Das Kopftuchverbot: Stellungnahme eines Lehrers aus Frankreich

Als Lehrer, der viele Jahre lang Schüler der Sekundarstufe in Frankreich unterrichtet hat, unterstütze ich die ablehnende Haltung, die Alex Lefèbvre in seinem Artikel über das jüngst verabschiedete Gesetz gegen religiöse Symbole einnimmt. [Dieser Artikel erschien am 18. Februar 2004 in englischer und französischer Sprache sowie am 24. Februar in deutscher Sprache auf der World Socialist Web Site.]

Wie kommt es, dass fast alle Lehrerverbände und linken Parteien, ebenso wie zahlreiche Lehrer, dieses repressive Gesetz unterstützen - das überdies von einer Regierung stammt, gegen welche die Lehrer, ebenso wie viele andere Beschäftigte, noch vor sechs Monaten einen der längsten und härtesten Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte führten? Immerhin handelt es sich um die Regierung, die sich rücksichtslos über die Massenopposition gegen den Kahlschlag bei Rentenansprüchen und öffentlichen Bildungseinrichtungen hinwegsetzt.

Dieselbe union sacrée, die beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2002 den Amtsinhaber Jacques Chirac als angeblichen Schutz vor Jean-Marie Le Pen auf ihr Schild hob, versammelt sich nun erneut hinter dem Präsidenten, diesmal allerdings zum Feldzug gegen Muslime im Allgemeinen und gegen muslimische Mädchen im Besonderen - zur großen Freude Le Pens. Wieder stärken diese Leute Chiracs Glaubwürdigkeit, lenken von den zu Jahresbeginn in Kraft getretenen brutalen Leistungskürzungen für Arbeitslose ab und verschleiern die Angriffe auf das Krankengeld, die nach den Regionalwahlen im März und den Europawahlen im Juni anstehen.

Allerdings muss ich im Zusammenhang mit der Bezeichnung religiöser Symbole die Übersetzung des französischen "ostensible" mit dem englischen "ostentatious" ("auffällig" im Sinne von "demonstrativ") in der zweiten Zeile von Lefèbvres Artikel korrigieren. Es muss "conspicuous" ("auffällig" im schwächeren Sinne von "deutlich sichtbar") heißen. Ich möchte erklären, weshalb diese Unterscheidung wichtig ist.

Monate lang hat die vom ehemaligen Minister Bernard Stasi und verschiedenen Parlamentariern geleitete Kommission darüber gestritten, wie die religiösen Symbole zu definieren seien, die aus den Schulen verbannt werden sollen. Sollte es bei den bis dahin gültigen "signes religieux ostentatoires"- religiösen Symbolen als demonstratives Bekenntnis - bleiben, oder sollte man die schwächeren Bezeichnungen "ostensible" oder "visible" wählen - "auffällig" oder nur "sichtbar". Schließlich entschied man sich für "ostensible", und die Nationalversammlung stimmte zu.

Diese Feinheiten mögen dem Uneingeweihten zunächst als semantische Haarspalterei auf dem Niveau mittelalterlicher Scholastik erscheinen. In Wirklichkeit geht es um ganz reale soziale, politische und historische Fragen.

Napoleon bestätigte in seinem Konkordat mit dem Papst von 1801 den Katholizismus als Mehrheitsreligion der Franzosen und anerkannte außerdem das Judentum und zwei protestantische Glaubensrichtungen. Seine Herrschaft, die folgenden Monarchien und das Zweite Kaiserreich stellten den Status der Katholischen Kirche weitgehend wieder her und verliehen ihr eine dominierende Stellung im Schulwesen. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, bis 1905, war die Rolle der Katholischen Kirche im modernen kapitalistischen Staat Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen. Bisweilen befand sich die liberale und radikale Bourgeoisie im Bündnis mit der wachsenden Arbeiterbewegung und versuchte, die Kontrolle der Katholischen Kirche über das Erziehungswesen zu beschneiden. Dieser Streit gipfelte in dem Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat von 1905, das ausdrücklich feststellt, dass es in der Republik keine Staatsreligion gibt und dass keine Kirche finanzielle bzw. personelle Mittel des Staates erhält.

