollegen gehört, dass Robert "nicht in die Richtung läuft, in die wir unsere Schüler gerne laufen haben würden." Nach einer kurzen Atempause fügt sie leiser sprechend, als handele es sich um einen Makel, hinzu: "Er ist dann wohl schon sehr selbständig geworden in seinen Ansichten." Sind es solche Lehrer und Lehrerinnen, die ihre Schüler herablassend "Plebs" nennen, wie dies Utta Wolff, Lehrerin am Gutenberg-Gymnasium berichtet, die ihren Mann Peter, ebenfalls Lehrer, durch Robert Steinhäuser verlor?

Der Dokumentarfilm von Thomas Schadt und Knut Beulich ist eine Anklage an die Gesellschaft und ihr Schulsystem. Doch das eigentlich Alarmierende ist, dass sich bis auf die geringfügige Änderung des Thüringer Schulgesetzes (ab diesem Schuljahr müssen alle Gymnasiasten der 10. Klasse eine Prüfung absolvieren, um den Realschulabschluss zu erreichen) nicht nur nichts verändert hat, sondern alle Ursachen des Erfurter Amoklaufs allen Warnungen zum Trotz durch die rot-grüne Bundesregierung noch weiter getrieben werden: Sozialer Niedergang weiter Teile der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit, Armut, Zukunftsangst, dazu ein gnadenloser Konkurrenzkampf und unerbittliche Auslese in Schule und Gesellschaft. Sozialer Ausgleich, Förderung und Integration der Schwachen, Solidarität werden verpönt, diejenigen, die sie einfordern als "altmodisch" und "Besitzstandsbewahrer" bezeichnet.

Siehe auch:
Jugendlicher Amokläufer tötet 17 Menschen
(29. April 2002)
Der Amoklauf von Erfurt und die Situation an den deutschen Schulen
( 4. Juni 2002)
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