Diese Haltung wurde erst unter Marschall Pétain wieder aufgegeben. Sein Regime, das mit den Nazibesatzern kollaborierte, brachte die Kirche wieder in Amt und Würden. Nach der Befreiung behielt die Kirche einen großen Teil ihrer Vollmachten im Schulwesen bei. Als DeGaulle mit der Fünften Republik 1958 an die Regierung zurückkehrte, erweiterte er diese Privilegien. In dem Bericht der Stasi-Kommission heißt es: "Das Gesetz vom 31. Dezember 1959 legt die Regeln für die überwiegend katholischen privaten Vertragsschulen fest, deren besonderer Charakter von der Verfassung anerkannt und geschützt wird."

Weder die Dritte, noch die Vierte, noch die bis heute andauernde Fünfte Republik führten in Elsass-Lothringen (das sich 1905 noch unter deutscher Herrschaft befand und von daher nicht unter die Trennung von Kirche und Staat gefallen war) dieselben Regelungen ein wie in der übrigen Republik Frankreich. Das Konkordat verleiht den Kirchen das Recht, in den staatlichen Schulen ihre Religion zu lehren - nahezu ausschließlich die katholische Religion.

Man muss wissen, dass die Katholische Kirche die Schulbildung von rund 18 Prozent der französischen Bevölkerung bestimmt. Dieser Anteil ist überdies im Steigen begriffen, weil bei den staatlichen Bildungseinrichtungen gekürzt wird.

Der Bericht der Stasi-Kommission erteilt jeder Einschränkung dieser Vorrechte der Katholischen Kirche eine ausdrückliche Absage: "Die Kommission ist der Ansicht, dass die Bekräftigung des säkularen Staates, der Laizität, nicht den besonderen Status von Elsass-Lothringen in Frage stellt, der den Einwohnern seiner drei Departements sehr am Herzen liegt."

Die Entscheidung für den Begriff "ostensible" (auffällig-sichtbar) im Gegensatz zum bisherigen "ostentatoire" (auffällig-demonstrativ) senkt die Schwelle des Erlaubten. Christliche Kreuze oder Davidsterne dürfen an staatlichen Schulen also Ketten oder Broschen zieren, während das muslimische Kopftuch, das unter der früheren Formulierung eben noch durchgehen konnte, unter der "ostensible"-Bestimmung verboten ist.

Nach meiner Erfahrung haben muslimische Mädchen, bevor Politik und Medien das heutige Spektakel vom Zaun brachen, in den Schulen Kopftücher getragen, ohne dass dies irgendwelche Probleme verursacht hätte. In den Klassen, die ich unterrichtete, gehörten diese Mädchen normalerweise sogar zu den lernwilligsten Schülern.

Ohne es explizit auszusprechen, hat die Stasi-Kommission also gemeinsam mit den Abgeordneten der Regierungspartei UMP, der Sozialistischen Partei und den meisten Abgeordneten der Kommunistischen Partei - und dem außerparlamentarischen Segen der Lehrergewerkschaften und der "extrem linken", opportunistischen Lutte Ouvrière - für die Diskriminierung muslimischer Mädchen gesorgt, die ein Kopftuch tragen oder ihr Haar mit einem Schleier bedecken möchten. Es ist der Gipfel der Heuchelei, dass sie dies als Gleichbehandlung aller Religionen verkaufen. So verstiegen sie sich zu dem Vorschlag, dass Muslime schließlich nicht-auffällige Anhänger oder Anstecker mit der Fatima-Hand tragen könnten.

Die kleine Gemeinde der Sikhs, deren Jungen und Männer Turbane tragen, stellte plötzlich fest, dass ihre Söhne entweder ihre Sitten oder ihr Studium aufgeben mussten. Viele Franzosen erfuhren erst durch die Proteste der Sikhs von der Existenz dieser Glaubensgemeinschaft.

Vor dem Hintergrund wachsender Empörung unter den Immigranten und einer gewissen Verblüffung der offiziellen Politik über die heftige Reaktion auf ihre Maßnahme kam dem Bildungsminister, Luc Ferry, der Gedanke, dass eigentlich jedes beliebige Objekt zum religiösen Symbol werden könne. Er stellte die Frage, ob nicht auch das Tragen eines Bartes, der als "islamisch" aufgefasst werden könnte, in Schulen verboten werden sollte. Er machte sich an die Ausarbeitung detaillierter Empfehlungen über die zulässige Größe eines als Kopftuchersatz verwendeten Halstuchs. Er schlug vor, dass Sikh-Jungen ein unsichtbares Haarnetz anlegen sollten.

Die Atmosphäre ungebetener Einmischung in die privaten Gepflogenheiten unserer Schüler nahm einen regelrecht mittelalterlichen, inquisitorischen Charakter an. Präsident Chirac und Premierminister Raffarin sahen sich veranlasst abzuwiegeln, als Tausende Muslime und einige Bürgerrechtler auf die Straße gingen. Diese Demonstrationen wurden großenteils, aber nicht ausschließlich von Fundamentalisten dominiert. Die Regierung wies den Bildungsminister an, sich fortan aus der Debatte um das Kopftuchgesetz herauszuhalten.

Die meisten Abgeordneten der Sozialistischen Partei hatten sich für ein Verbot "sichtbarer" ("visible") religiöser Symbole ausgesprochen, das sich auf sämtliche Zeichen religiöser Zugehörigkeit bezogen hätte. Diese ultra-säkulare Variante, die als "intégrisme laïc" (weltlicher Fundamentalismus) bezeichnet wurde, hätte dem Staat und seinen Vertretern in den Schulen und Behörden drakonische Vollmachten verliehen. Sie wurde als der eigentlich wahre Säkularismus dargestellt, weil das Verbot sämtlicher religiöser Symbole in staatlichen Schulen den "Vorzug" gehabt hätte, alle Glaubensrichtungen gleichermaßen zu treffen.

Die Vertreter der jüdischen und christlichen Gemeinschaften wehrten sich gegen eine solche Fassung. Am Ende stimmte die Sozialistische Partei dem Entwurf der Regierung zu.

Einige Politiker aus dem rechten Lager sprachen sich dafür aus, neben religiösen Symbolen auch alle Bekenntnisse politischer Art - zum Beispiel T-Shirts mit Che-Guevara-Aufdruck - in Schulen zu verbieten.

Die Entscheidung für "ostensible" ermöglicht nun die fortgesetzte Diskriminierung muslimischer Mädchen, während die jüdischen und christlichen Institutionen zufriedengestellt sind. Die Sikh-Gemeinde ist als im Grunde unbedarfte Unbeteiligte mitten ins Kreuzfeuer geraten. Ihr Schicksal muss als Warnung dienen, dass jegliche Diskriminierung eines Teils der Bevölkerung aufgrund ethnischer oder religiöser Kriterien einen grundlegenden Angriff auf die demokratischen Rechte aller darstellt.

Zwar wurde der Arbeiterklasse seit dem 19. Jahrhundert - auf ihr hartnäckiges Drängen hin - Zugang zu Bildungseinrichtungen eingeräumt, doch im Kapitalismus diente das staatliche Schulsystem immer auch als direktes Instrument der sozialen und politischen Herrschaft. Aufgrund der stark zentralisierten Staats- und Verwaltungsstruktur, die als "jacobinisme" bezeichnet wird, ist dies in Frankreich besonders deutlich. Im französischen staatlichen Bildungswesen kommt der "jacobinisme" bis heute am stärksten zum Ausdruck und wird unter Berufung auf den Säkularismus, die "laïcité", gerechtfertigt.

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Auseinandersetzung und Medienhysterie trat die Organisation Lutte Ouvrière (LO) als glühendster Verfechter staatlicher Repressionen gegen kopftuchtragende muslimische Mädchen auf. Nach anfänglichem Zaudern erklärte die LO ihre Unterstützung für das Gesetz. Zuvor hatte sie bereits gefordert, dass widerspenstige Lehrer zum Handeln gezwungen werden müssten, ob das neue Gesetz nun verabschiedet werde oder nicht: "Bleibt noch die Möglichkeit einer Verfügung der Nationalen Bildungsbehörde, das Kopftuch, auch wenn es ‚klein' ist, auf Schulgrundstücken zu verbieten. Alle Lehrer wären dann verpflichtet, dieses Verbot durchzusetzen, und die Verfügung sollte diese Verpflichtung zur Umsetzung ausdrücklich vorschreiben." (Erklärung der Lutte Ouvrière vom Oktober 2003, Hervorhebung hinzugefügt.)

Die LO unterstützt vorbehaltlos die Frauenorganisation "Ni putes ni soumises" ("Weder Nutten noch unterworfen"), NPNS, die in Arbeitervierteln gegen die Unterdrückung von Frauen und Mädchen agitiert. In diesen Gebieten wohnen viele Immigranten, und das Gefühl, von allen Parteien der Linken verlassen worden zu sein, hat einige Jugendliche in die Arme konservativer Islamisten getrieben. Die NPNS-Sprecherin Fadela Amara demonstrierte am internationalen Frauentag, dem 6. März, gemeinsam mit Chirac und der Staatssekretärin des Justizministeriums, Nicole Guedj, sowie Arlette Laguiller, der Sprecherin von Lutte Ouvrière.

Fadela Amara wird mit den Worten zitiert: "Ich freue mich sehr, dass Frauen aktiv werden, unabhängig von ihren politischen Überzeugungen." Ihre Organisation unterstützt vorbehaltlos Chiracs Gesetz gegen das muslimische Kopftuch. Die Feministinnen und die "extreme Linke" in Form der LO Arm in Arm mit der rechten Raffarin-Regierung!

Als ehemaliger Lehrer, der lange Jahre Einwandererkinder der ersten und zweiten Generation unterrichtet hat, empfinde ich dieses Gesetz, das im September 2004 in Kraft tritt, nicht nur als Angriff auf Muslime, sondern vor allem als Versuch, Lehrer und Schulleiter in eine Polizeirolle zu zwingen. Es richtet sich gegen das Bemühen vieler Lehrer um einen sensiblen und kreativen Umgang mit sozialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Unterschieden. Es fördert Intoleranz und Diskriminierung. Sollte es an einer Schule rassistische oder faschistisch eingestellte Schüler oder Lehrer geben, so erhalten sie grünes Licht, gegen Lehrer vorzugehen, die zu viel "Nachsicht" zeigen. Ich fühle mich an die Rundschreiben der Pétain-Regierung erinnert, in denen Lehrern befohlen wurde, Schüler zu melden, die womöglich Juden oder Widerstandskämpfer sein könnten.

Die Zeitung Libération berichtete am 11. März über einen Streik von Lehrern in einer weiterführenden Schule im Departement Haut-Rhin, der sich gegen eine kopftuchtragende Schülerin richtete. Dieser Bericht bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen.

"Gestern um acht Uhr erschien sie mit einem Kopftuch. Wenige Minuten später kam sie mit 400 weiteren Schülern heraus." Die meisten Lehrer waren in den Streik getreten. "Die meisten Schüler, die sich am Schultor versammelt hatten, unterstützten die Aktion ihrer Lehrer." Einer zog ein Plakat aus der Tasche: "Nimmst du jetzt das Kopftuch ab? Ja, oder scheiß auf dich!"

Ein Lehrer wird zitiert: "Der Kompromiss zwischen der Familie und unseren Vorgesetzten kam ohne jegliche Rücksprache zustande. Der unklare Begriff ‚Halstuch' hat alle in die Irre geführt. Wir konnten die Verwirrung und drängenden Fragen der Schüler angesichts dieses Kopftuchs nicht abwenden. Jetzt bilden sich einige Schüler ein, sie könnten mit allen möglichen Kopfbedeckungen im Klassenzimmer aufkreuzen."

Solche Vorfälle spielen unbedingt den reaktionärsten Kräften in die Hände, Sie lenken das Augenmerk der Öffentlichkeit ab von der Vernichtung Tausender Lehrerstellen und von der finanziellen Austrocknung von Lehre und Forschung, sowie von dem ständigen Angriff auf soziale und demokratische Rechte.

Völlig zu Recht schrieb Alex Lefèbvre: "Religiöse Vorurteile können nur durch die politische Entwicklung und Bildung der Arbeiterklasse und den Kampf für demokratische Rechte und Sozialismus überwunden werden, und nicht durch staatliche Dekrete, die von oben herab von einer Regierung verhängt werden, die den Interessen einer eingesessenen Gesellschaftselite dient."

Siehe auch:
Nationalversammlung verbietet das muslimische Kopftuch an Schulen
(24. Februar 2004)
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